All unsere Hoffnungen sind mit der Ukraine verbunden“, machte die weißrussische Menschenrechtlerin Natalia Pintschuk kürzlich im Gespräch mit Oleksandra Matwijtschuk deutlich, die als Leiterin des ukrainischen Zentrums für bürgerliche Freiheiten den Friedensnobelpreis 2022 bekam. Matwijtschuk teilt sich den Preis mit dem Ehemann Pintschuks, Ales Bialiatskij, der seit der Niederschlagung des weißrussischen Maidans 2020 eine zehnjährige Haftstrafe verbüßt, und mit der russischen Organisation Memorial, deren Mitgründerin Irina Schtscherbakowa mit Pintschuk und Matwijtschuk auf einer Berliner Hybridveranstaltung über die Zukunft der drei ehemals sowjetischen Länder diskutierte.

Obgleich Russland, die Ukraine und Weißrussland derzeit völlig unterschiedliche Menschenrechtssituationen haben, lässt sich die Entwicklung der Länder nicht losgelöst voneinander vorstellen. Die Komplexität der Lage mag der Grund sein, warum die Stiftung Erinnerung Verantwortung Zukunft (EVZ) eine Berliner Diskussion zwischen den drei Frauen jetzt unter dem allzu weit gefassten Titel „Zivilgesellschaften unter Druck“ organisierte. Pintschuk formulierte den Zusammenhang für ihr Land an dem Abend aber genauer: Nur, wenn die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinne, gebe es „für Weißrussland den Weg in eine freie Zukunft“. Nur dann könne die unter dem russland-nahen Autokraten Alexander Lukaschenko leidende Zivilgesellschaft Hoffnung schöpfen.

Eine gewagte Runde

Die Idee, Vertreterinnen der Ukraine, Russlands und Weißrusslands an einen virtuellen Tisch zu setzen, erscheint dennoch gewagt. Ukrainische Politiker:innen und Bürgerrechtler:innen vermeiden oft gemeinsame Veranstaltungen mit Russ:innen, selbst wenn diese in ihrem eigenen Heimatland in der Opposition sind. Man glaubt, dass dort die Grenze zwischen Aggressor und Kriegsopfer verwischt ist. Beide sehen sich als Opfer von Wladimir Putins Regime. Aber was haben die russischen Oppositionellen letztendlich getan, um ihn zu stoppen? Und was hat die Organisation Memorial – inmitten des von Russland entfesselten Kriegs mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet – für den Frieden getan?

Schtscherbakowa antwortete darauf, man habe dort zumindest versucht, „die Katastrophe zu verhindern“. 35 Jahre lang habe Memorial davor gewarnt, Fehler aus der Geschichte zu wiederholen – und verloren, das sei tragisch. Auch Matwijtschuk zeigte sich anerkennend gegenüber Memorial. Seit Beginn der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine, also seit 2014, unterstütze die Organisation die Verteidigung ukrainischer politischer Gefangener in Russland. Zwar könne in russischen Gefängnissen von der Wahrung der Rechte von Häftlingen keine Rede sein. Doch Memorial habe geholfen, nach politischen Gefangenen in den Strafkolonien zu suchen und mit den Verwaltungen der Gefängnisse zu kommunizieren.

Matwijtschuks Zentrum für bürgerliche Freiheiten dokumentiert seit 2014 auch die Kriegsverbrechen des Kremls gegen die Ukraine: Bis heute zählt es 41.000 Vorfälle in seiner Datenbank. Sie habe selbstmehr als hundert Menschen interviewt, die in russische Gefangenschaft geraten sind und dies „wie durch ein Wunder überlebt haben“. Das menschliche Leid, das Wladimir Putin durch seine militärische Taktik verbreite, übersteige dies alles noch. Als Menschenrechtsaktivistin sei ihr Ziel, mit ihrem Zentrum Daten „für ein künftiges Tribunal für Putin“ zusammenzustellen, so Matwijtschuk.

Warten auf ein Tribunal für Putin

Auf dieses Tribunal warten russische und belarussische Oppositionelle ebenso wie die Ukrainer:innen.Die Russin Schtscherbakowa ist jedoch in ihrer Prognose vorsichtiger: „Ein Sieg der Ukraine würde Russland wahrscheinlich zumindest die Chance geben, die historische Katastrophe zu stoppen, die sich jetzt in unserem Land abspielt“.

Es bleibt die Frage: Warum gelang der Ukraine, was ihre Nachbarn nicht geschafft haben – durch den Maidan die Zivilgesellschaft zu stärken und sich gegen Autokraten zu behaupten? Schtscherbakowa glaubt, dass freie Wahlen den demokratischen Weg der Ukraine bestimmen.

Während Russlands Gesellschaft nie reif für große Proteste schien, war Weißrussland im Jahr 2020 nur einen Schritt davon entfernt, Lukaschenko zu stürzen. Doch am Ende schlug dieser den Protest gewaltsam nieder und zerstörte die Zivilgesellschaft. Seitdem gebe es in Belarus keine einzige Struktur mehr, die sich gegen das Regime stelle, zieht Pintschuk Bilanz, 1250 Nichtregierungsorganisationen seien seit 2020 verboten worden. Einige Oppositionelle sind noch im Untergrund aktiv, andere vom Ausland aus.

In Russland gibt es indes seit einiger Zeit keine Hoffnung mehr, Putin zu stürzen. Der letzte Massenprotest, der sogenannte Marsch der Millionen, fand im Frühjahr 2012 statt, nachdem Putin für eine dritte Amtszeit wiedergewählt worden war. Die Demonstrationen endeten mit Zusammenstößen mit der Polizei und Massenverhaftungen der Teilnehmenden. Während Proteste im Land heute gänzlich unmöglich scheinen, fragt man sich, was Russ:innen im Exil tun können. Bislang scheinen auch sie noch nach einer Antwort auf diese Frage zu suchen.