Für die politische Theorie gilt es, dieses Jahr ein großes Jubiläum zu feiern. John Rawls wäre am 21. Februar 100 Jahre alt geworden (er starb 2002). Zugleich jährt sich das Erscheinen seines Hauptwerkes „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ zum 50. Mal. Ein doppelter Grund, sich der Aktualität dieses Philosophen zu versichern. Der US-Amerikaner wird heute allgemein als der bedeutendste politische Philosoph des 20. Jahrhunderts angesehen. Rawls war persönlich eine durch und durch akademische Figur, sein Stil sachlich, ohne glanzvolle Rhetorik, eher bedächtig, immer bescheiden. Sein ganzes Leben lang laborierte er an einer einzigen Theorie, die er immer wieder neu zu fassen und zu aktualisieren suchte. Dabei scheint er altbekannte Gedanken klassischer Philosoph*innen, insbesondere von Kant, zu reformieren. Und doch oder gerade deswegen ging von ihm eine enorme Wirkung aus. Welche, und warum?

Die wichtigste ist wohl, dass es ihm gelang, den politischen Liberalismus für das 20. Jahrhundert zu reaktualisieren. Sein systematisches Hauptinteresse galt der Begründung eines realistischen Ideals der Beziehungen zwischen freien und gleichen Bürgern in einer gerechten und stabilen Gesellschaft. Für eine moderne demokratische Gesellschaft müssen die unterschiedlichen Auffassungen des guten Lebens akzeptiert werden. Denn für die tiefgreifende Uneinigkeit über grundlegende Wertvorstellungen in unseren heutigen Gesellschaften gibt es gute Gründe. Dennoch müssen die Grundsätze des Zusammenlebens unter freien und gleichen Bürgern zustimmungsfähig sein. Denn nur eine Gerechtigkeitskonzeption, die mit einem breiten Spektrum von Weltanschauungen und Konzeptionen des guten Lebens vereinbar ist, kann gerechtfertigt sein und hinreichende moralische Loyalität erzeugen. Eine solche aus Vernunftgründen anzustrebende politische Gerechtigkeitskonzeption kann daher nur auf der Schnittmenge eines „übergreifenden Konsenses“ aufbauen.

Rawls’ Ziel ist es also, allgemein geteilte Prinzipien, die die Gesellschaft als ein faires System der Kooperation regeln, aufzufinden und zu klären, wie das Ideal einer „wohlgeordneten Gesellschaft“ als „realistische Utopie“ verwirklicht werden kann. Dabei ist Rawls zufolge eine Idealisierung nötig: Die Theorie wird weder für Heilige oder Altruisten noch für Sünder oder bloße Egoisten entwickelt, sondern für das, was Menschen nach ihren besten Möglichkeiten unter entgegenkommenden Lebensverhältnissen sein können und wollen. Rawls schlägt eine absichtlich anspruchslose Begründungsmethode vor, nach der konkrete moralische Intuitionen bezüglich Einzelfällen und allgemeine Prinzipien in ein „Überlegungsgleichgewicht“ gebracht werden sollen. Unabhängig von Rawls’ spezifischer Gerechtigkeitstheorie ist dies das heute in der anglo-europäischen Welt akzeptierteste Verfahren zur Begründung von Normen geworden. Das alleine ist schon eine enorme Wirkung.

Normen sind nur akzeptabel, wenn sie unparteilich begründet sind. Berühmt geworden ist Rawls’ Operationalisierung dieser Unparteilichkeit. Er schlägt dazu das Gedankenexperiment einer fiktiven einmütigen Prinzipienwahl im „Urzustand“ hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ vor. Bei der Wahl der besten Grundordnung für ihre Gesellschaft dürfen die Individuen aus Fairnessgründen nicht wissen, welche Position sie später einnehmen werden, welche Interessen, Anlagen, Fähigkeiten sie haben werden und welche die näheren Umstände der betreffenden Gesellschaft sein werden. Der Schleier verdeckt Informationen, die zu einer parteiischen Wahl führen könnten.

