Angst trifft die Menschen in Zeiten von Pandemie und Krieg unvermittelt. Die mit hohen Energiepreisen verbundene Einschränkung der Kaufkraft ist bis weit in die Mitte der Gesellschaft spürbar. Und es wird klar: Während unter den Auswirkungen des Klimawandels, der zunehmenden sozialen Ungleichheit und der vielfältigen gesellschaftlichen Spaltungen tendenziell zwar alle leiden, wird die wirtschaftliche Lage nicht für alle schlechter. Es gibt auch einige, die viel gewinnen.

Die zehn reichsten Milliardäre der Welt besitzen etwa gleich viel Vermögen wie die ärmsten 40 Prozent der Menschheit. Amazon und Google gaben in den ersten drei Monaten des Jahres 2022 7,5 Millionen US-Dollar für offenes Lobbying in der amerikanischen Politik aus. Die, die viel haben, haben nicht nur finanziell viel, sie haben auch ein Übermaß an Macht, die sie in Wirtschaft, Medien und Politik einsetzen, um die Gesellschaft zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der großen Mehrheit zu lenken.

Das ist eine gesellschaftliche Herausforderung, die sich in der Wirtschaftsforschung bislang kaum niederschlägt. Die Gleichzeitigkeit von Bedrohung der einen und wachsendem Überreichtum der anderen, von wirtschaftlichem Erfolg und sozialer Polarisierung wird negiert. Denn das wäre mit gesellschaftspolitischen Wertungen verbunden, und die werden in den Wirtschaftswissenschaften nur ungern eingestanden.

Viele Ökonominnen und Ökonomen ziehen sich in eine vermeintlich unpolitische Modellwelt des allgemeinen Gleichgewichts zurück und treffen ad hoc Annahmen zum Verhalten von Menschen. Damit tragen sie zur Verteidigung eines fragwürdigen gesellschaftlichen Status quo bei, weil die Fragen nach Gerechtigkeit, sozialer Sicherheit, sinnerfüllter Arbeit und Freiheit keine Rolle spielen. Die Wirtschaftsforschung negiert allzu oft die Möglichkeit der Gesellschaftsveränderung und ihren eigenen Beitrag dazu. Eine Auseinandersetzung mit den Ängsten und Hoffnungen der Leute passt nicht in ihre Denkkategorien.

In den Anfängen der modernen Ökonomie war das nicht so. Für Adam Smith, David Ricardo, Karl Marx und John Stuart Mill, die großen Begründer der klassischen Ökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts, war es selbstverständlich, Analysen der wirtschaftlichen Zusammenhänge in Kombination mit philosophischen und moralischen Überlegungen zu verfolgen. Sie scheuten keine Werturteile. Heute sind es die Franzosen Thomas Piketty, Gabriel Zucman, der Amerikaner Dani Rodrik oder die Bulgarin Stefanie Stantcheva und viele ihrer Kolleg:innen, die das Erforschen unseres Wirtschaftssystems mit Fragen der politischen Veränderbarkeit und konkreten Vorschlägen zu gesellschaftlichen Reformen verknüpfen.

Eine solche gesellschaftskritische Ökonomie sieht sich nicht als Naturwissenschaft, sondern als Teil der Sozialwissenschaften. Sie leistet eine Kritik der gesellschaftlichen Verhältnisse und zielt auf eine Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, vor allem der Benachteiligten. Das ist mit expliziten normativen Wertungen verbunden: Eine deutliche Verringerung der Vermögensbestände der Reichen würde eine effektive Bekämpfung von Armut ermöglichen. Die Einschränkung der individuellen Mobilitätswünsche vom Kurzausflug in den Weltraum bis zum Ankerplatz der Luxusyacht kann ein kleiner Teil des Kampfes gegen den Klimawandel sein.

„Wenn man die Welt ändern will, muss man die Wirtschaft ändern“, sagte der große österreichische Ökonom Kurt Rothschild (1914 bis 2010). Gesellschaftskritische Ökonomie zielt daher auf konkrete wirtschaftspolitische Vorschläge, die die Lebensbedingungen der Armen und der arbeitenden Bevölkerung verbessern, die Sicherheit geben und Vertrauen schaffen, die einen angstfreien und solidarischen Zusammenhalt in der Gesellschaft fördern und aus denen Hoffnung und Freiheit entstehen können.

Aber Forschungsergebnisse verweisen lediglich auf Probleme, sie weisen nicht den Weg zur Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Lebensprobleme. Manchen Expertinnen und Experten geht es zu schnell darum, Anreize für die Arbeitsaufnahme durch Leistungskürzungen festzulegen oder mittels „kleiner Stupser“ die Menschen zu einem adäquaten Verhalten zu dirigieren. Soziale Fragen sind jedoch komplex, und wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse fallen nicht mit den konkreten Lebenserfahrungen der Leute zusammen. Sie können nicht einfach paternalistisch in lebensweltliche Orientierung übersetzt werden, sondern müssen im historischen und sozialen Kontext reflektiert werden. Doch den gerne mit wissenschaftlicher Gewissheit vorgebrachten Empfehlungen der ökonomischen Fachleute fehlt allzu oft die kritische Reflexion der Grenzen des eigenen Fachwissens und der implizit vorhandenen persönlichen Werturteile.

