Dem Kunden vor ihrer Kasse hängt die Maske unter dem Kinn. Sie bittet ihn höflich, den Mundnasenschutz zu tragen. Der Supermarkt ist voll, sie sitzt in einer mittleren Kasse, vor ihr Menschen, hinter ihr auch. Der Mann rastet sofort aus: „Halt die Fresse!“ Er zweifelt lautstark an, dass es Corona überhaupt gebe. Er droht: „Ich knall dir eine!“

Ein anderer Kunde mischt sich ein, beide geraten sofort in lauten Streit. Sie denkt: „Ich will weg hier.“ Im Gespräch über diese Situationen wird sie sagen: „Ich habe Angst, dass alles eskaliert.“

Charlin Kruse, ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen, arbeitet seit 21 Jahren an der Kasse von Penny irgendwo in Brandenburg. Sie ist 43 Jahre alt und erfahren genug, um einzuschätzen, wann eine Lage dramatisch ist. Sie sagt in diesem längeren Gespräch am Telefon: „Es ist längst so weit.“

Die Leute, die im Handel arbeiten, seien Fußabtreter. Kunden würden immer schneller die Nerven verlieren, sich gegenseitig Vorwürfe machen. „Das Menschliche ist weg, hier regiert Misstrauen und Missgunst, man nimmt das Schlechteste vom Gegenüber an.“

Es ist eine Beobachtung, die mitten hineinführt in ein Land, in dem gefühlt immer mehr Menschen die Contenance verlieren. Zahlen gibt es nicht, denn in diesem niedrigschwelligen Bereich wird Alltagsaggression nicht erfasst. Doch die, mit denen man sprechen kann, registrieren, dass Grenzen von verbaler und körperlicher Gewalt verschwimmen. Überall schwache Nerven, gereizte Bürger:innen, die mit dem Alltag in der Pandemie überfordert sind. Es gibt Eskalationsstufen, die nach oben offen sind.

Die bisher schlimmste Form dieser Eskalation war ein Mord. Ein Maskenverweigerer schoss einem studentischen Mitarbeiter einer Tankstelle in Rheinland- Pfalz, Kreis Idar-Oberstein, im September gezielt in den Kopf. Der Mann, hat die Staatsanwaltschaft ermittelt, hat sich in Chats von Corona-Leugnern und Verschwörungsdenkern bewegt.

Aus dieser Szene heraus, das belegen Telegram-Chats, werden immer wieder Mordfantasien geteilt. Der Verfassungsschutz sieht das Anwachsen „antidemokratischer Gesinnung“. Sicherheitsexperten sehen diffuse Schnittmengen von denen, die einst als Wutbürger gegen Großprojekte protestierten, denen, die in der Flüchtlingskrise gegen Migranten hetzten, und denen, die Corona leugnen und Verschwörungstheorien anhängen.

Sie alle eint großes Misstrauen gegenüber dem Staat und seinen Maßnahmen.

Doch Mord oder Mordfantasien im Netz sind einerseits nicht mehr als vage Indizien dafür, dass die schwelende, kaum sichtbare Aggressionsstimmung eskalieren kann. Andererseits ist das Ertragen von Aggressionen im Alltag normal geworden für viele – im Handel, im Nahverkehr, der Polizei, der Feuerwehr, auf Ämtern, im öffentlichen Dienst, in Krankenhäusern und Arztpraxen.

Da ist die Eisbahn in Berlin-Neukölln, die vorübergehend schließen musste, weil Mitarbeiter:innen nicht nur verbal, sondern auch körperlich angegriffen worden waren, als sie Corona-Regeln am Eingang durchsetzen wollten. Da sind die mehrfachen nächtlichen Brandanschläge auf Corona-Testzentren, wie etwa in Ahaus-Ottenstein und Gronau-Epe im Münsterland. Da bricht in Schleswig-Holstein ein Maskenverweigerer einer Angestellten im Handel das Nasenbein.

