Ein Mann mit Vollbart und Arbeitshose beugt sich zu Samuel Koch herunter. In der Hand hält er eine Wasserwaage, so, als wolle er Koch damit gleich eins überbraten. „Ey, du Pisser, mach den Platz frei! Es gibt Leute, die zur Arbeit müssen“, brüllt er. „Ich bin selbstständig!“ Die Ampel springt auf Rot und dann wieder auf Grün. Koch und seine elf Mitstreiter rühren sich nicht.

Es ist Mittwochmorgen, 8 Uhr. Auf der Pankower Promenade, einer vierspurigen Straße, die zur A 114 führt, stadteinwärts, kommt kein Auto mehr vor oder zurück.

Koch, 25, VWL-Student, Bankkaufmann, sitzt im Schneidersitz. Es hat geregnet, die Nässe von der Fahrbahn ist ins Hinterteil seiner hellen Jeans übergegangen. Vor ihm hupen Autos, tobt der Mann mit der Wasserwaage, meckern Menschen, die eine Verabredung mit Kunden haben, ihre Großmutter von einem Arzttermin abholen oder ihre Kinder bei der Kita abliefern müssen. Koch schaut durch alles hindurch.

Das hat er in einem Vorbereitungstraining gelernt: sich jetzt einfach darauf zu konzentrieren, warum er das hier gerade tut. Warum er Menschen daran hindert, ihren Morgen so zu verbringen, wie sie es geplant hatten. Dass er das alles macht, weil Großmütter, Kinder und Kundenmeetings bedeutungslos sind gegenüber dem, was die Menschheit ereilt, wenn das Klima kollabiert: Überschwemmungen, Hungersnöte und in der Folge Millionen von Flüchtlingen.

Koch und seine Mitstreiter nennen sich „Die letzte Generation“ – weil sie der Meinung sind, die Letzten zu sein, die die Klimakatastrophe noch abwenden können. Seit vergangener Woche blockieren sie Straßen in Berlin, nun wollen sie ihren Protest auf die gesamte Republik ausweiten. Das Ziel ist eine Art Erpressung: Die Bundesregierung soll schnell weitere Klimaschutzmaßnahmen beschließen, wenn sie freie Straßen will.

Einige der Teilnehmer waren bereits beim Hungerstreik im Regierungsviertel dabei. Dabei versuchten einige Aktivisten im Vorfeld der letzten Bundestagswahl, durch Nahrungsverweigerung die Kanzlerkandidaten vor der Wahl zu einem gemeinsamen Gespräch über die Klimakrise zu zwingen. Als sie schließlich sogar das Trinken einstellten, stimmte Olaf Scholz einem Treffen zu.

Bei dem Gespräch im November forderte die Gruppe dann unter anderem, dass Supermärkte gesetzlich dazu verpflichtet werden sollen, Essen, das zwar schon abgelaufen ist, aber noch genießbar, zu spenden. Falls Scholz nicht darauf eingehe, würden sie „die Bundesrepublik zum Stillstand bringen“, lautete ihre Ansage. Scholz ging nicht darauf ein. Also machen die Aktivisten jetzt ihre Drohung wahr. Aufhören wollen sie erst, wenn ein Essen-retten-Gesetz erlassen wird. Oder sie verhaftet und verurteilt werden.

Aber wie radikal darf Kilmaprotest eigentlich sein? Wie radikal muss er angesichts einer drohenden globalen Katastrophe vielleicht sogar sein? Der Aktivist Tadzio Müller von der Gruppe „Ende Gelände“ etwa beschwor unlängst schon eine „grüne RAF“ herauf – oder zumindest „Sabotage for Future“. So weit geht die „Letzte Generation“ nicht. Dennoch provoziert die Gruppe mit ihren Blockaden die Frage, warum sie gerade den Alltag derer stört, die sie retten will.