Die Wirtschaftspolitik ist heute von der Idee bestimmt, dass Verhaltensanreize Menschen in die richtige Richtung lenken sollen. Doch in der Praxis bedeutet das eine Erhöhung des wirtschaftlichen Drucks und der sozialen Not. Die neoliberale Idee eines degressiven Arbeitslosengeldes, das den Sozialtransfer mit der Dauer der Arbeitslosigkeit absenkt, stammt aus dem Laboratorium ökonomisch bessergestellter Eliten, die sich weder mit den Lebensrealitäten der Armen noch jenen der Beschäftigten auseinandergesetzt haben. Das fundamentale Recht auf politische Gleichheit würde bedeuten, dass die Benachteiligten an politischen Entscheidungen tatsächlich teilhaben. Sie hätten dann etwa auch die Chance, Verhaltensanreize für die Reichen zu formulieren. Die Wirtschaftswissenschaft müsste jedenfalls bereit sein, vernachlässigte Themen wie Elend und soziale Beschämung, Angst und Furcht einer demokratischen Befassung zuzuführen.

Betrachten wir die Ängste und Hoffnungen der Leute in zwei unterschiedlichen Welten: in der des Einkommens und in der des Vermögens. In der Einkommenswelt lebt die überwiegende Mehrheit der Menschen von ihrem Einkommen aus selbstständiger oder unselbstständiger Arbeit. Nur sehr Reiche können von ihrem Einkommen aus dem Besitz an Aktien, Immobilien und Unternehmen leben. Die Armen, Arbeitslosen und Pensionist:innen leben dagegen von Sozialtransfers. Und in der Einkommenswelt dominieren Lebenserfahrungen der Lohnarbeit. Die Löhne finanzieren den größten Teil des Sozialstaates.

Die Schaffung des Sozialstaates war eine Antwort auf die Verwerfungen des Kapitalismus, auf die unvermeidbaren Gefahren des Lebens und die durch sie ausgelösten Ängste. Der Sozialstaat bedeutete enormen gesellschaftlichen Fortschritt. Es bestehen aber eklatante Schwächen und vielfältige Widersprüche. Viele Risiken im Leben werden durch das Sozialversicherungssystem abgedeckt, doch fehlende Pflegeversorgung, Armut trotz Erwerbsarbeit, Kinderarmut, fehlende Versorgung bei psychischen Erkrankungen verlangen nach tiefgehenden Veränderungen im Sozialstaat.

Soziales Wohlergehen benötigt mehr als Geld. Deshalb sind etwa die Almosen reicher Philanthrop:innen für Arme zwar vielleicht gut gemeint, doch von ihnen gehen keine Rechte und daher keine Sicherheit aus. Und allzu oft beschämen sie die Empfänger:innen sogar noch. Ebenso kann ein politischer Zwang zur Lohnarbeit Menschen entwürdigen, und zwar nicht nur jene, die zu etwas Ungewolltem gezwungen werden, sondern auch jene, die den Zwang ausüben.

Neben der Welt von Einkommen und Sozialstaat steht die Welt des Vermögens. In ihr dominieren die Vorstellungen und Interessen von Überreichen, denn große Vermögen sind auf wenige konzentriert. Ihr Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Kultur ist groß. Diese Schieflage in der gesellschaftlichen Machtverteilung gefährdet solidarische Lösungen der gesellschaftlichen Probleme und stellt in fundamentaler Weise die Demokratie infrage. Der Reichtum in der Gesellschaft zeigt, dass die Bewältigung der großen Krisen, von jener des Klimawandels bis zu jener der sozialen Ungleichheit, nicht an der Finanzierung scheitern müsste. Geld ist genug da. Der Sozialstaat ist nicht unfinanzierbar. Aber die Finanzierungsstruktur muss verändert werden. In einer funktionierenden Demokratie ist beispielsweise die Einigung auf eine Begrenzung des Reichtums denkmöglich. Das Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus ist evident. In einer liberalen Demokratie hat jede Bürgerin und jeder Bürger eine Stimme. Doch im Kapitalismus sind es die Menschen mit mehr Vermögen, die den Gang der Geschichte beeinflussen. Einer Herrschaft von Überreichen, einer reichtumsfreundlichen Politik und einer Verherrlichung marktradikaler wirtschaftspolitischer Positionen gilt es etwas entgegenzusetzen, denn Fragen der Macht und ihrer Verteilung können in Politik und Gesellschaft niemals ausgeblendet werden. So skizzierte beispielsweise Minouche Shafik, Direktorin an der London School of Economics and Political Sciences, 2021 in ihrem weltweiten Bestseller "Was wir einander schulden" die Konturen eines Gesellschaftsvertrags für das 21. Jahrhundert. Sie konstatiert: "Wir leben zunehmend in ›Du bist auf dich allein gestellt‹ Gesellschaften, eine Situation, die sich in politischer Wut, einer Epidemie psychischer Probleme und der Angst von Jung und Alt um ihre Zukunft niederschlägt."

