Yuriko Koike hält sich die Handkante vor die Nase, dann krümmt sie die Zeigefinger und rahmt damit ihr Gesicht ein. Die meisten Anwesenden verstehen nicht, was die Gouverneurin von Tokio hier sagt, aber ihr Gegenüber weiß Bescheid. Maki Yamada, Japans schnellster gehörloser Sprinter, erwidert die Geste – in japanischer Gebärdensprache bedeutet sie „Hallo“. Dann greift Koike zum Mikrofon und erklärt: „In zwei Jahren starten die Deaflympics in Tokio! Bis dahin müssen wir noch viel schaffen. Und das hier ist ein sehr, sehr wichtiger Schritt!“ Die Rede ist vom „Miru Café“, in dem Mitarbeitende mit eingeschränktem Gehör arbeiten.

Dann erklärt eine vornehm gekleidete Moderatorin das Lokal für eröffnet: „Nun hat Tokio ein Café, in dem es kein Problem mehr ist, wenn man nicht hören kann. Wir wünschen Ihnen viel Spaß!“ Die Anwesenden mögen jetzt gern einen Kaffee bestellen. „Dass das Personal nicht hört, ist dabei kein Hindernis“, wird noch einmal erläutert. Das sei vielmehr das Konzept. An den Tischen des „Miru Cafés“ sind Spracherkennungssysteme installiert, die aus gesprochenen Wörtern geschriebene machen. So können Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit eingeschränktem Gehör die Bestellungen der Gäste verstehen.

Durch die Verfügbarkeit intelligenter Spracherkennungssoftware könnte sich das Café als Pionier herausstellen. Zwar kommt Japans Gastronomie längst auch ohne Servicekräfte aus, indem Kundinnen und Kunden ihre Bestellungen in vielen Cafés oder Restaurants einfach an einem Automaten im Eingangsbereich aufgeben und dann abholen.

Aber um Effizienz geht es hier kaum. Es geht auch nur beiläufig um eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Menschen mit schwachem Gehör.

Mehr Inklusion im öffentlichen Raum Tokios

„Das ,Miru Café´ soll ein Ort sein, der verschiedene Menschen zusammenbringt“, sagt Yuriko Koike, deren Tokioter Metropolregierung dieses Pilotprojekt zunächst für begrenzte Zeit finanziert.

Ikumi Kawatama, die als Vertreterin der philanthropischen Stiftung Nippon Foundation das Café mitkonzipiert hat und selbst gehörlos ist, führt aus: „Im Alltag kommt es vor, dass Menschen mich nach dem Weg fragen und sich sofort verunsichert abwenden, wenn sie merken, dass ich die Frage nicht hören konnte. Das ist schade.“ Das Café solle Menschen füreinander sensibilisieren.

Tatsächlich entwickelt sich Tokio gerade zu einer Metropole, die besonders auf Menschen ohne oder mit schwachem Gehör Rücksicht nimmt. An großen Tokioter U-Bahnstationen sind seit kurzem ähnliche Spracherkennungssysteme installiert wie im „Miru Café“. Gehörlose können hier einerseits ihre Wünsche und Fragen eintippen, andererseits die gesprochenen Antworten des Auskunftspersonals mit kurzer Verzögerung auf einem Bildschirm lesen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen sendet Programme zunehmend auch mit Gebärdensprachenübersetzung. Hintergrund dieser jüngsten Vorstöße sind die Deaflympics, die Mitte November 2025 in Tokio stattfinden. Das schon 1924 erstmals ausgetragene Sportereignis kommt dann zum ersten Mal nach Japan.