Als an diesem Mittwochmorgen Polizeisirenen zu hören sind, packt Koch eine Tube Sekundenkleber aus, bestreicht damit eine seiner Handflächen und drückt sie auf die Fahrbahn. Einarmig angelt er sich eine Rettungsdecke aus seinem Rucksack, die er um die fixierte Hand legt. Das mitgebrachte Wärmekissen spart er sich noch auf.

Ob die Blockaden wirklich die gewünschte Aufmerksamkeit bringen, ist fraglich. Ein Stau in Berlin ist ja erst mal nichts Außergewöhnliches. Einige Nachrichtenseiten berichten auf ihren Websites nüchtern über die Störungen, für andere sind sie dagegen nicht mal eine Meldung wert.

Dabei muss man ziemlich verzweifelt sein, um mitten im Winter seine Hand auf eine Asphaltstraße zu kleben. Man muss es mit seiner Sache ernst meinen, damit man bereit ist, dafür Bußgeld und Anzeigen zu kassieren, sich von der Polizei wegtragen zu lassen und schlimmstenfalls ins Gefängnis zu gehen. Und man muss die Folgen der Klimakrise ausgesprochen fürchten, um nach Berlin zu fahren und sich da mit Wildfremden zu verbünden, mit denen einen nur verbindet, dass man vor den gleichen Zukunftsszenarien Angst hat.

Da ist zum Beispiel Sibylle Eimermann-Gentil, 55, rot gefärbte Haare, gestrickte Pulswärmer. Sie hat für die Aktionen ihr Einfamilienhaus im Nordschwarzwald verlassen. Ihren Mann, ihre Ziegen, ihre Hühner, ihre Tochter. Und ihre Enkel. Letztere sind der Grund, warum sie an diesem Tag hier ist.

Koch und Eimermann-Gentil teilen sich eine Unterkunft. Bevor sie in der vergangenen Woche angereist sind, haben sie sich zwei Mal über Zoom gesehen. Kennen tun sie einander immer noch nicht wirklich. Mit ihnen sind vier weitere Aktivisten in der Drei-Zimmer-Wohnung im Süden von Berlin untergebracht: Zwei sind Rentner, eine ist Tierärztin und ein anderer Doktorand. Jeweils zwei teilen sich ein Zimmer, manche sogar ein Doppelbett.

An der Wand hängen ein Foto der Skyline von Berlin und ein Kalender mit den Events der Aktivistengruppe: Motivationsrede am Sonntag, Klebetraining am Dienstag. Blockaden am Montag, am Mittwoch, am Freitag. Dazwischen ist Zeit zum Ausruhen eingeplant.

Wie viele Personen bei der Bewegung mitmachen, kann niemand genau sagen. Nicht jede Info wird an alle Teilnehmer weitergegeben, aus Angst, in ihrem Kreis könnten sich eingeschleuste V-Leute befinden. In der vergangenen Woche saßen etwa 30 Menschen auf der Straße, viele weitere sollen im Hintergrund agieren, an der Strategie feilen und Vorträge organisieren.

Koch stieß auf die Gruppe, als er sich in Köln eine Rede von Henning Jeschke anhörte. Jeschke ist so etwas wie der Hungerstreik-Ultra, der Aktivisten-Guru. Er aß bei der Aktion vor der Bundestagswahl 27 Tage lang nichts, war einer der beiden, die sogar zu trinken aufhörten.

Koch sagt, Jeschke habe ihm geholfen, sich emotional mit den Folgen der Klimakrise zu verbinden. Nur so könne man die Aktionen durchziehen und sein privates Leben komplett in den Dienst des Klimaschutzes stellen.