Um gesellschaftlichen Fortschritt zu erreichen, ist es heute unverzichtbar, die ökonomische, politische und kulturelle Macht der Überreichen zu brechen. Das kann nur gelingen, wenn der Schein der Ideologien, auf denen diese Macht aufbaut, durchbrochen wird. Es gilt die Vorstellung zu entzaubern, eine wirtschaftspolitische Förderung des Reichtums würde durch unsichtbare Mechanismen schlussendlich auch der arbeitenden Bevölkerung zugutekommen. Die Vorstellung einer "trickle down economics" entpuppte sich als leeres Versprechen, das in Wahrheit nur eine Besserstellung der Vermögenden im Auge hatte.

Kulturell sind die Geschichten vom Reichwerden auf Basis von Leistung, Risiko und Innovation immer noch wirkmächtig. Politisch zielen die Freiheitsvorstellungen von Vermögenden und ihrer Vermögensverteidigungsindustrie auf eine Heiligsprechung von Privateigentum und eine Zurückdrängung demokratischer Anliegen. Doch die Vermögensmehrung basiert immer mehr auf Erbschaften und unlauteren Machenschaften.

Und auch innerhalb der Erwerbsarbeit gilt es, mehr Momente der Freiheit zu eröffnen. Das kann die Mitbestimmung über die eigene Tätigkeit und den eigenen Arbeitsplatz betreffen oder die Erwerbsarbeitszeit. Wäre Lohnarbeit für alle sinnerfüllt, wären Sanktionen nicht notwendig. Doch viele der Jobs, die heute wegen "Arbeitskräftemangel" nicht zu besetzen sind, bieten unzumutbare Arbeitsbedingungen, schlechte Löhne und inakzeptable Ausbeutungsverhältnisse.

Ein emanzipatorischer wirtschaftspolitischer Ansatz hat eine klare Ausrichtung: Er will Angst mindern und Freiheitsräume erweitern. Das ermöglicht und verstärkt Hoffnungen auf ein besseres Leben. Von neoliberaler Seite wird suggeriert, bei Freiheit gehe es allein um den Abbau staatlicher Beschränkungen. Das ist historisch begründet, weil Freiheit gegen die Macht von absolutistischen Herrschern und Aristokratie erkämpft werden musste. Und es hat auch heute etwas für sich, wenn es um das Schikanieren der Bezieher:innen von Sozialhilfe geht, um die Behandlung der Bürgerinnen und Bürger als Bittsteller:innen auf staatlichen Ämtern, um Regulierungen der Märkte zugunsten der großen Konzerne. Freiheit für die Bevölkerung braucht mehr, sie hat Voraussetzungen: ausreichendes Einkommen etwa durch Mindestlöhne, Sicherheit etwa durch eine Sozialversicherung, Versorgung mit den Basisdiensten etwa durch das soziale Gesundheits-, Bildungs- und Pflegesystem. Doch die Freiheit der Bürgerinnen und Bürger wird heute von der Konzentration von Eigentum und Macht bei den Milliardär:innen gefährdet. Emanzipatorische Wirtschaftspolitik sucht Herrschaft zu überwinden, Selbstbestimmung anstelle von Fremdbestimmung zu setzen und Unterdrückung nicht zu dulden. Das schafft Hoffnung auf ein besseres Leben.

– Der Text basiert auf dem Buch „Angst und Angstmacherei. Für eine Wirtschaftspolitik, die Hoffnung macht“ von Markus Marterbauer und Martin Schürz, das diese Woche im Zsolnay Verlag erscheint.

HINWEIS: Die „Neue Zeiten“-Kolumne von Sabine Rennefanz erscheint ausnahmsweise am morgigen Montag

DIE AUTOREN

Markus Marterbauer ist Volkswirtschaftler und arbeitete bis 2011 als Verantwortlicher für Konjunkturprognosen und gesamtwirtschaftliche Analysen am Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung. Seit 2011 leitet er die Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Arbeiterkammer Wien.

Martin Schürz arbeitet als Psychotherapeut in Wien und forscht seit mehr als zwei Jahrzehnten zur Vermögensverteilung in Europa. Er ist Lektor an der Wirtschaftsuniversität Wien. 2015 erhielt er den Progressive Economy Award des Europäischen Parlaments.

Illustration von Martha von Maydell, mvmpapercuts.com