Frau Savoy, im letzten Sommer haben Sie mit Albert Gouaffo von der Université de Dschang in Kamerun und einem siebenköpfigen Team den „Atlas der Abwesenheit. Kameruns Kulturerbe in Deutschland“ herausgebracht. Welche Konsequenzen folgten daraus?
Die Reaktion war explosionsartig. In vielen englisch-, französisch- und deutschsprachigen Medien in Europa und Kamerun wurde berichtet, dass sich 40.000 Objekte in deutschen öffentlichen Sammlungen befinden – ein Schock. Zufällig kam eine Woche später der Sultan von Bamum nach Berlin und besuchte das Humboldt Forum, wo er sich wie selbstverständlich auf den Thron seines Großvaters König Njoya setzte.

Das Bild ging um die Welt.
Wir konnten dem Sultan anschließend unsere Forschungsergebnisse vorstellen, sodass die Information gleich nach Kamerun gelangte. Die dortige Kommission für Restitution hat mittlerweile ihre Arbeit aufgenommen und stützt sich auf die online abrufbaren Daten. Ihr Besuch in Stuttgart im Januar war der Startschuss für einen Dialog mit der Bundesregierung und den deutschen Museen.

Was überraschte Sie am meisten am Ergebnis Ihrer Untersuchung?
Die schiere Masse an kamerunischem Kulturerbe in deutschen Sammlungen. Wir wussten von 8000 Inventarnummern in Paris und 1400 im British Museum. Da Frankreich und Großbritannien viel länger als Kolonialmächte im Land waren, rechneten wir mit 10.000 Objekten in Deutschland. Am Ende summierten sich die Inventare von 45 öffentlichen Institutionen auf 40.000 Nummern.

Ist das realistisch?
Es müssten noch viel mehr sein, vergleicht man die Angaben mit den historischen Inventaren. Das erschreckendste Beispiel ist Stuttgart. Laut der Eingangsbüchersind etwa 16.000 Objekte aus Kamerun eingeliefert worden, aber in den Regalen des Linden-Museums befinden sich heute nur noch 8000. Diese Diskrepanz muss noch erforscht werden, die Abwesenheit von 8000 Objekten.

Woher kommen diese enormen Zahlen?
Das liegt unter anderem an der föderalen Struktur Deutschlands, der Konkurrenz zwischen den Städten im Kaiserreich. Stuttgart, also Baden-Württemberg, wollte genauso stark sein wie Berlin, die Hauptstadt. All diese Museen waren intensiv mit den kolonialen Netzwerken verbunden, vor allem den militärischen Akteuren vor Ort, sodass sie leichten Zugriff hatten.

Wie konnte so viel in Kamerun zusammengerafft werden?
Das deutsche Militär kam als erstes – vor den Franzosen und Briten – in diese Region: zu Beginn des Kolonialismus in den 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg. In dieser brutalen Phase der Eroberung von Territorien gab es Hunderte von militärischen Zügen, Plünderung, Vernichtung. Die Deutschen bedienten sich als erste in dieser kulturell sehr reichen Region und besorgten den Museen, die systematisch auf Vollständigkeit sammelten, das Gewünschte.

Warum wusste man bisher nicht von dieser Masse?
Es gibt ein natürliches Vergessen durch den zeitlichen Abstand von 100 Jahren. Ein weiterer Grund war die Demütigung durch den Verlust der Kolonien 1919. Die ethnologischen Museen galten als Trophäe der „Schutztruppe“, mit dem Ende Deutschlands als Kolonialmacht änderte sich auch der Status der gesammelten Objekte. Die Völkerkunde-Museen verloren an Bedeutung.

Die dann folgenden Gräuel, die Shoah und der Zweite Weltkrieg, überdeckten die Erinnerung an die Kolonialzeit. Nach 1945 und der deutsch-deutschen Teilung fehlte im Westen das Bewusstsein für die kolonialen Sammlungen in Dresden und Leipzig. Außerdem wurde wenig publiziert, die Museen waren schwer zugänglich. Als die afrikanischen Staaten im Zuge ihrer Unabhängigkeit Rückforderungen stellten, gab es eine gewollte Amnesie.

Wie haben die Museen auf den „Atlas“ reagiert?
Die wichtigsten unter ihnen waren von Anfang an im Boot, sie haben uns unterstützt. Sie sind dankbar für die nun gebündelten Informationen, denn Museen beschäftigen sich vor allem mit ihren eigenen Beständen. Die Makroebene liefert eine Übersicht, die den Häusern fehlt: dass zum Beispiel immer dieselben Militärs viele von ihnen bedienten. Die Einladung der kamerunischen Kommission nach Stuttgart zu einem Austausch mit den 15 größten Aufbewahrern von Artefakten aus Kamerun zeigt ihr Verantwortungsbewusstsein und nun beginnende Aktivitäten.