Wie soll es werden, wenn jetzt auch 2G- oder 3G-Regeln überprüft, kontrolliert und, bei Nichtbeachtung, geahndet werden? Wenn Impfgegner:innen und Geimpfte sich weiterhin und zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen?

Charlin Kruse dachte lange, „das wird wieder“. Sie konnte viele Menschen im ersten und zweiten Lockdown noch verstehen, ihre Ängste, obwohl sie auch da schon die Leidtragende war. Damals haben die Menschen, wie sie sich erinnert, den Penny-Markt als „Spielplatz, Wellnessoase oder Café und Treffpunkt umgedeutet“, einfach weil sie nicht wussten, wohin sie sonst gehen sollten.

Doch schon damals, im Frühjahr und im Herbst 2020, beobachtete sie, wie der Druck, den die Leute offenbar in ihrem Alltag spürten, in Aggression ein Ventil fand. Sie erzählt: „Da waren Erwachsene, oft Rentner, die Kinder in schrecklich aggressiver Weise anschrien und sie als Virenschleudern beschimpften.“

Jetzt, im Dezember 2021, sagt sie, könne sie persönlich überhaupt nicht mehr positiv sein. Ihre Gedanken sind oft so düster wie die Jahreszeit.

Für Stefan Röpke, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie an der Berliner Charité, ist die aktuelle Entwicklung nicht überraschend, sondern, wie er sagt, „logische Folge aus den Umständen, denen wir ausgesetzt sind“. Aggressivität sei zunächst eine Reaktion, die uns biologisch innewohnt. Aggression ist ein Merkmal, das bei einzelnen Menschen mehr oder weniger ausgeprägt ist. Es sind Reaktionen auf Ängste, Überforderungen, Ohnmachtsgefühle. Nehmen sie zu, steigt Aggression. Manche, sagt Röpke, verstecken sich, weichen zurück, andere werden wütend, laut und eben aggressiv.

Aus Röpkes Fachsicht ist klar: Steuerte unsere Gesellschaft auf einen Lockdown zu oder bekommen wir immer mehr Einschränkungen auferlegt, steige automatisch die Aggression und damit die Gefahr von Gewalt.

Problematisch ist letztlich die kritische Menge Mensch. Je mehr Menschen überfordert sind, desto größer ist die Gefahr, dass unter diesen einige sind, die gewalttätig werden. Bei ihnen, auch das wird nie die Masse sein, sind die Übergänge von gesund und krank fließend. Röpke sagt: „In der Psychiatrie fängt die Krankheit an, wenn ein Leidensdruck beginnt.“

Auch das heißt nicht, dass jemand automatisch gewalttätig wird, aber die Wahrscheinlichkeit steigt. Dann kommen individuelle Muster oder Krankheitsbilder ins Spiel, es geht um Fragen von Identität, Narzissmus oder Kränkungen.

In einer Gesellschaft mit fehlendem familiären Zusammenhalt, wenig sozialen Bindungen und Vereinzelung könne die Ausbildung von Aggression und Gewalt begünstigt werden.

Je größer wiederum die Anzahl von Menschen ist, die krankhaft keine guten Beziehungen führen können, umso größer ist die Ausprägung von Narzissmus, Kränkungsanfälligkeit, Identitätsmangel; und damit wiederum steigt die Wahrscheinlichkeit von eskalierender Gewalt oder radikaler Gesinnung.

Dass Corona offenbar auf eine Gesellschaft getroffen ist, die im stressigen Alltag schon vor der Pandemie nicht zur Solidarität neigte, sondern eher zum Einzelkämpfertum, kann Kristina Kroß bestätigen. Sie ist freigestellte Betriebsrätin bei Kaufland. An einem Mittwoch im November sitzt sie im obersten Geschoss der Neuköllner Gropius-Passagen in ihrem Büro, gleich neben dem Parkdeck D, und blättert in Protokollen von Mitarbeitenden, die Gewalt ausgesetzt waren.