Vier Jahre nach den Olympischen und Paralympischen Sommerspielen – die pandemiebedingt von 2020 auf 2021 verschoben wurden – will die größte Metropole der Welt weiterführen, was sie für das Megasportevent „Tokyo 2020“ begonnen hatte: Tokio soll in Sachen Barrierefreiheit neue Maßstäbe setzen. Das Motto: „Tokyo Forward.“

Der Sprinter Maki Yamada, der bei den Deaflympics 2017 im türkischen Samsun Gold mit der 100-Meter-Staffel und über 200 Meter holte, hält Tokio schon jetzt für führend. „Im Vergleich zu anderen Städten bewegt man sich hier mittlerweile relativ gut. Es gibt auch ein paar andere Restaurants, wo entweder Personen ohne Gehör arbeiten oder sich gut zurechtfinden können.“

Da sei etwa das Restaurant „Sign With Me“, wo man essen, aber auch Gebärdensprachkurse besuchen könne. Auch bei Menya Yoshi, einem Geschäft für Ramennudeln, sei das Personal gehörlos.

Cafés und Restaurants ermöglichen Teilhabe

Um die Teilhabe möglichst vieler marginalisierter Gesellschaftsgruppen auszuweiten, haben sich neben barrierefreier Infrastruktur vor allem Cafés und Restaurants als besonders beliebte Konzepte etabliert.

Beim „Dawn Café“ arbeiten Rollstuhlfahrer, indem sie die Gäste durch ferngesteuerte Roboter bedienen. Vor einigen Monaten machte das Restaurant „Mistaken Orders“ weltweit Schlagzeilen. Dort wickeln Personen mit Demenz die Bestellungen ab, wobei es zum Charme des Etablissements gehört, dass die Servicekräfte womöglich etwas Falsches an den Tisch bringen.

Dass sich die japanische Hauptstadt in den vergangenen Jahren in Sachen Barrierefreiheit verbessert hat, hängt aber längst nicht nur mit den Deaflympics oder den Olympischen und Paralympischen Spielen zusammen.

Die Stadt – und mit ihr das ganze Land – erlebt eine Herausforderung, die über die kommenden Jahre und Jahrzehnte auch in anderen wohlhabenden Ländern immer deutlicher zutage treten wird: eine alternde Gesellschaft, durch die sich die Anforderungen an Service, Stadtplanung und diverse weitere Fragen des sozialen Lebens gehörig verändern.

In Japan sind fast 30 Prozent der Menschen 65 Jahre oder älter, zehn Prozent sogar mindestens 80 – Tendenz steigend. Ikumi Kawamata von der Nippon Foundation sagt: „Eine Einrichtung wie das ,Miru Café´ ist nicht nur nützlich für gehörlose Personen wie mich. In Zukunft werden immer mehr Menschen Probleme mit ihrem Gehör haben, selbst wenn es bessere Hörgeräte gibt.“

Kawamata, die sich beruflich für Barrierefreiheit einsetzt, hat das immer wieder beobachtet. Spezielle Vorkehrungen für eine bestimmte Gruppe entpuppen sich schnell als Verbesserung für viel mehr Menschen.

Inklusion ist noch immer ein langer Weg

Allerdings ist auch in Tokio noch längst nicht alles so gut, wie es sein sollte, sagt Airi Ikemori. Die 22-Jährige hat beim „Miru Café“ als Kellnerin in Teilzeit angefangen. Als sie eine Bestellung notiert hat, sagt sie: „Dieses System hier ist toll. Für mich ist es eine echte Erleichterung. Aber es müsste viel mehr passieren, auch nicht nur für gehörlose Personen.“

Airi Ikemori weiß, wovon sie spricht. Sie studiert in der nördlich von Tokio gelegenen Stadt Tsukuba Wohlfahrtswissenschaften mit Schwerpunkt auf Barrierefreiheit. „Toiletten und Warnsignale sind oft noch nicht inklusiv.“ Das müsse sich ändern.

Am „Miru Café“ schätzt Airi Ikemori auch eine weitere Möglichkeit der zugrunde liegenden Spracherkennungsapparate. „Dieses Ding versteht ja nicht nur Japanisch, sondern etliche Sprachen! Ich kann mich jetzt mit Kunden austauschen, die Englisch, Spanisch, Chinesisch, Deutsch oder andere Sprachen sprechen.“