Wie geht es Berlins Schülerinnen und Schülern nach über zwei Jahren Pandemie? Verheilen die psychischen Narben bereits oder brechen die Wunden erst langsam auf?

Einerseits erleben wir Erholungsphasen wie jetzt gerade die Osterferien. Gemeinsame Aktivitäten sind wieder möglich. Anderseits bleiben die Kinder und Jugendlichen von den Folgen der Pandemie betroffen. Studien zeigen, dass sie insgesamt zu einem Anstieg der psychopathologischen Belastung geführt hat. Während Wunden und Narben auf der Haut gut erkennbar sind, bleiben akute und langfristige seelische Spuren verborgen. In der schulpsychologischen Praxis erfahren wir seit Jahren eine deutliche Zunahme von komplexen psychischen Problemlagen bei Schülerinnen und Schülern. Diese Tendenz zeichnete sich vor der Pandemie ab und wurde durch sie verstärkt.

Was sind das für Problemlagen und wie erklären Sie sich die Zunahme?

Hier kann eine breite Palette an geläufigen Diagnosen aufgezählt werden wie Angststörungen, Schlafstörungen, Essstörungen und Depressionen. Verschiebungen von akuten zu chronischen und von somatischen zu psychischen Erkrankungen werden in der schulpsychologischen Arbeit beobachtet. Die jeweils individuelle Problemlage gilt es zu verstehen und in der Schule zu vermitteln. Daraus lassen sich keine allgemeingültigen Gründe ableiten, das bedarf einer Dunkelfeldstudie.

Wie erfahren Sie von den Problemen? Bieten Sie Sprechstunden in den Schulen an oder kommen einzelne Familien zu Ihnen?

Eine Schulpsychologin betreut zehn Schulen. Sprechstunden können vor Ort nicht flächendeckend angeboten werden. Wir bieten Beratung für Eltern, Schülerinnen und Schüler, die sich bei uns melden, und beraten auch pädagogische Fachkräfte, wie sie schädlichen Stress vermeiden oder psychosoziale Prozesse in den Kassen erkennen und beantworten können.

Gibt es auch überraschende Befunde? Oder sind das alles Probleme, die immer im Kinder- und Jugendalter auftauchen?

Die vielfältigen psychischen Phänomene sind nicht neu. Bei der Rückkehr zur Präsenz sind vermehrt soziale Ängste, Konzentrationsdefizite und Überreizungsphänomene aufgetreten. Pandemiebedingte Auswirkungen betreffen teilweise nur bestimmte Jahrgänge. Die Lernbedingungen waren häufig erschwert, und wenn dann der Leistungserfolg die zukünftige Schullaufbahn bestimmt oder prüfungsrelevant ist, kann der Druck bis zu Angststörungen führen. Fehlt die Anerkennung der pandemiebedingten erschwerten psychischen Situation, kann das Formen von struktureller Gewalt annehmen. Hier sollte der Grundsatz aus dem Krisenmanagement „Not bricht Gebot“ angewendet werden.

Was bedeutet das?

Das bezieht sich auf starre schulrechtliche Regelungen. Wenn zwangsweise die Klassenstufe wiederholt oder die Schule gewechselt werden muss, weil Kriterien in diesem Ausnahmezustand nicht erfüllt werden konnten. Statt Perspektiven zu nehmen, sollten Erfolgserwartungen und Selbstwirksamkeit wachgerufen werden.

Was ist für Sie die am schwersten zu bewältigende Nachwirkung der Schulschließung?

Die Komplexität der Problemlagen hat deutlich zugenommen. Besonders schwer betroffen sind Kinder und Jugendliche, bei denen sich mehrere Aspekte kumulieren. Einzelschicksale lassen sich nicht quantifizieren.

Gibt es Wartelisten in ider Schulpsychologie?

Lange Wartezeiten sind in der psychosozialen Versorgungslandschaft üblich. Zentral ist der Erstkontakt, bei dem das Anliegen geklärt wird. Vor einer Terminvergabe muss priorisiert werden. Ein Notfall sollte vorrangig beantwortet werden. Pandemiebedingte Kontaktbeschränkungen haben die Erreichbarkeit der Schulpsychologie aufgrund fehlender technischer Möglichkeiten deutlich erschwert. Für die aktuellen Krisensituationen sind wir in der Schulpsychologie unterversorgt. Vor der Corona-Pandemie haben wir für den gestiegenen Bedarf in der Krisenintervention 13 weitere Stellen gefordert. Stattdessen mussten wir erleben, dass in den letzten zwei Jahren freiwerdende Stellen in der Schulpsychologie trotz Pandemie nicht nachbesetzt wurden.