Kroß war selbst Kassiererin, arbeitet nunmehr seit 20 Jahren als Betriebsrätin und findet, dass viele Menschen schon vor der Pandemie zur Unzufriedenheit neigten. Sie hätten beim Einkaufen eine Mentalität entwickelt, die die Beschäftigten zu „reinen Dienstleistern degradiert“.

Die Pandemie hat diese alltäglichen Verhaltensmuster, wie Kroß es formuliert, „zu immer mehr Aggressionen geführt, wie ein Brandbeschleuniger“. Sie blättert weiter und liest aus Berichten von Betroffenen vor: „Hat Kunden gebeten, Abstand zu halten … Kunde kam sehr nahe, schrie ihr ins Gesicht, spuckte sie an, beschimpfte sie laut als Fotze …“

„… Jugendliche springen ohne Maske in den Toilettenpapierstapel, Mitarbeiterin wird ohne Vorwarnung angegriffen, geschlagen, Platzwunde …“

„Am Informationsstand längere Diskussion mit Kunden, er brüllt. ‚Halt die Fresse, Hure. Ich mach dir dein Gesicht kaputt. Ich merke mir dein Gesicht.‘ “

Kristina Kroß hat mit allen Mitarbeitenden gesprochen, eine sei wortgewandt und stark, sie lasse sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen. Selbst diese Frau habe ihr gesagt, dass sie sich ohnmächtig fühlte, auch, weil niemand hinter ihr stand, kein Vorgesetzter da gewesen sei.

So wiederum ergehe es vielen Mitarbeitenden, ob an der Kasse, am Infostand oder bei den Security-Leuten. Es werde nur sehr selten ein verbaler Angriff zur Anzeige gebracht, im Gegenteil, die Geschäftsleitung versuche, solche Anzeigen zu vermeiden.

Kroß findet, dass dahinter „ein völlig veraltetes Bild vom Kunden“ stehe, „der Kunde ist König“ sei noch immer die oberste Priorität. Aber das sei falsch, der Kunde sollte lieber als Gast behandelt werden, höflich, zuvorkommend, „doch wenn dieser Gast sich nicht benimmt, muss man ihm die Konsequenzen aufzeigen“. Dies geschehe viel zu selten.

Die Betriebsrätin kennt die Security-Frau, die zusammengeschlagen wurde und ihren Job wechseln musste, sie kennt Kassiererinnen, die sich erniedrigt fühlen. Niemand komme auf die Idee, dass dieser dauerhafte Zustand eine Belastung für Geist und Körper darstelle. „Es wird hier nur auf Umsatz geschaut.“ Der Druck für viele in der Discounter-Branche sei riesig, man habe Sorge, den Job zu verlieren, wenn man Angst zeige oder solche Vorfälle passierten.

Solche Berichte kennt auch Martin Wuttke von Beschäftigten im Handel. Er ist bei der Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) zuständig für die Beratung der Unternehmen beim Arbeits- und Gesundheitsschutz. Er sagt: „Es fehlt in Unternehmen oft an Kommunikation und am Verständnis dafür, dass nicht nur ein Raubüberfall die Mitarbeitenden erschüttern kann.“

Die Erkenntnis, dass auch niedrigschwellige Alltagsaggression und verbale Gewalt schwere gesundheitliche Folgen haben können, setze sich langsam durch. Die BGHW hat nun eine Workshopreihe aufgesetzt, die das Thema Gewalt und Selbstschutz behandelt. Das, was Kristina Kroß schildert, nämlich das Gefühl der Mitarbeitenden, alleingelassen zu sein, soll thematisiert werden. Charlin Krause musste beispielsweise mit ihren Kolleginnen die Schutzfolien an den Kassen selbst anbringen.

