Schon seit einigen Jahren macht Johannes Zillhardt das Videoblog „Berliner Kindheiten“. Darin sprechen Zeitzeug:innenen aus vielen Altersgruppen und Bezirken über ihr Heranwachsen in Berlin. Jetzt ist im Transit-Verlag eine Auswahl dieser Erinnerungen als Buch erschienen. Als Leseprobe bringen wir hier Erinnerungen von Satou Sabally, Jahrgang 1998. Die Basketballerin spielt für die Dallas Wings in der nordamerikanischen Profiliga WNBA. In unserem Ausschnitt aus dem Buch erzählt sie von ihrer Familie, ihrem Schöneberger Kiez, ihrem Lichterfelder Verein und mehr.

Meine Mutter hat früher gemodelt und war viel unterwegs. Sie hat sich in New York verliebt, und so bin ich dort zur Welt gekommen. Ich habe sechs Geschwister. Ich war die älteste Tochter von meiner Mutter, nicht von meinem Vater. Ich habe noch eine ältere Schwester, aber ich habe mich immer als die Älteste gefühlt und mich sehr um meine Geschwister gekümmert. Als Familie waren wir immer sehr liebend und chaotisch, groß, aber wirklich auch einfach lustig. Meine Mamma kommt aus Ost-Berlin. Eine waschechte Berlinerin. Die ist wirklich der Herr des Hauses oder die Frau des Hauses, will ich mal sagen. Die organisiert alles, macht alles. Mein Vater ist aus Gambia. Der bringt die Kultur ins Haus, der war immer mit uns, seitdem wir klein waren. Meine Eltern waren immer zusammen, was sehr cool war für uns, weil wir unsere Roots kennen. Nicht nur die Berliner, sondern auch die aus Gambia.

Meine Mutter hat immer Deutsch mit uns geredet, aber dadurch, dass wir in englischsprachigen Ländern aufgewachsen sind, haben wir immer Englisch geantwortet. Wenn mich Leute fragen, was meine Muttersprache ist, dann sage ich immer Deutsch. Aber ob es die erste Sprache war, weiß ich nicht. Ich träume in beiden Sprachen, wenn ich in Amerika bin eher Englisch und wenn ich wieder in Deutschland bin auf Deutsch.

Als ich sechs war, sind wir nach Berlin gekommen. Es gibt ein Bild von uns, wie wir am Flughafen angekommen sind und ich erinnere mich, wie kalt es war. Wir hatten so afrikanische Kleidung an, und unsere Oma hat uns Winterjacken mitgebracht. Der erste Ort, den ich erinnere, ist die Potsdamer Straße, da bin ich aufgewachsen, die Gegend Bülowstraße, Nollendorfplatz. Das ist meine Area. Die Gegend war damals schon Multikulti. Jetzt würde ich sagen: „Gentrifizierung läuft.“ Aber ich würde auch sagen, dass es sehr herzlich ist. Es ist einfach warm, da sind viele Kulturen. Es gibt Schwarze, Araber, Türken. Deutsche waren auch viele da, die kommen jetzt wieder zurück.

Am Anfang war es so, dass ich gar nicht wusste, dass wir nicht viel Geld hatten. Ich meine, wir sind in einer kleinen Wohnung aufgewachsen, wir waren acht Leute in vier Zimmern. Aber das hat mir alles gegeben, was ich brauchte. Ich war immer ein Familienmensch. Man kann niemals abheben in unserer Familie. Meine Geschwister und Eltern haben mich immer in die Realität zurückgebracht.

Der Sport hat mich auch sehr beeinflusst zum Guten. Mein Verein war in Lichterfelde, da habe ich viel trainiert. Man fährt etwa eine Stunde hin von Schöneberg, mein Gott, ich habe so viele Stunden in der Bahn verbracht. Die U2 war mein Leben. 45 Minuten reine Fahrzeit für eine Strecke. Und dann muss man noch so weit laufen. Das hieß jeden Morgen um sechs Uhr aufstehen. Meistens habe ich die Hausaufgaben in der U-Bahn gemacht. Und ich hab viel gelesen. Meine Schwester und ich haben uns in die Bahn gesetzt und uns in ein Buch vergraben. Ich glaube, da ist meine Liebe fürs Lesen echt groß geworden.

Meine Mutter hat mir früh gezeigt, dass man sich nicht alles gefallen lassen kann. Ich meine, wenn man aufwächst als Schwarze in Berlin, dann weiß man das früh und muss sich damit früh auseinandersetzen. Ich denke, dass es gut ist, dass ich mit meinem Vater aufgewachsen bin. Weil ich viel von meiner afrikanischen Seite weiß. Und das können viele nicht sagen, was schade ist. Vor allem viele Mixed Kids wie ich.

