Wenn ein Mensch nicht mehr allein in die Badewanne steigen kann, vergisst, ob er morgens die rote oder blaue Pille schlucken muss, oder der Weg zum nächstenLebensmittelladen um die Ecke schon viel zu weit geworden ist - spätestens dann braucht er Unterstützung von Angehörigen oder professionellen Pflegekräften. Doch gute Pflege ist teuer. Pflegebedürftige haben Anspruch auf Leistungen von ihrer Pflegekasse. Diese erhalten sie aber erst, nachdem ein Gutachter vorstellig wurde und der Betroffene einem sogenannten Pflegegrad zugeordnet wurde.

EINE EINSCHÄTZUNG DES GUTACHTERS

Für die Beurteilung der Pflegebedürftigkeit werden sowohl körperliche als auch geistige Einschränkungen berücksichtigt. Dazu wird im Auftrag der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) ein Gutachten erstellt. Für Privatversicherte übernimmt das die Medicproof GmbH. Auf der Grundlage des Gutachtens ordnet die Pflegekasse dem Pflegebedürftigen einen von fünf Pflegegraden zu, der über die finanziellen Leistungen, die gewährt werden, entscheidet. Außerdem gibt der Gutachter eine Einschätzung ab, ob die pflegebedürftige Person von Rehabilitationsmaßnahmen profitieren könnte, welche Hilfsmittel notwendig sind oder auch darüber, wie sich das Wohnumfeld auf die Bedürfnisse des Betroffenen anpassen lässt.

ANTRAG AUF PFLEGELEISTUNGEN

Der Antrag kann formlos per Telefon, Mail, Fax, Brief oder auch persönlich vor Ort bei der Pflegekasse der pflegebedürftigen Person gestellt werden. Wenn Sie den Antrag nicht selbst formulieren möchten, können Sie den kostenlosen Musterbrief der Verbraucherzentrale (verbraucherzentrale.de/sites/default/files/2020-09/Musterbrief_Pflegegrad_ beantragen.pdf) nutzen. Ist der Pflegebedürftige selbst nicht in der Lage, den Antrag zu stellen, kann dies auch ein Betreuer oder ein Bevollmächtigter übernehmen. In diesem Fall sollten Sie dem Antrag eine Kopie des Betreuerausweises oder der Vollmacht beilegen. Die Pflegekasse schickt anschließend ein Formular für die Beantragung der Pflegeleistungen an die Adresse des Pflegebedürftigen. Unter anderem müssen Sie darin angeben, welche Leistungen Sie beantragen und unter Umständen miteinander kombinieren möchten. Das macht das Ausfüllen des Antrags durchaus kompliziert. Die Verbraucherzentrale macht es anhand eines Muster-Antrags vor (verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/pflegeantrag-und-leistungen/so-fuellen- sie-den-antrag-auf-leistungen- der-pflegeversicherung-aus-42638).

GUTACHTEN IM CORONA-LOCKDOWN

Nachdem der Antrag bei der Pflegekasse eingegangen ist, beauftragt diese den MDK damit, die Pflegebedürftigkeit festzustellen. In Vor-Corona-Zeiten wurde dazu ein Gutachter zum Versicherten vor Ort geschickt – also bei ambulanter Pflege nach Hause oder bei stationärer Pflege in das Pflegeheim. Um pflegebedürftige Menschen während des Corona-Lockdowns zu schützen, finden Begutachtungen zum Pflegegrad jetzt als Telefoninterview statt. Diese Regelung gilt vorerst bis Ende Februar 2021, wird aber wahrscheinlich so lange fortgeführt, bis die Inzidenzzahlen deutlich fallen und Kontaktbeschränkungen gelockert werden. Aktuelle Informationen finden Sie auf der Homepage des MDK Berlin-Brandenburg (mdk-bb.de).

