Der Bundesarbeitsminister hat in der Coronakrise alle Hände voll zu tun, um die schlimmsten wirtschaftlichen und vor allem sozialen Folgen abzufedern: Kurzarbeitergeld und der vereinfachte Zugang zum Arbeitslosengeld II für Selbstständige konnten das Schlimmste verhindern. Mit den Reaktionen auf seinen Vorschlag, den vereinfachten Zugang zu ALG II zumindest in Teilen zu erhalten, wird aber deutlich, dass das sogenannte Hartz IV es dennoch nicht aus der Schmuddelecke geschafft hat. Zeit, dies zu ändern.

Das Kurzarbeitergeld, da sind sich alle Seiten einig, ist sowohl ein wirtschafts- wie auch sozialpolitisches Erfolgsinstrument in der Coronakrise: Es federt Einkommensverluste ab, verhindert – zumindest kurzfristig – Arbeitslosigkeit, erhält Beschäftigung in Unternehmen und trägt somit zur konjunkturellen Stabilisierung bei. Daher erscheint ein Anstieg von Kurzarbeit fast als eine positive Nachricht. Ganz anders ist das Bild beim ALG II, dessen Zugang im Zuge der Coronakrise vereinfacht wurde: Es kann derzeit mit einer großzügigerer Vermögensprüfung und ohne Nachweis der Wohnungs- und Heizkosten beantragt werden. Doch steigt die Zahl der ALG-II-Bezieherinnen und Bezieher, wird dahinter gleich ein sozialpolitisches Problem vermutet.

Das kann verständlich sein, da das Kurzarbeitergeld sowie Zahlungen aus Arbeitslosengeld (ALG) oft deutlich höher sind als die Bezüge aus dem ALG II. Auf der anderen Seite ist der nur bis Ende März geltende vereinfachte Zugang für viele Haushalte, die einzige Möglichkeit, ihre coronabedingten Einkommensverluste zumindest teilweise abzufedern. Wenn sie keine Berechtigung für Kurzarbeitergeld oder ALG haben, bliebe ihnen sonst nur, vom Ersparten zu leben oder das Betriebsvermögen aufzulösen. Das betrifft unter anderem Solo-Selbstständige, Kleinstunternehmer und freie Kulturschaffende. Damit hat auch diese Maßnahme eine wichtige positive sozialpolitische Bedeutung.

Warum ist die Wahrnehmung dieser beiden Maßnahmen so unterschiedlich? Traditionell werden die Kurzarbeiterleistung und das ALG der „produktiven Sozialpolitik“ zugeordnet, während die ALG-II-Leistung als ein Transfer jenseits des Arbeitsmarkts angesehen wird. Der schlechte Ruf von ALG II und der Grundsicherung im Alter hat damit aber noch andere Konsequenzen.

Unterschiedliche Studien zeigen nämlich, dass nicht wenige Haushalte, die berechtigt wären, ALG-II-Transfers zu beziehen, diese nicht beantragen. Je nach Daten und Methoden liegt der geschätzte Anteil dieser Haushalte etwa zwischen 30 und 60 Prozent. Bei der Grundsicherung im Alter ist die Quote wohl noch höher. Es werden unterschiedliche Gründe genannt, warum Haushalte, diese Leistungen nicht in Anspruch nehmen: fehlende Informationen, bürokratischer Aufwand, aber auch die Stigmatisierung der Leistung. Eine Rolle spielt sicherlich auch die Angst vor einem Wohnungswechsel und der Vermögensprüfung, die eine vollständige Offenlegung der persönlichen Finanzen bedeutet.

Sozialpolitisch ist die Nichtinanspruchnahme ein großes Problem, das in der Diskussion nicht ausreichend bedacht wird. Das gilt nicht nur in der Coronakrise. ALG II und die Grundsicherung im Alter sichern den Bedarf von Haushalten ab – das ist zumindest der Anspruch. Es kann sicherlich über die Höhe und Ausgestaltung gestritten werden. Aber diese Transfers sind ein elementares Grundrecht und kein Almosen. Sie sind ein wesentlicher Baustein der modernen demokratischen und sozialen Rechtsstaatlichkeit der Bundesrepublik. Niemand sollte sich für den Bezug der Leistungen schämen.

Dass die Realität eine andere ist, zeigte sich einmal mehr in der Debatte, ob Selbstständige, die durch die Corona-Pandemie in Not geraten sind, einen befristeten „Unternehmerlohn“ erhalten oder die Leistungen von ALG II in Anspruch nehmen sollten. Empört wurde die ALG-II-Perspektive von Sprechern der Selbständigen als diskriminierend zurückgewiesen: Was für eine Zumutung für die Selbstständigen und Freiberufler, Hartz IV zu beantragen!

Dadurch wird eine große Errungenschaft des deutschen Sozialstaates diskreditiert und zugleich eine Zweiklassengesellschaft der Bedürftigkeit ausgerufen. Gezielte zusätzlich Unterstützung für Selbständige mag an manchen Stellen durchaus sinnvoll sein, aber durch die aktuelle Diskussion wurde die Chance vertan, das ALG aus seiner Schmuddelecke herauszuholen und es als das zu sehen, was es ist: ein sozialer Rechtsanspruch, der allen als existentielles soziales Grundrecht zusteht.

In diesem Sinne geht der Vorschlag von Hubertus Heil, den Zugang zu ALG II auch über die Coronakrise hinaus an weniger Bedingungen zu knüpfen sowie zu vereinfachen, genau in die richtige Richtung. Denn dadurch besteht die Chance, dass der Blick auf und der Zugang zu dieser sozialpolitischen Leistung normalisiert und das Stigma aufgelöst werden kann. Bei der Diskussion muss aber auch klargemacht werden: Ein solcher Vorschlag geht nicht in die Richtung eines bedingungslosen Grundeinkommens. Einkommen werden nach wie vor angerechnet, und auch Sanktionen sollen nicht abgeschafft werden. Diese Komponenten sind auch deshalb wichtig, damit die Integrationsperspektive in den Arbeitsmarkt weiterhin zentral bleibt, Transfers zielgerichtet sind und wirklich den Haushalten zukommen, die diese auch benötigen. Damit die sozialpolitische Leistung wirkungsvoll ist, ist es jedoch ebenso wichtig, dass Haushalte diese auch tatsächlich beantragen und beziehen.

In der Diskussion wird auch auf die Gefahr hingewiesen, dass ein weniger restriktives ALG II negative Auswirkungen auf die Beschäftigung haben könnte. Belastbare empirische Belege für große Effekte sind hierfür nur schwer zu finden. Es gibt aber eine recht klare Evidenz aus dem Ausland, etwa aus Großbritannien, dass mit gezielten Arbeitsanreizen die Beschäftigung erhöht werden kann.

Bezieherinnen und Bezieher von ALG II sollten einen größeren Teil ihrer Erwerbseinkommen behalten – und nicht wie derzeit durch hohe Entzugsraten von der Beschäftigung abgehalten werden. Denn ohne gute Anreize wird das zentrale Ziel, die Integration in den Arbeitsmarkt, nicht einzulösen sein. Es gibt also noch viel zu tun, um dem ALG II die Wirksamkeit zu geben, das es haben könnte und sollte.

Peter Haan ist Leiter der Abteilung Staat am DIW Berlin und Professor an der FU Berlin.

Wolfgang Schroeder ist Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor an der Universität Kassel.