Eimermann-Gentil hat die Folgen der Klimakrise ständig vor der Nase. Sie ist Ernährungswissenschaftlerin, arbeitet im Naturschutz. Besonders das Artensterben mache ihr Angst. „Nicht, weil es dann keine schöne Auswahl von bunten Schmetterlingen mehr gibt, sondern weil wir Menschen auf funktionierende Ökosysteme angewiesen sind.“

Als Eimermann-Gentil sich zum ersten Mal auf die Straße setzt, am Montag vergangener Woche, zittern ihre Beine. Die Polizei ist da, bevor die Gruppe überhaupt mit ihrer Aktion loslegen kann. An der Kreuzung müssen wegen Bauarbeiten die Ampeln ausgestellt werden. Die Beamten regeln den Verkehr. Der Trupp berät sich kurz, entscheidet, trotzdem am Plan festzuhalten.

Ein bisschen verunsichert schlurfen die Aktivisten in ihren orangefarbenen Warnwesten, mit ihren großen Rucksäcken und dreckigen Wanderschuhen auf die Kreuzung. Als sie die Banner mit der Aufschrift „Essen retten – Leben retten“ ausrollen, dreht sich ein Polizist verdattert um und fragt: „Was macht ihr da? Könnt ihr bitte von der Straße gehen?“

Als die Gruppe keine Anstalten macht, zu verschwinden, fackeln die Polizisten nicht lange und packen die Aktivisten unter den Armen. Eimermann-Gentil lässt die Gliedmaßen schwer werden, so hat sie es im Training gelernt. Sie wird sich nicht wehren, aber auch nicht beim Wegtragen kooperieren. Die Beamten müssen sie über die Straße auf den Bürgersteig schleifen.

„Für mich war das eine wahnsinnige Überwindung“, sagt Eimermann-Gentil später, „zu wissen, dass ich da eine gesellschaftlich vereinbarte Regel übertrete.“ Das passe überhaupt nicht zu ihren sonstigen Überzeugungen, sie sei nämlich eigentlich sehr regelhörig und überzeugt davon, dass man die für ein geordnetes Miteinander Verbote braucht. „Aber es geht nicht anders, unser Haus brennt und wir müssen laut nach Hilfe schreien.“

Die Aktivisten sind nicht die Ersten, die mit radikalen Protestformen auf die Klimakrise aufmerksam machen. Die Gruppe „Extinction Rebellion“, kurz XR, hat schon in verschiedenen Großstädten weltweit den Verkehr durch Ankleben, Festketten und Sitzstreiks lahmgelegt. Ihr Gründer, der Brite Roger Hallam, wurde 2019 festgenommen, nachdem er angekündigt hatte, mit Drohnen den Betrieb am Londonder Flughafen Heathrow zum Erliegen bringen zu wollen.

Am Mittwoch in Pankow sind die Verkehrsbeeinträchtigungen schon massiver. Samuel Koch klebt immer noch auf der Straße. Es ist mittlerweile 9 Uhr. Der Mann mit der Wasserwaage sitzt wieder in seinem Auto. Durch das Fenster fragt er: „Wieso kommen die zu uns? Lassen die Schwächsten leiden? Warum nicht eine Straße im Regierungsviertel?“

Ein Mann, der augenscheinlich zur Gruppe gehört und sich als „Psychosupport“ vorstellt – als seelischer Unterstützer –, verteilt Kaffee an die wartenden Autofahrer. Von vier Bechern wird er aber nur drei los. Die meisten wollen keine milde Gabe von den Störern.

Mit dem Wasserwaagen-Mann, berichtet der Psychosupporter, habe er ein „wirklich schönes Gespräch“ gehabt. Dass der Protest hier in Pankow-Heinersdorf vielleicht genau die falsche Bevölkerungsschicht treffe, habe ihm zu denken gegeben, sagt er.

Koch hat mittlerweile das Wärmekissen benutzt. Die technischen Einsatzkräfte der Polizei sind eingetroffen. Vier Beamte knien um ihn herum und versuchen, mit Olivenöl und Nagellackentferner den Klebstoff zu lösen. Sie nutzen kleine Pinsel dafür, mit denen sie Kochs knallrote Finger bestreichen. Dabei breitet sich eine Öl-Nagellack-Pfütze aus und durchweicht Kochs Hose. „Oh Gott“, stöhnt eine danebenstehende Polizistin ihre Kollegen an und schüttelt den Kopf.