Mithilfe dieser Argumentationsfigur begründet Rawls ausführlich, dass man sich im Urzustand auf zwei Grundsätze der Gerechtigkeit einigen wird. Da ist zum Ersten ein „System von Grundfreiheiten“ vorrangig zu gewährleisten. Hier schlägt sich der klassische Liberalismus nieder. Der modernere Egalitarismus zeigt sich zweitens in den beiden anderen Prinzipien, dem Prinzip der fairen Chancengleichheit und dem berühmten Differenzprinzip. Nach dem Differenzprinzip sind Ungleichheiten im Einkommen zwischen Bürger*innen zulässig, wenn sie sich zum größtmöglichen Vorteil für die am wenigsten begünstigten Gesellschaftsmitglieder auswirken.

Die Begründung dafür ist grob folgende: In einem Zustand, in dem sich Ungleichheiten zu jedermanns Vorteil auswirken, kann jeder nur dazugewinnen und keiner verlieren. Eine solche Win-win-Situation ist einem Zustand vorzuziehen, in dem zwar Gleichheit an Wohlstand herrscht, in dem aber weniger Wohlstand für jeden Einzelnen erreicht wird als in einer Situation der Ungleichheit, in der jeder an Wohlstand dazugewinnt. In der Realität lässt sich das wohl nur mittels eines umverteilenden Sozialstaats mit starkem sozialen Netz umsetzen, dachten viele.

Aber Rawls will das (liberal-)sozialistischer verstanden wissen: Die schlechtestgestellte Gruppe kann ihr Veto einlegen, wenn ihre Interessen übergangen zu werden drohen. Die Grundstruktur einer Gesellschaft, mittels derer sie ihre Grundgüter hervorbringt und verteilt, soll von vornherein so eingerichtet werden, dass möglichst wenig ungerechtfertigte Ungleichheiten entstehen. So favorisiert Rawls eine „Demokratie mit Privateigentum“, in der Eigentum und Kontrolle weit gestreut sind. Ein System der Kooperation muss für Rawls die Zufälligkeiten, die das Leben der Bürger zum Guten oder Schlechten verändern – etwa die Klasse ihrer Herkunft oder ihre angeborenen Begabungen –, so weit wie möglich ausgleichen.

Damit hat er in seiner Theorie den politischen Liberalismus mit dem sozialen Egalitarismus zusammengeführt. Mit Hegel könnte man sagen, Rawls hat damit seine Zeit in Gedanken gefasst. Im Gegensatz zu Hobbes, Locke, Kant u. a. liegt die zentrale normative Aufgabe einer heutigen politischen Theorie nach Rawls in der sicheren Regelung nicht nur von Koexistenz und Freiheit. Gleichermaßen kommt es auch wesentlich auf die sozial gerechte Produktion und Verteilung ökonomischer Güter und sozialer Chancen an. Das Interessante ist nun, dass es durch Rawls’ Einfluss in der anglo-europäischen Welt dazu kam, dass das liberal-egalitäre Denken im Sinne des Individualismus, der Gerechtigkeit, der Freiheit und Gleichheit gegen den Marxismus und den (Post-)Strukturalismus zum dominanten Paradigma der politischen Philosophie wurde. Wer politische Philosophie – selbst in der nicht-westlichen Welt – heute betreibt, kann mit ihm oder gegen ihn, in der Regel aber nicht ohne ihn denken. In den letzten Jahren sind jedoch zwei gegenläufige Entwicklungen des Rawls’schen Paradigmas zu beobachten.

So gibt es einerseits interessante Weiterentwicklungen des Liberalismus à la Rawls. Angefangen bei einer zunächst rein innerstaatlichen Gesellschaft ist das Theorieprogramm zur internationalen oder transnationalen Ebene übergegangen. Rawls vertritt ein von Kant inspiriertes Recht der Völker mit gerechten Prinzipien der Außenpolitik für eine liberale konstitutionelle Demokratie. Nach dem Ende des Kalten Krieges galt das vielen als zu wenig. Hoffnungen auf eine gerechte transationale Weltordnung haben auch entsprechende Theorien von Rawls’ Schüler*innen angeregt. Heute hingegen wird die Frage nach Gerechtigkeit jenseits der Staaten wieder vorsichtiger angegangen, um nicht bloß eine moralisch anspruchsvolle normative Utopie zu entwickeln; womit Rawls’ eigene internationale Theorie rehabilitiert scheint.

