Heike Wiese muss nur aus der Haustür treten, da wird es direkt spannend. Die Sprachwissenschaftlerin, die an der Humboldt-Universität forscht, wohnt in Kreuzberg – und geht gerne auf den Wochenmarkt am Maybachufer. Lautstark preisen Händler:innen dort ihre Angebote an.

Dabei werden nur die nötigsten Infos rausgehauen: „Drei Euro drei Stück Mango!“ Oder: „Mandarine, zwei Kiste, acht!“ Doch warum steht das Wort Kiste im Singular? Und wieso kann die Frucht am Anfang oder Ende stehen, aber nicht in der Mitte? Liegt es am sprachlichen Unvermögen der Marktschreier – oder hat sich hier womöglich eine eigene Maybachufer-Grammatik herausgebildet?

Normaler Sprachgebrauch und keine Verhunzung

Professorin Wiese will vor allem eins grundsätzlich klarstellen: „Was auf solchen urbanen Märkten passiert, ist keine Verhunzung, sondern ganz normaler Sprachgebrauch“, sagt die Wissenschaftlerin. Sprache ist, was eine experimentierfreudige Sprechergemeinschaft daraus macht – und wo könnte man das besser beobachten und untersuchen als im großen Schmelztiegel Berlin?

Dass der Untersuchungsgegenstand buchstäblich vor der Haustür liegt, ist sicher einer der Gründe, warum die sprachwissenschaftliche Forschung in der Hauptstadtregion hervorragend aufgestellt und institutionell fest verankert ist, nicht nur an der Humboldt-Universität und der Uni Potsdam, sondern auch an der Freien und der Technischen Universität. Intensiv wird außerdem am Leibniz-Zentrum Allgemeine Sprachwissenschaft in der Schützenstraße in Mitte etwa zur Mehrsprachigkeit geforscht.

Die Forschenden stürzen sich mitten ins Sprach-Geschehen

Und all dies findet keineswegs im akademischen Elfenbeinturm statt, weit weg von der Realität der Stadtbewohner. Im Gegenteil, die Forschenden stürzen sich mitten ins Geschehen, dringen in unterschiedlichste Milieus vor. „Und was wir dabei herausfinden, interessiert die Öffentlichkeit oft brennend“, sagt Heike Wiese.

Genau das aber kann für die Wissenschaft problematisch sein. Horst Simon bittet deshalb schon mal prophylaktisch um Verständnis. Der Linguistik-Professor an der Freien Universität startet ab Januar 2023 gemeinsam mit seiner Kollegin Tanja Ackermann und einem Team in Berlin, Salzburg und Zürich ein neues vergleichendes Forschungsprojekt zu regionalen Sprachgewohnheiten. Drei Jahre sind dafür eingeplant, finanziert wird es von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Allzu viel könne er noch nicht verraten, sagt Simon. „Denn schlimmstenfalls lesen die Leute etwas in der Zeitung, behalten es im Hinterkopf und das verfälscht dann unsere Studie.“ Es geht nämlich unter anderem um Umgangsformen: Den Deutschen, insbesondere den Berlinern, eilt in der Schweiz und in Österreich der Ruf voraus, ruppig und kurz angebunden zu sein. Und wird man nicht in Berliner Kneipen oder im Straßenverkehr grundsätzlich geduzt? „Solche Stereotype beruhen auf einzelnen Alltagsbeobachtungen“, sagt Simon. Wissenschaftlich auf ihre Richtigkeit überprüft wurden sie bisher nie, jedenfalls nicht in großem Stil.

Das will das Projekt „Variantenpragmatik des Deutschen“, kurz VariPrag, ändern. In den kommenden Monaten werden Fragebögen und Online-Tests entwickelt, die in den drei Ländern verteilt werden. Zusätzlich werden Dutzende sogenannte Explorator:innen geschult. Sie sollen im gesamten Sprachraum Alltagsdialoge dokumentieren. „Unser Ziel ist es, erstmals einen umfangreichen Datensatz zu erstellen“, sagt Simon. Wie sprechen die Leute wirklich miteinander und wie unterscheidet sich das von Land zu Land?