Wie viele Schulpsychologenstellen werden Sie unter diesen Umständen 2022/23 zur Verfügung haben, wie viele fordern Sie?

Im ersten Haushaltsentwurf sind weiterhin sieben befristete Stellen gesperrt und kein Stellenzuwachs in Sicht. Damit würden nur 91 Stellen zur Verfügung stehen – also eine für 5000 Schülerinnen und Schüler. Wir fordern neben der notwendigen technischen Ausstattung, alle offenen Stellen schnellstmöglich zu besetzen, und einen zusätzlichen Zuwachs von 26 Stellen.

Im März gab es einen von der Linken angeregten Austausch mit Ihnen und einem Schülervertreter. Mit welchem Ergebnis?

Die Forderung nach niedrigschwelligen psychosozialen Angeboten war eines der zentralen Ergebnisse. Eine besser ausgestattete Schulpsychologie könnte dies leisten und eine Verschlimmerung der Symptomatik bei Kindern und Jugendlichen reduzieren.

Bedeutet die Themensetzung durch die Linke, dass die Schulpsychologie da eine Fürsprecherin in den Etatgesprächen hat?

In unseren bisherigen Gesprächen mit CDU, Grünen und Linken wurde deutlich, dass parteiübergreifend der gestiegene Bedarf an Schulpsychologie-Stellen gesehen wird. Als Vorstand des Landesverbands haben wir auch bei der SPD um einen Termin gebeten und warten auf eine zeitnahe Einladung.

Sie beklagen, dass während Pandemie die psychosozialen Auswirkungen verharmlost wurden. Es gab doch aber eine offene Diskussion über die Auswirkungen.

Diskussionen ohne Konsequenzen im Alltag sind nicht ausreichend. Die Pandemie ist eine außergewöhnliche und langanhaltende Krisensituation. Hinzukommen der Ukraine-Krieg und die Klimakrise. Kinder und Jugendliche treffen die psychischen Auswirkungen in entscheidenden Entwicklungsphasen. Es ist wichtig, dass darüber gesprochen und entsprechend gehandelt wird. Im schulischen Kontext sind all jene, die Halt geben sollten, selbst betroffen. Pädagogische Fachkräfte und Schulleitungen brauchen in diesem emotionalen Spannungsfeld von Ängsten und Verdrängung Psychohygiene als wichtiges Gegengewicht.

Sie mahnen, es gebe eine „Zunahme der Suizidalität und erhöhte Schuldistanz“. Lässt sich das beziffern?

Eine Umfrage unseres Landesverbands hat gezeigt, dass eine pandemiebedingte Zunahme an psychischen Auffälligkeiten, Suizidalität und eine erhöhte Schuldistanz zu beobachten sind. Der Begriff Suizidalität schließt Suizidgedanken und Suizidversuche mit ein. Zum Glück holen sich viele Betroffene Unterstützung. Bei der Ausprägung der Schuldistanz ist auffallend, dass Kinder und Jugendliche regelrecht verloren gegangen sind. Je länger sie fernbleiben, desto mehr unterstützendes Helfersystem benötigen sie, um zurückkehren zu können.

Haben Berlins Schulpsycholog:innen oder Sie selbst bereits mit traumatisierten Geflüchteten aus der Ukraine zu tun?

In der ersten Zeit geht es für die Geflüchteten vor allem um die Sicherung basaler Bedürfnisse. Schulen bieten hier eine wichtige Struktur. Derzeit lassen sich vor allem Lehrkräfte schulpsychologisch beraten. Häufig geht es darum, wie in einer Lerngruppe über den Krieg gesprochen werden kann. Für Traumatisierte sind pädagogische Fachkräfte in den Schulen die direkten Bezugspersonen. Für diese haltgebende Beziehungsarbeit brauchen sie Unterstützung. Der Schulpsychologische Dienst braucht zusätzliche Ressourcen, um den Bedarf decken zu können.

Interview: Susanne Vieth-Entus

Matthias Siebert ist Vorsitzender des Landesverbands Schulpsychologie Berlin und Fachbereichsleiter im Schulpsychologischen Beratungszentrum in Steglitz-Zehlendorf. Foto: privat