Wie beurteilen Sie die Darstellung des Kolonialismus in den Museen?
Bei meinem ersten Besuch im Humboldt Forum habe ich mich erschrocken, nicht nur weil sich beim Beugen über die Information in Knöchelhöhe andauernd der Alarm auslöste. Die Auskünfte über den Kolonialismus dort sind überdeutlich. Es ist wie der Besuch eines Denkmals für verbrannte Dörfer, die Exponate aus Kamerun zeugen nur davon. Andere Museen sind wiederum zu vorsichtig. Aber die für Kamerun historisch belegten Fakten lassen sich nicht beschönigen. Die Information lässt sich mit einem Klick aus dem Netz holen.

Welche Rolle spielte das Militär für die Museen?
Zu den Überraschungen unserer Recherche gehörte, wie viel Zeit wir in Militärarchiven verbringen mussten, um die in den Museen fehlenden Informationen zu ergänzen. In den Berichten der „Strafexpeditionen“, die unser Kollege Yann Le Gall akribisch untersucht hat, steht grob aufgelistet, was alles mitgenommen wurde. Die Museumsdirektoren standen in direktem Kontakt mit den Offizieren. Durch Fotografien waren sie informiert und machten konkrete Bestellungen, wenn sie von „Strafexpeditionen“ hörten.

Welches Interesse besaß das Militär daran?
Normalerweise belasten sich Truppen bei Eroberungszügen nicht mit tonnenschweren Gegenständen wie großen Trommeln, ganzen Architekturelemente und Thronen. Aber damals galt noch die Idee der Trophäe, das Konfiszieren von Machtobjekten wie Thron, Zepter, Krone. Die Militärs wurden dafür mit Orden ausgezeichnet, das war ihre Währung.

Die Lektüre der Militärberichte darüber, was beschlagnahmt wurde, die Zahl der Toten, die Tatsache, dass nach der Eroberung auch Frauen zur Gruppenvergewaltigung freigegeben wurden, hat uns alle tief erschüttert. Wir mussten all diese Scheußlichkeiten lesen, um die Geschichte unserer Museen zu rekonstruieren, und sind als andere Menschen herausgekommen.

Warum fehlen im „Atlas der Abwesenheit“ die „Human Remains“, also die menschlichen Überreste in den Sammlungen?
Wegen der großen Zahl. Wir haben uns auf ethnologischen Museen konzentriert, Human Remains befinden sich häufig in Universitätssammlungen. Auch Fotografie, Film und auf Wachszylinder aufgezeichnete Stimmen fehlen, ebenso die Naturkundemuseen, die mit Dingen aus Kamerun überquellen. Aber eigentlich ist es falsch zu separieren, allem unsere westliche Wissensordnung aufzudrücken.

Wie geht es weiter nach dem „Atlas der Abwesenheit“?

Als nächstes müsste ganz konkret zur Chemikalienbehandlung geforscht werden. Viele Sammlungen, die um 1900 aus den Tropen kamen, wurden mit Mitteln zur Schädlingsbekämpfung bearbeitet: mit Arsen, Blei, toxischen Lösungen besprüht und bepinselt. Wissenschaftler nähern sich ihnen hierzulande nur mit Gasmaske und in Schutzanzügen. Diese Gefährdung ist bekannt. Sie muss jetzt konkret für die Schätze aus Kamerun thematisiert werden, bevor es zu Restitutionen kommt.

Wann rechnen Sie damit?
Wir erleben eine große Dynamik. Gerade hat „Dahomey“ von Mati Diop über die Rückkehr der Monumentalskulpturen den Goldenen Bären auf der Berlinale gewonnen. Darin geht es schon um die nächste Etappe: Welche Veränderung löst die Rückkehr aus? Was passiert mit den Menschen, die zurückverbunden werden mit ihrem Kulturerbe? Noch vor sieben Jahren nannte die Stiftung Preußischer Kulturbesitz den deutschen Kolonialismus eine Sommerloch-Debatte. Aber es wird weitergehen, auch auf afrikanischer Seite, um sich auf die Ankunft weiterer Objekte vorzubereiten. Ein Zurück wird es nicht mehr geben.

Entleeren sich dann die Museen, wie manche befürchten? So hieß es zu Beginn, um die Debatte zu blockieren: Die Büchse der Pandora werde geöffnet. Ein anderes Gegenargument lautete, die Menschen in den Herkunftsländern hätten keine Ahnung, sie interessierten sich nicht für ihr Kulturerbe. Und ihnen fehlten die technischen Möglichkeiten zur Aufbewahrung. Sollten von den 40.000 kamerunischen Kulturgütern in Deutschland 5000 zurückgehen, blieben 35.000 – immer noch genug.

Was erwarten Sie? 
iele Staaten und communities wollen nur zurück, was ihnen historisch wichtig ist. Ich bin unbesorgt. Das größte Beispiel für eine Restitution war 1815, als Napoleon besiegt wurde. Der Louvre musste alles zurückgeben, was Frankreich in Preußen, Österreich, Italien, Flandern, den Niederlanden sich angeeignet hatte. Den Louvre gibt es immer noch. Als diese Schätze weg waren, kamen andere Sammlungsgebiete: Ägypten, Mesoamerika, Mesopotamien. Museen sind lebende, hungrige Organismen. Dass sie sich entleeren, ist kaum vorstellbar. Es sei denn, sie beschließen, dass es manche von ihnen nicht mehr braucht.