Erst, wenn die authentischen Äußerungen von mehreren tausend Menschen erfasst sind, werden die Forscher:innen mit der Auswertung beginnen. Nicht nur der empirische Anspruch, sondern auch der Fokus auf die Pragmatik, also die Verwendung des Deutschen, macht das trinationale Projekt so innovativ. Bisher habe sich die Variationsforschung kaum mit Pragmatik befasst, sagt Simon.

Das heißt: Man weiß zwar, welche Besonderheiten in der Grammatik oder im Wortschatz es jeweils gibt. Zum Beispiel: Jänner statt Januar, das E-Mail statt die E-Mail, in die Hosen steigen statt Butter bei die Fische. Aber lassen sich auch Unterschiede beim Sprechen nachweisen, etwa beim Einsatz bestimmter Satzpartikel? In einer ersten, kleinen Pilot-Untersuchung schaute sich Simon mit einer Schweizer Kollegin Verkaufsgespräche in zwei Bäckereien in Zürich und Berlin an.

Die Berliner Kundschaft war weniger höflich

Es war keine Überraschung, wo die Kundschaft weniger Höflichkeitsfloskeln benutzte – in Berlin. „Die Studie war nur ein Testballon, mit sehr wenigen Datensätzen, noch nicht wirklich aussagekräftig“, betont Simon. Valide Ergebnisse wird das Forschungsprojekt frühestens in einem Jahr präsentieren können.

Kerstin Trillhaase hat die Auswertung ihrer Forschungsdaten schon hinter sich. Die ehemalige Doktorandin der TU war schon immer ein Dialekt-Fan. „Deshalb stand für mich fest, worüber ich promoviere.“ Trillhaase, die heute als freie Lektorin in Berlin arbeitet, stammt gebürtig aus Märkisch-Oderland. Den Berliner Dialekt, der korrekt „Berlinisch“ heißt und auch in Brandenburg weit verbreitet ist, spricht sie seit ihrer Kindheit.

„Dialekt passt eher ins Private, erzeugt schnell ein Gefühl von Sympathie und Nähe“, sagt sie. In beruflichen Zusammenhängen wird dagegen Hochdeutsch als angemessener empfunden. Warum eigentlich? Trillhaase entschloss sich, dieser Frage auf den Grund zu gehen: Wie wirken Menschen, die Dialekt sprechen, auf andere? Welche Charaktereigenschaften dichtet man ihnen an?

Wer Bairisch oder Sächsisch spricht, gilt als wenig weltoffen

In ihrer 2021 veröffentlichten Doktorarbeit untersuchte sie das am Beispiel des Mittelbairischen und Obersächsischen. „Berlinisch wäre zu nah an mir dran gewesen, da hätte vielleicht die wissenschaftliche Neutralität gefehlt.“ Am Ende hatte die junge Forscherin für Dialektsprecher schlechte Nachrichten: Ihnen wurde von fremden Zuhörer:innen regelmäßig unterstellt, sie seien weniger weltoffen und weniger zuverlässig. „Dialekt beeinflusst die Wahrnehmung der Persönlichkeit eines Menschen“, sagt Trillhaase. Der negative Sachsen- und Bayern-Effekt verschwand, sobald die Probanden wieder Hochdeutsch sprachen.

Mit dem Image von Dialekten kennt sich auch Heike Wiese sehr gut aus. Die HU-Forscherin ist vor zehn Jahren mit einer breit angelegten Studie zum „Kiezdeutsch“ bekannt geworden. Wiese, die damals noch an der Universität Potsdam lehrte, hatte 2012 als erste den aus dem Berliner Jugendslang entstandenen neuen Großstadtdialekt untersucht. Sie wies nach, dass Ausdrücke wie „Lassma Kotti gehen“ oder „Gestern isch war Kino“ weder Zufall noch Fehler sind, sondern bewusst genutzte Grammatikformen, die in bestimmten sozialen Kontexten vorkommen.

