Verhaltensänderungen setzen die Einsicht in Mechanismen voraus, die uns davon abhalten zu tun, was wir eigentlich für richtig erachten. Ein besseres Verständnis der Wechselwirkung von psychischer Disposition, Entscheidungskontexten und situativen Effekten kann helfen, sich der Widerstände und Stolpersteine bewusst zu werden, die es uns schwer machen, ein guter Mensch zu sein. Für mich ist die Aufklärung über die „Fallstricke des Alltags“ ein zentraler Schlüssel dafür, Fehlverhalten zu überwinden und unmoralische Versuchungen zurückzuweisen.

Nun könnte man einwenden, der Verweis auf Aufklärung und die Hoffnung auf Einsicht seien zu kopfbetont. Der Mensch sei durch einen Mangel an Rationalität gekennzeichnet, sein Verhalten sei letztlich emotional gesteuert und das Bewusstsein hinke stets hinterher. Manche meiner Kollegen mögen so argumentieren, aber ich halte diesen Einwand für falsch. Dabei stelle ich die Arbeiten, die zeigen, dass der Mensch nur beschränkt rational ist, keineswegs in Frage. Ich bin mir der Forschungsergebnisse zu Biases, zu kognitiven Verzerrungen und Beschränkungen bewusst.

Es ist richtig, dass wir in komplexen Entscheidungssituationen häufig nicht nach bestimmten rationalen Kriterien handeln, im Umgang mit Wahrscheinlichkeiten und Statistik unsere liebe Mühe haben und unser Verhalten durch Biases gekennzeichnet ist. Kurz: Wir machen Fehler. Aber daraus die Schlussfolgerung zu ziehen, wir seien kognitiv nicht in der Lage, das Richtige zu tun, wäre fatal. Denn wie rational muss man sein, um einem Bettler etwas zu spenden? Wie hoch sind die kognitiven Anforderungen, wenn man zu Kooperation und Ehrlichkeit aufgerufen ist? Glaubt wirklich jemand, dass es eine Frage der kognitiven Fähigkeiten ist, wenn man im Diktatorspiel nichts abgibt?

Menschen sind bei allen Beschränkungen erstaunlich rational und gehen mit ihren beschränkten kognitiven Ressourcen verblüffend vernünftig um. Die neuere Forschung entdeckt zunehmend, dass das menschliche Verhalten sich gerade auch in komplexen Entscheidungssituationen als relativ robust und rational erweist, allen Unkenrufen zum Trotz. Und wie sehr wir uns „reinfuchsen“ können, wenn es um unseren eigenen Vorteil geht!

Zu welchem Ausmaß an Intelligenz und Aufmerksamkeit wir befähigt sind, zeigt sich beispielsweise, wenn es darum geht, rechtliche Vorteile auszuschöpfen, sei es bei der Steuererklärung oder wenn Arbeitsverträge verhandelt werden.

Der vermeintliche Mangel an Rationalität ist genau wie der Hinweis auf die Abwesenheit eines freien Willens letztlich nur eine Ausrede. Und wenn wir mal nicht weiterwissen, können wir uns Rat holen. Wieso soll es ausgerechnet bei moralischen Entscheidungen nicht funktionieren, sich „reinzufuchsen“ und Rat zu suchen? Wir können eine Menge tun – wenn wir wollen.

Aufklären ist gerade auch im Speziellen hilfreich: indem konkrete Hinweise uns dabei helfen, autonom und verantwortungsbewusst zu handeln. Zum Beispiel bei Konsumentscheidungen: Über den CO?-Ausstoß von Motoren oder den Energieverbrauch von Elektrogeräten wird heute schon verpflichtend informiert. Aber hier sollte man noch viel mehr tun.

Wieso muss nicht jedes Produkt mit seinem „CO?-Fußabdruck“ gekennzeichnet werden? Stellen wir uns vor, wir stünden in der Obstabteilung vor der Wahl zweier Apfelsorten und wüssten, wie stark sie jeweils das Klima belasten. Oder stellen wir uns vor, dass Videos, Infografiken, Broschüren, Label und Poster uns beim Kauf von Fleisch, Kleidung oder Elektronikgeräten wirklich in die Lage versetzen würden zu wissen, welche Konsequenzen die Herstellung der Produkte für Mensch und Umwelt nach sich zog.

Wenn wir beim Kauf von Eiern durch anschauliche Videos lernen oder daran erinnert werden, welches Leben eine „konventionelle“ Legehenne im Vergleich zu einer „Biohenne“ führen muss, dann entscheiden wir uns möglicherweise eher für die etwas teureren Eier. Tatsächlich belegen Studien, dass die Kennzeichnung von Konsumgütern in Supermärkten die Nachfrage etwa nach klimafreundlichen Produkten erhöht.

