Wie kräftig schlägt das Herz des Bundesgesundheitsministers für die Cannabis-Legalisierung? Eine Frage, die sich mit Blick auf den Vorstoß Karl Lauterbachs (SPD) im vergangenen Herbst leicht beantworten ließe: Sehr stark, so detailliert wie die Eckpunkte ausgearbeitet waren, so engagiert, wie sie aus dem Weg zu räumende Hürden benannten.

Das ist eine Interpretation; die andere lautet: Ist das Vorhaben vielleicht auch deshalb so komplex und berührt damit so viele Rechtsbereiche, damit es scheitert, und zwar am Stopp-Schild der EU-Kommission? Die plötzliche Wandlung vom Legalisierungsgegner zum Befürworter nehmen Lauterbach nämlich viele Abgeordnete in der Ampel nach wie vor nicht ab.

In den Blick rückt bei einigen von ihnen damit zunehmend ein alternativer Weg zur Legalisierung. Ein Plan B, der griffe, wenn das von Lauterbach als „große Lösung“ bezeichnete Gesetzesvorhaben scheitert.

In Brüssel wartet man auf einen Gesetzentwurf

Los ging es mit den Unsicherheiten schon im Oktober, als Lauterbach seine Eckpunkte vorstellte. „Wenn eine Vorabprüfung klar ergeben würde“, sagte er damals, „dass ein solcher Weg für die EU-Kommission nicht gangbar ist, dann würden wir auf Grundlage dieser Eckpunkte auch keinen Gesetzentwurf entwickeln.“ Von vielen Zuhörern wurde das als klare Wenn-Dann-Bedingung verstanden: Senkt Brüssel den Daumen, ist die Cannabis-Legalisierung in dieser Legislatur vom Tisch.

Aber es gibt eben auch eine aus Sicht der Legalisierungsbefürworter optimistischere Lesart. Wenn die Kommission Bedenken signalisiere, dann wären die aktuellen Gesetzesvorschläge zwar Geschichte. Unmittelbar anschließen aber würde sich ein neues Verfahren, mit dem weiterhin sichergestellt werde, dass am 1. Januar 2024 das erste legale Cannabis verkauft wird.

Die Frage, was genau Lauterbach seinerzeit meinte und ob er nach einer Ablehnung aus Brüssel bereit wäre, an einem neuen Gesetz zu arbeiten – die bleibt beim Ministerium unbeantwortet.

Derzeit arbeitet man dort an einem Gesetzentwurf, der schließlich zur Prüfung nach Brüssel geht. Ergänzt werden soll das mit einem Gutachten, das darlegt, warum die geplante Legalisierung den Schwarzmarkt zurückdrängen und den Konsum sicherer machen kann, ohne ihn auszuweiten.

Seit Vorstellung der Eckpunkte betont Brüssel stoisch, dass es sich zu Eckpunktepapieren einzelner Staaten nicht äußere, so auch nicht zu jenem Lauterbachs. Man warte auf einen Regierungsentwurf aus Berlin, der dann in ein Notifizierungsverfahren münden würde, sofern die Bundesrepublik das beantrage. Dass er das tun werde, daran lässt Lauterbach keinerlei Zweifel. Was bei negativen Signalen aus Brüssel folgen wird, daran sehr wohl.

Peter Homberg ist sicher, dass es auf einen Plan B hinauslaufen muss, „denn Plan A hat sehr schlechte Chancen auf Umsetzung“. Homberg ist Jurist und leitet im Berliner Büro der Wirtschaftskanzlei Dentons den Bereich „Life Sciences“ sowie die Europäische Cannabisgruppe des Unternehmens.

Experten halten Legalisierung für machbar

Prinzipiell, legte Homberg bereits im September in einem Gutachten für den Medizinalcannabis-Hersteller Demecandar, sei eine Legalisierung in Deutschland machbar. Allerdings, so die wichtige Einschränkung, wäre unter den „aktuellen völkerrechtlichen Bedingungen ein grenzüberschreitender Handel mit THC-haltigem Cannabis zu Genusszwecken ohne erhebliche Verletzung des geltenden Völkerrechts nicht durchführbar“.

Konkret geht es dabei, erklärt Homberg, um drei UN-Übereinkommen, von denen jenes aus dem Jahr 1988 das relevanteste sei: In ihm wird der unerlaubte Verkehr mit Suchtstoffen, also auch Cannabis, verboten. Dem Vertrag ist nicht nur die Bundesrepublik beigetreten, sondern auch die EU-Kommission. Zudem sei die UN-Konvention auch innerhalb des Schengen-Vertrags verankert.

Allerdings, betont Homberg, gebe es zwei gewichtige Ausnahmen im UN-Verbot. Dieses erlaubt zum einen das Inverkehrbringen von Cannabis zu medizinischen Zwecken – auf dieser Grundlage wurde 2017 in Deutschland Medizinalcannabis legalisiert.

Zweiter Ausnahmetatbestand im UN-Übereinkommen: Das Inverkehrbringen von Cannabis zu wissenschaftlichen Zwecken. Darunter würden auch Pilotprojekte fallen, bei denen der legalisierte Anbau, Verkauf und Handel mit Cannabis wissenschaftlich begleitet wird.

Und genau ein solches bundesweites Modellprojekt wäre, wenn es mit einer klaren wissenschaftlichen Fragestellung hinterlegt und begleitet würde, auch im Rahmen des Völker- und EU-Rechts möglich, sagt Homberg.

Würde sich dabei die These der Bundesregierung – dass ein legaler Vertrieb unter staatlicher Aufsicht den Jugendschutz stärkt, den Konsum sicherer macht und den Schwarzmarkt austrocknet – bestätigen, wäre dies dann auch eine argumentative Grundlage, international auf eine Änderung der völkerrechtlichen Abkommen hinzuarbeiten, die bislang das Inverkehrbringen von Cannabis verbieten.