Carla Rochel hat ebenfalls ihre Hand auf den Asphalt geklebt. Sie trägt eine Pudelmütze, einen orangefarbenen Parka und wird als Letzte vom Boden gelöst – und ist dann auch noch eine der wenigen, die danach in die Gesa, die Gefangenensammelstelle am Tempelhofer Damm, kommen.

Rochel, 19, Dresdnerin, studiert in Heidelberg Politik und Psychologie. In ihrer Schulzeit, erzählt sie, habe sie jeden Montag gegen Pegida demonstriert, sei dafür anderthalb Stunden mit dem Rad zu den Kundgebungen gefahren. Als die ersten Fridays-for-Future-Demos organisiert wurden, schwänzte sie jeden Freitag die Schule und diskutierte danach mit den Lehrern über unentschuldigte Fehlstunden. „Das war sozusagen der erste kleine zivile Ungehorsam, den ich geleistet habe“, sagt sie.

Nachdem im November 2019 das Klimapaket verabschiedet wurde – mit dem Gesetz wurden Deutschlands Klimaschutzziele erstmals gesetzlich normiert und Rochel war am Tag zuvor zum großen Klimastreik nach Berlin gefahren –, sei sie frustriert gewesen. „Da habe ich gemerkt, dass Politiker:innen sich von Demos nicht besonders beeindrucken lassen.“

In Heidelberg informiert sie sich über Möglichkeiten des zivilen Ungehorsams und stößt auf die „Letzte Generation“. Sie spricht ihre Pläne mit ihren Eltern durch. Die sind skeptisch, erst mal sogar schockiert von dem, was Rochel da vorhat. Aber sie diskutiert so lange, bis die Eltern einlenken. Am Abend vor der ersten Aktion schicken sie noch eine Nachricht, wünschen ihr viel Erfolg, Kraft und Ruhe. Nachdem Rochel ihre Hand auf die Fahrbahn geklebt hat, fragen die Eltern, ob sie alles unbeschadet überstanden oder ob sie die ganze Straße mitgenommen habe. Rochel muss lachen, kann sie beruhigen, ihre Handflächen sind unversehrt.

Kurz nach ihrem ersten Gesa-Aufenthalt, der nur wenige Stunden dauert, sitzt Rochel am Mittwochnachmittag wieder auf der Straße. Dieses Mal auf der Zufahrtstraße zur A 103 in Steglitz. An diesem Abend lassen die Beamten sie einfach gehen. Dabei sitzt sie in der Nähe, als bei einer weiteren Blockade eine Gruppe Aktivisten nicht mal aufsteht, als von Weitem ein Martinshorn zu hören ist.

Doch als Rochel sich am Freitag festklebt, muss sie die Nacht in einer Zelle der Gesa verbringen. Brote mit Gouda und eine Holzbank gebe es da, erzählt sie. Rochel ist mit einem Wanderrucksack nach Berlin gekommen – und fest entschlossen, zu bleiben, bis die Regierung auf ihre Forderungen eingeht. Vielleicht fliegt sie aus ihrem Studiengang, weil sie gerade Prüfungen verpasst. Aber das ist nicht so wichtig, findet sie.

Auch Koch ist auf unbestimmte Zeit hier. Seine Chefin im Unverpacktladen in Köln hat ihn freigestellt. Sie finde gut, was er macht. Eimermann-Gentil ist dagegen schon wieder im Schwarzwald. Sie musste zurück, ihren Mann auf dem Hof unterstützen, sagt sie. Von zu Hause schickt sie eine SMS: „Ich bin momentan physisch und psychisch erschöpft, würde aber nach Erholung weitermachen.“

Ungehorsam. Klimaaktivisten der Gruppe Die letzte Generation bei einer Straßenblockade Ende Januar in Berlin-Steglitz. Erreicht ihr Protest die Richtigen? Foto: Rafael Heygster