Drei Jahre hat das Coronavirus die Welt in Atem gehalten, eine parallel ablaufende Pandemie fand vergleichsweise wenig Beachtung. Ein weiteres Virus geht um die Welt: Das oft tödliche Vogelgrippevirus H5N1 wütet bislang zwar fast nur unter Tieren, richtet dort aber verheerende Schäden an. Nun steht es kurz davor, auch die Populationen der Antarktis zu erreichen. Immer drängender stellt sich die Frage, ob es das Potenzial hat, beim Menschen eine Pandemie auszulösen.

Betroffen waren bislang im wesentlichen Wildvögel und Geflügel, zunehmend aber auch (wild) lebende Säugetiere, nachzulesen auch im aktuellen Bericht des globalen Expertennetzwerks OFFLU. „Bislang sind nur Australien und die Antarktis von dieser aviären Influenza, also von Vögeln stammenden Grippeviren, ausgenommen“, sagt Timm Harder, Leiter des Nationalen Referenzlabors für Aviäre Influenza (A)/Geflügelpest am Friedrich-Loeffler-Institut (FLI) auf der Insel Riems.

Der besorgte Unterton in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Das hat seinen Grund–H5N1 verbreitet sich nach und nach über die Welt und sorgt für nie dagewesene Infektionswellen. Erst eroberte es Asien, Europa und Afrika, dann schaffte es den Sprung über den Ozean, um in den USA einen verheerenden Vogelgrippeausbruch zu verursachen.

25.000 tote Seelöwen

Vergangenen Herbst erreichte es schließlich Südamerika. Entlang der pazifischen Ozeanküste tötete es eine Vielzahl wilder Vögel und Meeressäugetiere. Allein in Peru und Chile zählte man 25.000 tote Seelöwen und mehr als eine halbe Million toter Seevögel. Nun hat es auch die Galapagosinseln erreicht.

Das nächste Ziel von H5N1 ist wahrscheinlich die Antarktis und die ihr vorgelagerten Inseln im Südpolarmeer, die Falklandinseln und Südgeorgien. Dort beginnt nun der Frühling, weshalb einige Wildvogelarten aus Südamerika sich dahin aufmachen–das Virus möglicherweise „im Gepäck“. „Man mag sich das Szenario nicht ausmalen, das sich ereignet, wenn das Virus dort eingetragen wird“, sagt Harder. „Die Antarktis ist weltweit eines der üppigsten Ökosysteme, das viele Vogelarten in teilweise riesigen Kolonien anzieht. Es wäre eine Katastrophe.“

Auf den abgelegenen, aber bewohnten Falklandinseln, brüten neben riesigen Pinguinkolonien auch Albatrosse und Kormorane. Die zerklüftete Bergwelt der Inselgruppe Südgeorgiens beherbergt weltweit die höchste Wildtierdichte und gilt als wichtigstes Brutgebiet für Seevögel auf der gesamten Erde. Auch vier Pinguinarten, darunter die größte Königspinguin-Kolonie unseres Planeten, sowie rund fünf Millionen Robben, einschließlich vieler Seeelefanten leben hier.

Die Inselgruppe Südgeorgien ist zudem die Heimat des Wanderalbatrosses. Rund 80 Prozent dieser Art leben dort. Weiterhin gibt es drei weitere Albatrossarten auf Südgeorgien. „Wir können diese Vögel leider nicht vor dem Virus schützen. Wenn es dort eingetragen wird, besteht das Risiko, dass viele der hier lebenden Vögel an der Infektion sterben, denn auch für die gesündesten Vögel bleibt dieses Virus ein gefährlicher Killer“, warnt Harder.