Während es lange um den Stellenwert der Gleichheit ging, drängen sich jetzt Fragen nach der Freiheit und der Demokratie in den Vordergrund. Auch das ist sicher der weltweit zunehmenden Anfechtung des Liberalismus geschuldet (z. B. durch den Populismus und autoritäre Regime). Der Liberalismus steht nicht mehr als das eindrucksvolle Gedankengebäude neben dem sozialistischen Trümmerfeld, als das er 1989 erschien. Der Liberalismus à la Rawls darf nicht nur, wie beim Erscheinen der „Theorie der Gerechtigkeit“ von vielen angenommen, nachholend für den demokratischen Wohlfahrtsstaat in seiner Blüte eine philosophische Rechtfertigung geben. Rawls’ Spätwerk „Gerechtigkeit als Fairness“ zeigt allerdings, dass er viel radikaler und systemkritischer dem Kapitalismus gegenüber eingestellt ist. Politische Philosophie sollte sich mit der Frage beschäftigen, wie Strukturen und Institutionen besser, gerechter und – was bei Rawls nur mitspielt – demokratischer gemacht werden können. In der jetzigen Zeit rücken andere Themen in den Vordergrund, wie die Krise der Demokratie, Rassismus oder die Ungleichberücksichtigung von Frauen und Minderheiten, der Umgang mit antiliberalen Strömungen und Regimen, der Klimawandel, die Migration oder die Pandemie.

Anderseits ist auch ein Ermüden des Rawls’schen Paradigmas festzustellen. Das hat vier Gründe: Zum einen wird der Liberalismus nicht nur politisch, sondern auch theoretisch angefochten. Er gilt Kritiker*innen als zu westlich, zu konsensuell, zu scheinheilig. Die Interessen der Unterdrückten, Ausgeschlossenen und Benachteiligten würden immer noch nicht genug berücksichtigt. Die Theorie sei zu idealistisch, weil sie nach grundlegenden Gerechtigkeitsprinzipien suche. Es bedürfe eines politischen Realismus, der sich mit den entscheidenden Machtfragen beschäftige.

Zum Zweiten ist Rawls inzwischen zum Klassiker aufgestiegen. Er wird damit ins Archiv gerückt, sodass er als Denker einer goldenen Ära des wachsenden Wohlstands Staub ansetzt und entsprechend philosophiehistorisch beforscht werden kann. Zum dritten scheinen jüngere politische Theoretiker*innen nur die Chance zu sehen, Detailfragen in einem gut etablierten Paradigma erforschen zu können. Originelle Perspektiven scheinen ihnen innerhalb dieses Paradigmas nicht mehr möglich. Deshalb wenden sie sich neuen Themen und anderen methodischen Ansätzen zu: wieder der Sozialphilosophie, der Kritischen Theorie oder Hannah Arendt.

Politische Philosophie und Theorie muss sich zudem viertens methodisch erweitern. Sie muss endlich wirklich global werden, indem sie die Perspektiven aller politischen Theorien weltweit ins Gespräch bringt, um zur Lösung globaler Probleme zu gelangen. Ferner muss sie stärker empirisch fundierte Analysen und Theorien verarbeiten. Dafür braucht die politische Philosophie die Unterstützung von anderen Fächern, allen voran der Soziologie und Politologie, wie Rawls das in seinem Werk schon vorgemacht hat und wie es neuerdings in großen Forschungsclustern ja praktiziert wird. Gerade wegen seiner enormen Bedeutung und Anschlussfähigkeit kann Rawls’ politische Philosophie gut zu einer neu ausgerichteten globalen und politisch relevanten Philosophie beitragen. Das sind wir seinem Erbe schuldig.

Stefan Gosepath, 1959 in Mainz geboren, ist Professor für Praktische Philosophie an der FU Berlin und Co-Direktor der Kolleg-Forschergruppe „Justitia Amplificata“.