VORBEREITUNG AUF DAS TELEFONAT

Vor dem Telefongespräch schickt der MDK einen Fragebogen an die Adresse des Versicherten. Ein PDF des Fragenkatalogs (mdk-wl.de/fileadmin/MDK-Westfalen-Lippe/user_upload/2020-pflegebegutachtung_fragebogen-mdk-wl.pdf) auch auch online auf der Website des MDK Westfalen-Lippe abgerufen werden (der Fragebogen kann je nach Region etwas anders aussehen). Die Fragen sollen dem Antragsteller helfen, sich auf das Interview vorzubereiten. Nehmen Sie sich ausreichend Zeit und beantworten Sie jede Frage gründlich. Füllen Sie den Fragebogen am besten mit einer weiteren Person, die Ihre Situation gut kennt aus – etwa einem Angehörigen, der Sie unterstützt. Ob Sie den Fragebogen beim Telefonat bereithalten sollen oder ihn an den MDK vorab zurückschicken sollen, regelt jeder MDK unterschiedlich. Fragen Sie nach, falls Sie dazu nicht informiert wurden. Hilfreich kann auch ein detailliertes Pflegetagebuch sein, in dem einige Tage lang der Alltag des Antragstellers und der nötige Hilfebedarf protokolliert wird. Der Sozialverband Deutschland bietet ein kostenloses Pflegetagebuch als PDF (sovd.de/fileadmin/downloads/broschueren/pdf/pflegetagebuch.pdf) zum Ausdrucken und Ausfüllen an. Zudem ist es sinnvoll, weitere Unterlagen beim Gespräch griffbereit zu haben. Dazu gehören der aktuelle Medikationsplan, aktuelle Krankenhausberichte oder Gutachten von behandelnden Ärzten. Sie können auch eine Liste der benutzten Pflegehilfsmittel anfertigen. Wenn der Fragebogen vorab an den MDK geschickt werden soll, können Sie diese Unterlagen beilegen.

TELEFONAT MIT TERMIN UND BEISTAND

Der Antragsteller erhält vom MDK ein Schreiben mit einem Terminvorschlag. Sollte dieser Termin nicht passen, kann ein anderes Datum vereinbart werden. Können weitere Personen an dem Telefonat teilnehmen? Ja, und das ist auch sehr ratsam. Neben dem Pflegebedürftigen sollte eine vertraute Person teilnehmen, die die Lebensumstände des Antragstellers gut kennt. Das kann beispielsweise ein Angehöriger oder eine Pflegeperson sein. Sollte die Vertrauensperson an dem vorgeschlagenen Termin keine Zeit haben, kann dieser verschoben werden. Das Telefonat könne gut eine Stunde dauern, heißt es vom MDK.

WAS GEPRÜFT WIRD

Seit dem 1. Januar 2017 entscheidet über den Pflegegrad nicht mehr, wie viel Zeit für die Pflege aufgewendet werden muss, sondern wobei der Pflegebedürftige Hilfe benötigt. Im Zentrum steht also dessen Fähigkeit zur Selbstständigkeit. Dadurch sollen insbesondere Menschen mit kognitiven Einschränkungen – beispielsweise einer Demenz – stärker berücksichtigt werden. Bis dato wurde die Pflegebedürftigkeit vor allem an körperlichen Beeinträchtigungen festgemacht. Der Gutachter prüft entsprechend der neuen Regeln sechs Module, die die Selbstständigkeit in verschiedenen Lebensbereichen abbilden sollen. Im Modul „Mobilität“ wird unter anderem geprüft, wie selbstständig sich der Pflegebedürftige zu Hause oder im Pflegeheim fortbewegen kann, ob ihm beispielsweise das Treppensteigen gelingt oder ihm bereits das Aufstehen aus dem Bett schwerfällt.

Unter dem Stichpunkt „kognitive und kommunikative Fähigkeiten“ schätzt der Gutachter ein, wie gut sich der Pflegebedürftige örtlich und zeitlich orientieren und wie gut er sich anderen Menschen mitteilen kann. Das Modul „Verhaltensweise und psychische Problemlagen“ zeigt auf, ob der Betroffene beispielsweise unter aggressivem Verhalten, Depressionen oder Angstzuständen leidet.