Lauffeuer durch die Kolonien

Die Virusinfektion könne wie ein Lauffeuer durch die Kolonien gehen, in denen die Tiere dicht gedrängt leben, und einzelne Arten in ihrem Bestand sehr stark gefährden. „Wir haben bereits auf Helgoland bei den Basstölpeln und bei Seeschwalben entlang der Nordseeküste gesehen, wie verheerend die Folgen sind. Die Bestände wurden teilweise halbiert.“ In der Antarktis wäre es vermutlich noch schlimmer. Es wäre die erste Vogelgrippe, die diesen Kontinent heimsucht. Seine tierischen Bewohner haben deshalb vermutlich so gut wie keine Immunität gegen H5N1.

In Mitteleuropa wurde das Vogelgrippevirus H5N1 früher nur in den Wintermonaten nachgewiesen. Im Jahr 2021 hat sich dies geändert, die Vogelgrippe wütet hier seitdem auch im Sommer. Zwar befällt das Virus sehr spezifisch Vögel, aber inzwischen haben sich mehrfach auch Säugetiere angesteckt. „Diese vermehrten Säugetierinfektionen hat es so bislang nicht gegeben“, berichtet Timm Harder. Im Oktober 2022 kam es zu einem Vogelgrippe-Ausbruch auf einer riesigen Pelztierfarm in der Region Galicien im Nordwesten Spaniens.

Das Virus breitete sich gnadenlos von Nerz zu Nerz aus und tötete viele dieser Tiere. Im Rahmen der Tierseuchenbekämpfung wurden alle anderen Nerze getötet, Menschen hatten sich nicht infiziert. „Das ist vermutlich die erste beobachtete Übertragung zwischen Säugetieren“, sagt Harder.

Infizierte Katzen

In Polen sind diesen Sommer zuletzt auch zahlreiche Katzen – sowohl Freigänger als auch nie ins Freie gelangte Stubenkatzen – an Vogelgrippe erkrankt; mindestens 29 sind gestorben. Das Merkwürdige ist, dass die Katzen aus ganz verschiedenen Gegenden Polens stammen, sich also nicht gegenseitig anstecken konnten.Die in ihnen festgestellten Viren hatten aber fast identische genetische Sequenzen, und sie wiesen erste einzelne Anpassungsmutationen auf. Wissenschaftler und Katzenhalter vermuten, dass sich die Tiere über das Futter infiziert haben. Interessanterweise hatte das in den Katzen gefundene Virus zwei spezifische genetische Mutationen, die eigentlich nur in Säugetieren zu finden sind. Das heißt: Entweder waren die Katzen infiziert und die Viren in den Katzen entwickelten unabhängig voneinander diese ersten Mutationen, oder aber die Mutationen waren bereits in dem enthalten, was immer sie infizierte.

Der Influenza-Forscher Tom Peacock vom Imperial College in London hält nach seinen Aussagen in der New York Times zwei Szenarien für möglich. Die Katzen haben Säugetierfleisch von kranken Tieren gefressen oder das Fleisch von Vögeln, in denen das Virus irgendwie diese Mutationen entwickelt haben, die normalerweise mit der Anpassung an Säugetieren zu tun haben. Auch in Seoul, Südkorea, wurden Infektionen mit H5N1 in zwei Katzenunterkünften entdeckt. Aber im Unterschied zu Polen lebten diese Katzen am gleichen Platz.

Übersprung auf den Menschen?

In Europa gibt es immerhin Ansätze, die Entwicklung dieses Virus genau zu beobachten und Infektionen im Geflügelbereich von vornherein durch Sicherheitsmaßnahmen komplett zu vermeiden. Seit Februar 2023 darf Geflügel in der EU wegen des erhöhten Risikos geimpft werden. Inzwischen scheint das Virus allerdings auch leichter auf Säugetiere überzuspringen. So gesehen steigt das Risiko für den Menschen, allerdings hat sich das Virus bisher nicht an den Menschen angepasst.

Bislang sind nur sehr wenige Fälle bekannt, in denen sich Menschen mit dem Vogelgrippevirus H5N1 etwa bei dem von ihnen gehaltenenGeflügel angesteckt haben. „Aber es ist ein Hinweis darauf, dass H5N1 ein nicht zu unterschätzendes Potenzial für eine sogenannte Zoonose hat“, sagt Timm Harder. Als Zoonose bezeichnet man Infektionskrankheiten, die beispielsweise von Viren verursacht und wechselseitig zwischen Tieren und Menschen übertragen werden können.