Proaktive und verpflichtende Herstellungsinformationen machen es für Konsumenten überhaupt erst möglich, ihr Verhalten entsprechend ihrer Moralvorstellungen zu gestalten. Dass die Industrie und ihre Verbände erbittert dagegen kämpfen, belegt ja nur, dass solche Informationen wirksam wären. Schließlich entspricht es liberalen Vorstellungen vom souveränen Konsumenten, dass er frei und selbstbestimmt entscheidet, was aber gerade voraussetzt, dass er gut und umfassend informiert ist. Mehr Transparenz und Information ist „markt- und liberalkonform“ und sollte von jedem unterstützt werden, der ein Interesse an rationalen Entscheidungen hat.

Wie Verhaltensänderungen mit innovativen Formen der Aufklärung erreicht werden können, möchte ich an einem Beispiel erläutern. Es geht um die Wirkung von Erinnerungshilfen beim Energieverbrauch, genauer gesagt um „Warmduscher“: Duschen ist der zweitgrößte einzelne Verbrauchsfaktor im Haushalt und macht etwa 14 bis 18 Prozent des durchschnittlichen häuslichen Energieverbrauchs aus. Aber wer weiß das schon? Könnte der Verbrauch gesenkt werden, wenn beim Duschen der Wasser- und Energieverbrauch in Echtzeit angezeigt würde?

In einer Studie mit 636 Schweizer Haushalten bekam jeder ein sogenanntes Smart Shower Meter installiert. Gut sichtbar direkt am Duschkopf montiert, zeigt das Gerät auf einem kleinen Display je nach Experimentalbedingung unterschiedliche Informationen an. In einer Studiengruppe wurde lediglich die aktuelle Wassertemperatur angezeigt, in einer anderen hingegen während jeder Dusche zusätzlich die bereits verbrauchte Wassermenge in Litern, die aufgewendete Energie in Kilowattstunden und die Energieeffizienz.

Diese Informationen führten zu einer Reduktion des Energieverbrauchs um 22 Prozent und einer Reduktion des gesamten Energieverbrauchs der Haushalte um 5 Prozent. Der Effekt setzte unmittelbar ein, nachdem die „Aufklärung“ mit der Bereitstellung des Geräts begonnen hatte, und blieb über die gesamte Zeit des Experiments, immerhin zwei Monate, konstant. Sich ehrlich machen Kommen wir zu einer heiklen Forderung: Rauskommen aus der selbsterschaffenen Wohlfühlecke, in der wir es uns trotz egoistischen Verhaltens mit einem guten Selbstbild gemütlich machen. Einem Selbstbild, das wir uns aus selektiver Wahrnehmung, rosa gefärbter Erinnerung, der Verweigerung von Handlungsoptionen und astreinen Ausreden geschaffen haben.

Wer das nicht will, muss sich ehrlich machen. Einige der Mechanismen, die uns Sand in die Augen streuen und uns weismachen, wir seien moralisch auf Kurs, bedienen den Wunsch, gleichzeitig die Vorteile eigennützigen Verhaltens einzustreichen und ein positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Wer ihnen nicht erliegen will, der sollte: Wissen wollen.

Oft verschließen wir die Augen vor den Konsequenzen unseres Handelns, um vor uns (und anderen) nachher sagen zu können, wir hätten es nicht gewusst. Wer sich ehrlich macht, informiert sich über die Folgen seines Tuns und denkt über Handlungsoptionen und Alternativen nach.

Natürlich kann man nicht alles wissen, und immer wieder wird man zu Recht bekennen müssen, man habe es nicht besser wissen können. Aber darum geht es hier nicht. Es geht darum, sich im Rahmen des Möglichen zu erkundigen, die Augen nicht zu verschließen und sich aktiv der Frage zu stellen, was das eigene Verhalten bewirkt. Entscheidungssituationen nicht vermeiden. Oft gehen wir moralisch fordernden Fragestellungen einfach aus dem Weg. Wir vermeiden den Kontakt zu Bedürftigen, wechseln bildhaft gesprochen die Straßenseite, wenn wir einen Bettler sehen.

Diese Strategie setzt darauf, einen moralischen Konflikt erst gar nicht entstehen zu lassen. Man weicht einer Entscheidungssituation aus, einer „Prüfung“. Die Strategie funktioniert aber nur, wenn man bereit ist, sich etwas vorzumachen. Denn wenn wir Entscheidungen vermeiden, indem wir etwa die Straßenseite wechseln, treffen wir ja de facto sehr wohl eine Entscheidung – zuungunsten der Moral.

Sich ehrlich machen heißt, Entscheidungssituationen und Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen. Vielleicht scheitert man dann in der jeweiligen Situation und gibt dem Bettler dennoch nichts. Aber scheitern ist ehrlich. Wer ausweicht, kann nicht einmal scheitern, er hat sich immer schon gegen das Gute entschieden.