Ich wusste früh, dass ich die Einzige in der Klasse bin mit lockigen Haaren und dass Leute irgendwas von Tingeltangel Bob quatschen. Das sind einfach Sachen in der Schule, die passieren, wo man, wenn man so zurückdenkt und sich denkt: „Das ist doch vollkommen rassistisch, sowas geht gar nicht!“ Aber es war halt so, und da muss man tough sein und zurück quatschen: „Guck dich doch an!“ Man muss lernen, tough zu sein, einzustecken und auch zurückzugeben. Viele kommen dann an und sagen: „Ah, das ist doch gar nicht so gemeint!“ Naja, wie ist es denn gemeint? Auch so unterschwellige Bemerkungen. Man kann immer Witze reißen, aber wenn von Sklaverei in der Schule gesprochen wird, werden die Schwarzen angeguckt, so ist es halt. Von Schwarzen wird auch erwartet, dass sie alles wissen müssen über Rassismus. Das wissen halt auch nicht alle, die das entweder nicht studiert haben oder sich nicht damit auseinander setzen wollen.

Wir wurden schon streng erzogen, aber ich war immer ein Freigeist. Ich kann nicht nur zuhause bleiben. Ich möchte auch ausgehen. Meine Mum war immer vorsichtig und wollte, dass ich um zwölf zuhause bin. Meine ganzen Freunde konnten aber bis um zwei Uhr raus. Da gab es manchmal Auseinandersetzungen. Zurück betrachtet denke ich: „Oh man! Fünfzehnjährige Mädels sollten wirklich nicht um ein Uhr nachts allein auf der Straße rumlaufen.“ Da hat man oft „bei der Freundin übernachtet“.

Als ich ausgezogen bin, mit 17, konnte ich machen, was ich wollte. Da war ich aber auch schon fast erwachsen. Da musste ich mich um meine Sachen kümmern und dann wird man auch verantwortungsbewusster. Am College war es nicht mehr so, dass man dumme Sachen machen konnte. Mit 19 bin ich in die USA gegangen und habe Berlin schon echt vermisst. Ich meine, ich bin nicht nach New York gegangen. Ich bin nach Eugene gegangen, was komplett langweilig ist. Von der Stadt her gibt es da gar nichts. Ich hab das Essen vermisst. Ich hab die Leute vermisst.

Es ist schon so, dass die Menschen in den USA offener sind, als die Berliner. Und der Sport spielt in den USA eine so große Rolle. Mir ist im Nachhinein erst bewusst geworden, wie sehr mein alter Trainer Heiko Zach sich darum gekümmert hat, dass ich wirklich im Basketball gut geworden bin. Das ist schwer, in Deutschland einen so zu pushen.

Mit 17 bin ich von zuhause raus und nach Freiburg gezogen. Ich hab dort in der ersten Bundesliga gespielt, weil es in Berlin nur eine zweite Bundesliga gibt. Ab da habe ich mich um alles allein gekümmert, fast. Meine Mum hat mir trotzdem immer noch geholfen, so mit organisatorischen Sachen. Aber sonst hab ich mich um alles gekümmert. Eigentlich schon seit ich 16 war. Dann bin ich ausgezogen und war in diesem Apartment und dachte: „Krass. Jetzt bin ich wirklich alleine.“ Das sind kleine Sachen, an die man gar nicht denkt. Man muss seine Wäsche machen. Man muss sich ums Essen kümmern. Man kann nicht nur Fast Food essen von der nächsten Ecke.

Und dann gab‘s noch die Herausforderungen, in einer neuen Liga zu spielen. Und es gab viel weniger Kultur in Freiburg. Das habe ich am meisten vermisst. Die Menschen waren supernett. Und es war viel schöner als Berlin, weil es sauber ist, nicht so dreckig. Berlin ist wirklich so räudig manchmal. Trotzdem vermisse ich einfach diese Straße. In Freiburg war alles perfekt, hatte man das Gefühl. Manche Leute sagen, die Leute aus Berlin sind frech oder ich weiß nicht, gemein. Aber ich denke, dass man sich nichts gefallen lässt und dass man einfach direkt ist. Viele Menschen sagen immer: „Oh, du bist viel zu direkt!“ Aber man muss direkt sein, sonst kriegt man nichts. Sonst redet man nur um den Brei und ich weiß ganz klipp und klar, was ich will oder was ich brauche.

— Johannes Zillhardt: Freiheit ist auf der Straße. Berliner Kindheiten. Transit-Verlag, 224 Seiten, gebunden, 24 Euro, ISBN 978-3- 88747-394-5. Foto: promo