Wie groß ist aktuell das Risiko, dass H5N1 Menschen in größerem Maßstab infiziert? „Es ist auf jeden Fall große Vorsicht angebracht“, so der FLI-Experte Harder. Aber es sind doch einige Mutationen nötig, damit H5N1 das schafft und Menschen sich dann auch gegenseitig infizieren können. „Es ist nicht ein einziger Schalter, der umzulegen ist, sondern es ist eine ganze Schalttafel mit vielen Schräubchen bzw. Mutationen nötig.“

Anpassung an den Menschen

Einen ersten Schritt hat Virus bereits geschafft. Zwei der Mutationen, die es für das Überspringen auf den Menschen bräuchte, hat es bereits gegeben, und zwar im PB2-Gen, das Teil der Vermehrungsmaschine des Virus ist. Eine der beiden Mutationen war bereits bei den Nerzen aufgetreten. Im April 2023 ist in Chile ein Mann erkrankt, bei dem das Virus diese beiden Mutationen aufwies. Die Mutationen, die beim chilenischen Patienten festgestellt wurden, seien auf jeden Fall ein Schritt in die falsche Richtung, so die Influenzavirologin Anice C. Lowen von der US-amerikanischen Emory University in einem Artikel der New York Times.

Glücklicherweise kann sich dieses Virus aber bislang in einem infizierten Menschen vermehren und nicht von Mensch zu Mensch übertragen werden. Dafür wären wieder andere Mutationen erforderlich. Doch jede Infektion eines Menschen mit dem Virus gibt diesem mehr Chancen, sich weiter anzupassen.

Die Hürden für das Virus

Manche Hürden kann das Virus immerhin nicht ohne Weiteres überwinden. Wie menschliche Grippeviren ist auch das H5N1 ein Virus, das sich im Atemtrakt vermehren und durch kleinste Aerosole beim Ausatmen auf andere Tiere übertragen werden kann. Eine Barriere ist hier auch die Betriebstemperatur des Lebewesens, das infiziert werden soll. Während im Vogel Temperaturen zwischen 40 und 41 Grad Celsius bestehen, sind es in der menschlichen Nase gerade mal 33 Grad Celsius. Zudem brauchen die Viren passende Rezeptoren, um an den Zielzellen andocken und sich in ihnen vermehren zu können. Influenzaviren haften sich an Zuckerreste, sogenannte Sialinsäuremoleküle, auf der Zelloberfläche an, um in die Zelle zu gelangen. Doch diese Rezeptoren unterscheiden zwischen sich Vogel und Mensch. Insgesamt sind vermutlich etwa sechs bis zwölf Mutationsschritte nötig, damit das Virus menschliche Zellen effektiv infizieren könne.

„Spätestens seit SARS-CoV-2 sollte uns klar sein, dass wir kein Virus unterschätzen dürfen und bereits dann, wenn ein verdächtiges Virus erstmalig auftaucht, viel konsequenter handeln müssen“, warnt Timm Harder. H5N1 stammt aus einem Stammbaum, der in China wurzelt, wo es erstmalig 1996 aufgetaucht ist. Damals wurden überall in Südostasien große Geflügelfarmen aufgebaut. „Das hat dem Virus in die Hände gespielt. Bereits zu jener Zeit hätte man diesen Virusstammbaum komplett ausrotten müssen, das ist leider nicht gelungen. Das ist die Wurzel allen Übels, das sich nun ereignet“, sagt Harder.

Noch ist die Katastrophe auf Vögel und einige Säugetierarten beschränkt. Die aber nun aber aufgrund menschlicher Massentierhaltung dezimiert werden und wertvollen Ökosystemen verloren gehen. Derweil tickt eine Zeitbombe - für den Menschen.