Hier noch ein Tipp für alle, die gerne mal „ausweichen“, das aber eigentlich bereuen oder sich schlecht dabei fühlen: Wenn man es unangenehm findet, unfreiwillig zum Spenden aufgefordert zu werden, wieso nicht einfach folgendes tun. Einmal in Ruhe hinsetzen und sich überlegen, wie viel man eigentlich spenden möchte, vielleicht 1 Prozent des Einkommens oder 2 oder 5? Eine gute Spendenorganisation auswählen und einmal im Jahr den entsprechenden Betrag überweisen. Dann tut man Gutes und braucht sich nicht schlecht zu fühlen, wenn man nicht jedem Spendenaufrufen folgt. Keine Tricks.

Wer ehrlich mit sich selbst sein möchte, verzichtet auf moralische Buchhaltung, auf Greenwashing oder Virtue Signaling. Gibt sich nicht zufrieden mit dem kleinlichen Verrechnen von Gefälligkeiten und dem Verweis auf die gute Tat von vorgestern.

So tun als ob ist ein mächtiger Feind der guten Tat, der sich in schönen Reden, symbolischen Handlungen, gut in Szene gesetzten Miniwohltaten gefällt, die mit gutem Verhalten so wenig zu tun haben wie die schön gefilterte Instagram-Welt mit dem wahren Leben. Sich ehrlich machen heißt auch, dass wir die Hoheit über unser Gedächtnis erlangen und uns an die „Heldentaten“ der Vergangenheit nicht zu rosig erinnern, auch wenn es uns schwerfällt. Keine simplen Ausreden. Man sei in Eile gewesen, habe es total vergessen, habe vorgehabt, es gleich morgen zu machen …

Wer ehrlich sein will, muss Bullshit als Bullshit entlarven. Anderen keinen Mist erzählen, und sich selbst auch nicht. Auch wenn uns Lügengeschichten guttun, weil sie uns und anderen suggerieren, unser egoistisches Verhalten sei so schlimm eigentlich nicht gewesen - es ist nicht redlich, derartige Geschichten selbst in die Welt zu setzen oder weiterzutragen.

Lügengeschichten zu teilen macht nicht nur mehr Leute darauf aufmerksam, es verschafft ihnen zusätzliche Legitimation: Wenn so viele darüber reden, muss ja etwas dran sein. Im sozialen Gefüge operieren wir wie Relais. Wir entscheiden, welche eigenen Geschichten wir erzählen und welche gehörten Geschichten wir weitererzählen. Was wir in der Social-Media-Welt teilen, liken oder retweeten. Wir tragen Verantwortung dafür, was gesprochen wird.

Wenn ich eine Lügengeschichte in Umlauf bringe, um mich reinzuwaschen, wird sie womöglich noch von vielen anderen als Ausrede missbraucht. Gerade mithilfe von Twitter und Co. verbreiten sich Lügen viral. Stattdessen sollte man wann immer möglich versuchen, falsche Geschichten aufzudecken und als Unwahrheiten zu kennzeichnen. Faktencheck betreiben.

Aufklären. Selbstkritik üben. Eigene Fehler eingestehen, sie korrigieren und richtigstellen. Und sich dabei einer klaren und exakten Sprache bedienen. Klar und deutlich benennen, was ist, was gilt, was Stand des Wissens und der Forschung ist. Der Kampf gegen Bullshit ist gleichermaßen mühsam und wichtig. Was können wir tun? Denken statt fühlen. Unsere Emotionen entscheiden gerne mit. Und oft ist das richtig und sinnvoll. Oft aber eben auch nicht.

Wer sich ehrlich machen will, prüft die Beweggründe seines Handelns. Ist es vielleicht Neid, der mich antreibt? Ist es in Wahrheit mein Ehrgeiz, der mich zu unmoralischem Verhalten verleitet? Bin ich gerade gestresst und angespannt? Dann ist es besser, erst einmal runterzukommen und nachzudenken, bevor man handelt.

Abkühlphasen einzulegen lohnt sich fast immer und fördert Entscheidungen, die in Einklang mit unseren Werten stehen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Weil wir uns so gerne etwas vormachen. Aber seien wir ehrlich: Sind uns aufrichtige Egoisten nicht sogar sympathischer als larmoyante und geschwätzige Pseudo-Altruisten?

Wir entnehmen diesen Essay dem Schlusskapitel von Armin Falks soeben im Münchner Siedler Verlag erschienenen Buchs „Warum es so schwer ist, ein guter Mensch zu sein ... und wie wir das ändern können“ (334 Seiten, 24 €).

Armin Falk, geboren 1968, ist Direktor des Instituts für Verhaltensökonomik und Ungleichheit (briq) und des Labors für Experimentelle Wirtschaftsforschung sowie Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Bonn.