In diesen Workshops werden keine Kassiererinnen sitzen, sondern meist leitende Angestellte, die das Thema wiederum in die Betriebe tragen sollen. Kramer sagt: „Das ist eine Führungsaufgabe. Und die Betriebe sind dafür verantwortlich.“

Es gibt viele aktuelle Beispiele, die bestätigen, was Kroß, Krause und Co. erleben. Ein hoher Gewerkschaftsfunktionär der BVG sagt auf Anfrage: „Unsere Leute haben die Schnauze voll. Das ist die Grundstimmung.“ Die Aggressivität steige an, es gebe kein anderes Thema mehr als Corona.

Der Hauptpersonalrat in Berlin im öffentlichen Dienst verlangt in einem aktuellen Forderungspapier, dass Gewalt überhaupt einmal definiert werde, dass auch verbale Aggressionen als Gewalt erfasst und dann zur Anzeige gebracht werden.

Eine Erzieherin, seit mehr als zehn Jahren im Job, klagt: „Corona hat alles, was schon da war, extremer gemacht.“ Sie spricht von fehlendem Respekt, von Rücksichtslosigkeit und Anmaßungen der Eltern: „Wir werden als reine Dienstleister gesehen, es gibt keinen Dank, kein freundliches Wort. Es heißt, dafür werdet ihr schließlich bezahlt.“

Stattdessen Drohungen: Schon im ersten Lockdown hätten viele nicht akzeptiert, dass Kinder von Eltern aus systemrelevanten Berufen in die Kita durften. Auch jetzt bekommt sie immer wieder zu hören: „Scheiß Kita!“ „Wir warten vor der Tür auf Sie.“

Die Erzieherin sagt, es sei „die respektlose Art und Weise, die alles so sehr erschwert. Es macht keinen Spaß mehr.“

Anders betroffen ist Michael Ahlert, Chef der Firma GSO Security. Er hat andere Berufs- und Lebenserfahrungen gesammelt als Kristina Kroß oder die Erzieherin, aber zum Thema Aggressionen prognostiziert er: „Es wird eskalieren, weil zu viele Leute krasse Impfgegner und Corona-Leugner sind.“

Ahlerts Leute sind in Flüchtlingsheimen, Test- und Impfzentren, in Bezirksämtern und vielen anderen oft auch öffentlichen Bereichen unterwegs. Zwar beschränkten sich die Konflikte bei ihnen auf „massive verbale Attacken“, aber Ahlert kennt Foren, auf denen „andere Leute unterwegs sind“. Er glaubt, dass es gezielt darum gehe, Menschen gegen den Staat und die Corona-Maßnahmen aufzustacheln. Er sagt: „Der Hass ist da.“

Kristina Kroß ist aus ihrem Büro hinaus und übers Parkdeck zum Fahrstuhl gelaufen, mit dem sie ins Untergeschoss fährt. Der Eingang zu Kaufland ist eher eng, direkt dahinter kommt der Informationsschalter. Fast immer sind es Mitarbeiterinnen, die angegriffen werden. Das bestätigen alle Branchen. Die Betriebsrätin erzählt von einer Frau, die nach verbalen Attacken und körperlichen Angriffen psychologisch behandelt werden musste. Als sie wiederkam, konnte sie nicht mehr in Kassen sitzen, die in ihrem Rücken keine Wand haben. Doch hier unten gibt es 18 Kassen, von denen die meisten mitten im Raum stehen.

Charlin Krause von Penny kann dieses Gefühl von Verwundbarkeit gut nachvollziehen. Sie spricht von einer „ständigen inneren Unruhe“. Sie müsste freundlich sein, lächeln, „aber ich bin einfach nur platt“. Sie sagt, man habe praktisch seit zwei Jahren Stress wie zur Vorweihnachtszeit, „also täglich gehetzte, uneinsichtige, schlecht gelaunte Kunden“. Eine Kasse sei dann wie ein durchsichtiges Gefängnis. Das Gefühl dazu gleiche einer durchgehend schrillenden Alarmsirene.