Was die Wissenschaftlerin auch herausfand: Keineswegs wird Kiezdeutsch nur von jungen Berliner:innen mit Migrationshintergrund oder aus bildungsfernen Elternhäusern gesprochen. Der Dialekt ist ein kultur-, klassen- und generationenübergreifendes Phänomen. Und längst nicht nur auf den Schulhöfen der Stadt präsent.

Wiese erntete große wissenschaftliche Anerkennung für ihre Arbeit über das Kiezdeutsch. Einem Teil der Bevölkerung aber stießen ihre Thesen übel auf. Die Professorin bekam Hassmails, es gab sogar sexualisierte Gewaltandrohungen gegen sie und ihre Töchter. Damit müsse man als Frau, die in der Öffentlichkeit steht, leider immer rechnen, sagt die Forscherin. „Zum Glück ist die Debatte um das Kiezdeutsche mittlerweile viel sachlicher geworden.“

Viele Einflüsse: Das Icke-Berlinisch ist kein Urdeutsch

Die heftigen Abwehrreaktionen gegen ihre Forschungsergebnisse führt sie vor allem auf rassistische Denkmuster zurück: „Bei Sprache geht es immer um Zugehörigkeit.“ Dass ausgerechnet in Kreuzberg, im Wedding oder in Neukölln ein neuer deutscher Dialekt begründet wurde, „das konnten manche Menschen einfach nicht mit ihrem Weltbild vereinbaren“.

Für Wiese kein Grund, das Thema aufzugeben. Immer wieder hat sich die Sprachwissenschaftlerin in den letzten Jahren der urbanen Vielfalt zugewandt, hat erforscht, wie die engen Kontakte zwischen Deutsch, Türkisch, Englisch oder Arabisch den Sprachgebrauch in Berlin verändern. „Sprache und Dialekte bleiben ja nie stehen, sie entwickeln sich ständig weiter.“

Wer das schöne alte Icke-Berlinisch für etwas Urdeutsches halte, „der liegt sowieso völlig daneben“. Entstanden ist der Dialekt über Jahrhunderte; mit jeder Einwanderungswelle wurde er bunter: Auf die Sorben folgten Zuwanderer vom Niederrhein, die Plattdeutsch und Holländisch mitbrachten. Später kam Französisch hinzu („Bouletten“), die Sprache des Adels und der Hugenotten.

Jiddische und hebräische Ausdrücke hielten Einzug, ebenso wie polnische, türkische und englische. Vielleicht wird in Zukunft auch das Ukrainische, das 2022 mit den Geflüchteten kam, seine Spuren hinterlassen. „Berlin ist eine typische Großstadt: immer schon eine wilde sprachliche Mischung – und deshalb auch so kreativ.“

Das kann man nicht nur am Maybachufer sehen, wo Heike Wiese mit ihrem Team an den Marktständen jahrelange Feldforschung betrieben hat. Es stellte sich heraus: Weder die Kiste im Singular noch die Wortstellung in den Marktschreien ist willkürlich. Beides unterliegt grammatischen Regeln und wird von den Verkäufer:innen systematisch verwendet.

Dabei liefert die Grammatik nur das Gerüst, legt aber nicht die Sprache fest: „Mandarine, two kilo, drei Euro“, das geht natürlich auch. Ähnlich einfallsreiche Strategien fanden die Forschenden im Dong Xuan Center, dem großen Asiamarkt in Lichtenberg. „Dort sieht man Schilder, auf denen etliche Sprachen und Schriften miteinander kombiniert werden.“

Wiese ist von solchen Funden begeistert. Denn wenn am Ende die großstädtische Kommunikation gelingt, haben die Sprecherinnen und Sprecher alles richtig gemacht. Und für die sprachwissenschaftliche Forschung in Berlin wird es definitiv nicht langweilig.