Im Modul „Selbstversorgung“ schätzt der Gutachter ein, inwieweit der Betroffene in der Lage ist, sich eigenständig zu versorgen, beispielsweise bei der Körperpflege oder beim Essen und Trinken. Unter dem Modul „Bewältigen von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen“ wird erfasst, ob der Betroffene Hilfe bei medizinischen Aspekten wie dem Gang zum Arzt, bei der Medikamenteneinnahme oder dem Anlegen eines Verbandes benötigt. Nicht zuletzt wird auch die selbstständige Fähigkeit zur „Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte“ in die Bewertung der Pflegebedürftigkeit miteinbezogen.

WIE DER PFLEGEGRAD ERMITTELT WIRD

Die Pflegebedürftigkeit orientiert sich an dem Maß der Selbstständigkeit und den Einschränkungen des Pflegebedürftigen. Dazu werden in jedem der sechs geprüften Module Punkte vergeben und unterschiedlich gewichtet. Die daraus ermittelte Gesamtpunktzahl ergibt dann den Pflegegrad: Bei 12,5 bis unter 27 Punkten liegt Pflegegrad 1 vor, bei 27 bis unter 47,5 Punkten Pflegegrad 2, bei 47,5 bis unter 70 Punkten Pflegegrad 3, bei 70 bis unter 90 Punkten Pflegegrad 4 und bei 90 bis 100 Punkten Pflegegrad 5.

WIE MAN WIDERSPRUCH EINLEGT

Nachdem der Gutachter das Ergebnis der Begutachtung der Pflegekasse mitgeteilt hat, entscheidet diese über den Pflegegrad und die damit verbundenen Leistungen. Gegen diesen Bescheid kann der Pflegebedürftige innerhalb eines Monats nach Zugang des Schreibens Widerspruch bei der Pflegekasse einlegen. Um Streitfälle zu vermeiden, kann man sich bei der Berechnung der Widerspruchsfrist am Datum des Bescheides orientieren. Zur eigenen Sicherheit sollte der Widerspruch per Einschreiben mit Rückschein oder per Fax mit Sendebericht erfolgen – so lässt sich im Streitfall die fristgerechte Einsendung belegen. Eine E-Mail genügt dafür nicht.

Wenn der Widerspruch eingegangen ist, überprüft die Pflegekasse ihre Entscheidung in der Regel anhand eines Zweitgutachtens. Dieses Gutachten kann nach Aktenlage oder einem weiteren Besuch beim Pflegebedürftigen erfolgen. Auf diesen Besuch sollte man sich ebenso gründlich vorbereiten wie auf den Ersttermin. Fällt das Zweitgutachten positiv aus, erhält man eine Bestätigung.

WANN MAN KLAGEN KANN

Ist das zweite Gutachten ebenfalls ablehnend, erhält der Antragsteller einen Widerspruchsbescheid. Sollte auch der Widerspruch erfolglos bleiben, ist binnen eines Monats nach Zugang des Widerspruchsbescheids Klage beim Sozialgericht möglich. Um auf der sicheren Seite zu sein, kann man sich auch hier am Datum des Bescheids orientieren, um die Frist zu wahren. Die Klage sollte per Einschreiben oder Fax eingereicht werden.

In den meisten Fällen fallen keine Gerichtskosten beim Sozialgericht an. Gewinnt der Kläger, also der Pflegebedürftige, das Verfahren, übernimmt die Pflegekasse die Anwaltskosten. Reicht das Einkommen oder Ersparte des Klagenden nicht, um die Kosten des eigenen Anwalts zu tragen, kann er Prozesskostenhilfe beim Gericht beantragen.

WARTEN AUF DIE BEWILLIGUNG

Die Pflegekasse muss spätestens nach 25 Tagen ab Antragsstellung über die Pflegebedürftigkeit entscheiden. Wird diese Frist nicht eingehalten, muss sie demAntragsteller 70 Euro pro Woche zahlen.