Grüne und FDP verweisen auf Koalitionsvertrag

Auch wenn Minister Lauterbach über diesen denkbaren Plan B bislang kein Wort verliert – innerhalb der Ampelfraktionen wird damit schon längst geliebäugelt. Nicht zuletzt in der SPD.

Schließlich hatten sich die Drogenpolitiker der Fraktion, lange bevor Lauterbach durch den Koalitionsvertrag auf Legalisierungskurs gezwungen wurde, schon in der vergangenen Legislaturperiode zu Modellprojekten bekannt.

Dirk Heidenblut, drogenpolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Bundestag, erklärt auf Anfrage, dass zunächst erst einmal alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssten, um grünes Licht aus Brüssel zu bekommen. „Das erwarte ich vor allen Dingen vom Gesundheitsminister“, sagt Heidenblut. Sollte er aber scheitern, so Heidenblut weiter, „müssen wir das machen, was möglich ist.“

Unter dieser Prämisse sei „ein wissenschaftlich ausgerichtetes Modellprojekt für Deutschland eine Variante, soweit dieses mit unumkehrbarer Entkriminalisierung verbunden ist“, sagt Heidenblut. Unverzichtbar wäre bei solchen Modellprojekten, aus Sicht der SPD-Drogenpolitiker, die Einrichtung von Social Clubs, in denen Menschen sich zum Eigenanbau zusammenschlössen, nach portugiesischem Vorbild.

Bei Grünen und FDP will man über Plan B derzeit nicht reden. Vor allem deswegen, weil bei vielen in der Fraktion – wie aber auch in der SPD – das Zutrauen in den Minister fehlt, überhaupt nur für Plan A engagiert zu kämpfen. Kristine Lütke, drogenpolitische Sprecherin der FDP, ermahnt Lauterbach, dass „Untätigkeit keine Option“ sei, es durch den Koalitionsvertrag „einen klaren Handlungsauftrag“ gebe. „Ich erwarte, dass er diesen jetzt erfüllt.“

Auch Lütkes Grünen-Kollegin Kirsten Kappert-Gonther verweist auf den Koalitionsvertrag, der nun umzusetzen sei. „Wir sollten die kontrollierte Freigabe vorantreiben und es muss zeitnah ein Gesetzentwurf vorgelegt werden.“ Für „vorauseilenden Gehorsam“ gegenüber Brüssel gebe es keinen Anlass.

Gespannt blicken die Drogenpolitiker und Liberalisierungsbefürworter aller Fraktionen auf den am morgigen Mittwoch stattfindenden Gesundheitsausschuss im Bundestag: Dort wird das Ministerium einen Sachstandsbericht zur Legalisierung vorlegen, nachdem von dort lange nichts mehr zu hören war.

Cannabis-Branche erwartet mehr Planungssicherheit

Genau hinhören dürften dabei auch die Vertreter der Cannabis-Industrie in Deutschland, die mit der Legalisierung von Medizinalcannabis zwar aufblühte, aber immer noch ein zartes Pflänzchen ist – mit starken Wachstumspotenzial, kommt es zur kompletten Legalisierung.

Für den Mitbegründer des Medizinalcannabisproduzenten Demecan, Cornelius Maurer, ist es nachrangig, ob die Legalisierung nun in der in den Eckpunkten umrissenen Form kommt oder in einer anderen Variante – man brauche vor allem Planungssicherheit.

Um den in Deutschland entstehenden Bedarf – der nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 400 und 800 Tonnen pro Jahr angesetzt wird – zu decken, müsse seitens der Unternehmen rechtzeitig mit den Vorbereitungen begonnen werden, um bestenfalls schon im Januar 2024 genügend Genusscannabis produzieren zu können.

Die Branche warte nun nicht nur auf ein Gesetz, sondern auch auf klare Zeichen aus der Politik, wie der legale Cannabismarkt reguliert werden soll, sagt Maurer. Denn nur so ließe sich für Marktteilnehmer abschätzen, welcher Bedarf entsteht, welche Kapazitäten aufgebaut werden müssten.

„Pro Tonne Jahresproduktion“, nennt Maurer eine Faustformel, „muss man von1,5 Millionen Euro Anfangsinvestition ausgehen.“ Bei einem Bedarf von bis zu 800 Tonnen wäre dies mehr als eine Milliarde Euro.

Die Geduld der Industrie dürfte noch etwas strapaziert werden. Nach aktueller Zeitplanung des Ministeriums soll das Cannabisgesetz in der zweiten Jahreshälfte 2023kommen – was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass ein Notifizierungsverfahren bei der Kommission mindestens drei Monate dauert, leicht aber auch ein halbes Jahr und mehr in Anspruch nehmen kann.

Sollte am Ende des Verfahrens ein Nein aus Brüssel stehen und müsste Lauterbach dann ein neues Verfahren zur Legalisierung einleiten – dann könnte es angesichts der bisherigen Zeitschiene eng werden, dieses noch in der 2025 endenden Legislaturperiode über die Bühne zu bringen. Gleichzeitig ist die Garantie, dass es nach der „Fortschrittskoalition“ erneut eine Regierung gibt, in der die Legalisierung mehrheitsfähig ist, nicht gegeben.

Lauterbach muss deswegen liefern, drängen die Legalisierungsstreiter in der Ampel. Denn über eines machen sie sich vor allem bei FDP und Grünen keine Illusionen: Dass die legalisierungsbefürwortenden Cannabiskonsumenten unter ihren Wählern auch nur ansatzweise bereit sind, sich bei diesem für sie so zentralen Thema bei der kommenden Wahl locker zu machen.