Sie nennen die Stadt „Schmuckkästchen“ oder „Stadt der Königinnen“ und feiern alljährlich die Gisela-Tage mit Prozessionen, Festen und kulturellem Rahmenprogramm: Das ungarische Veszprém, Europäische Kulturhauptstadt 2023 neben Elefsina in Griechenland und Temeswar in Rumänien, gibt sich traditionsbewusst und ist stolz auf seine über 1000-jährige Geschichte. Wenngleich Gisela, erste Königin von Ungarn und Gattin des Staatsgründers Stephan I., lediglich selig gesprochen wurde, wird die Erinnerung gepflegt.

Allerdings versteht es Veszprém – im Mittelalter eine der bedeutendsten Renaissance-Städte, die im Laufe der Jahrhunderte durch Kriege und Feuersbrünste mehrfach zerstört wurde – geschickt und mit einem vielfältigen Programm den Bogen von der Historie in die Gegenwart und auch in die Zukunft zu spannen.

Bespielung der ganzen Region

Rund 3000 Veranstaltungen finden über das Jahr statt. Die knapp 60.000 Einwohner zählende, auf fünf Hügeln erbaute Kleinstadt mit dem pittoresk barocken Altstadtkern, um den sich die typische Architektur des Sozialismus der 1960er- und 70er-Jahre rankt, punktete bei der Entscheidung der Brüsseler Auswahlkommission vor allem jedoch mit der Einbeziehung der gesamten Balaton-Bakony-Region.

„Es geht um die ökologische Fragilität des Balaton und dass die Menschen hierfür ein Bewusstsein entwickeln“, sagt Can Togay, leitender künstlerischer und kreativer Berater der Europäischen Kulturhauptstadt. „Das schafft man mit Kunst und Kultur und Edukation, um nicht in Konflikte zu geraten und zwischen den Menschen, der Natur und den Interessen der Stakeholder zu vermitteln. Auch längerfristig“, so der Schauspieler, Autor und Regisseur, der zehn Jahre lang das Collegium Hungaricum Berlin leitete.

In diesem Sinne öffnen Veszprém und die angrenzenden Dörfer und Städtchen die Bühnen und Säle für sämtliche Kultursparten, Workshops und Diskussionsforen – von Straßenmusik bis zu Jazz und Oper, Lesungen und Theater, von Klassikstars wie Anna Netrebko bis zum musikalischen Nachwuchs und auf dem eigens umgebauten Areal einer ehemaligen Möbelfabrik treten Kraftwerk, Iggy Pop oder Franz Ferdinand auf.

Überhaupt spielt die Musik eine zentrale Rolle in der zwischen Plattensee-Oberland, Bakony-Wald und ungarischer Tiefebene gelegenen Stadt. Der Violinist Leopold Auer – für den Peter Tschaikowsky Stücke komponierte und der Jascha Heifetz ausbildete –, wurde hier geboren und wird alljährlich mit dem Auer-Festival geehrt und seit 2019 darf sich die Veszprém UNESCO „Stadt der Musik“ nennen.

Instrumente statt iPhones

In der Reihe „InterUrban“ konzertieren Musiker:innen aus Partnerstädten wie Sevilla, Liverpool oder Chemnitz und am Pfingstwochenende musizierten rund 1000 Kinder und Jugendliche im Rahmen von „MusiColors“. Auf der Bühne nahe der modernen Konzerthalle spielten Rockbands aus Brandenburg, im Park der Musikschule ein exzellentes Bläser-Ensemble aus St. Pölten, auf dem Altstadtplatz wechselten sich französische und japanische Orchester mit den Balkanklängen eines ungarischen A Capella-Chors ab und am 20 Kilometer entfernten Plattensee spielte die Nameless Band der Vivaldi-Musikschule aus Bozen.

„Die Musik hat eine lange und wichtige Funktion. Vor allem die Chormusik und die ersten Musikschulen wurden während des Ersten Weltkriegs gegründet“, sagt Zoltán Meszaros, Chefberater von Veszprém-Balaton 2023, und gibt die Losung aus: „Nutze dein Instrument anstelle des iPhones!“ Er lacht: „Na ja, nutze es zumindest neben dem iPhone.“

Der umtriebige Gastronom und Organisator diverser Festivals verweist zudem auf die Bedeutung der Balaton-Region als Gourmet- und Weinanbaugebiet, bekannt für seine Weißweine und exzellente Riesling-Sorten.

Eine der sechs Weinregionen liegt in Badacsony. Ábel Szalontai hat das malerische Hochplateau von einem Standpunkt am Südufer des Balatons fotografiert und spiegelt die mannigfaltigen Atmosphären, Wetterlagen, Tages-, Nacht- und Jahreszeiten in pastellenen Farben und faszinierend abstrahierenden Landschaftsbildern.

Unabhängig und ohne Kenntnis vom Projekt des Kollegen hat Dezsö Szabó den größten Binnensee Mitteleuropas über acht Jahre vom Hafen von Szigliget auf der Nordseite abgelichtet. Konzeptuell und mit je 50 seriell zu Farbspektren angeordneten Kleinformaten formieren sich in den Aufnahmen der Balaton, die Silhouette des gegenüberliegenden Ufers und die Naturphänomene auf zugleich dokumentarische und höchst sinnliche Art.

Zu sehen sind die Fotografien im modern restaurierten Teil des Dubniczay-Palasts, einem der drei Ausstellungsorte des Veszprémer Hauses der Künste. Während das Erzbischöfliche Palais sakrale und Barock-Gemälde versammelt, wird in den Räumen im Burg-Areal moderne und zeitgenössische Kunst präsentiert.

„Das ist unser Palazzo!“, freut sich Bernadett Grászli, Direktorin des Hauses der Künste, im historischen Trakt des 1721 erbauten Gebäudes, das mit behutsam restaurierten Fresken besticht, die reizvolle Ornamente, die Patina und Spuren der Jahrhunderte freilegen. Darauf fügt sich sensibel die zeitgenössische Malerei aus der Sammlung der ungarischen Nationalbank, deren Fokus aktuell auf Werke von Künstlerinnen gerichtet ist. Mit farbintensiven, expressiven Abstraktionen von Ilona Keserü, den linearen Strukturspielen der 100-jährig in Paris lebenden Vera Molnár und natürlich Dora Maurer, der Grande Dame der ungarischen Neo-Avantgarde.

Starke ungarische Positionen

Bernadett Grászli sieht es als ihre Aufgabe, die weibliche Präsenz in Museen zu erhöhen. Die Kunsthistorikerin mit dem charmant österreichisch-ungarischen Akzent setzt dabei auch auf die Tradition. Schließlich sei man in der Stadt der Königinnen, die rund 900 Jahre vom Erzbischof von Veszprém gekrönt wurden. Im Kulturhauptstadtjahr setzt Grászli gleich doppelt auf die Frauen-Karte und hat auch für die wechselnde Präsentation der Sammlung des Budapester Schuhfabrikanten László Vass – die als Dauerleihgabe in einem eigenen Gebäude nahe des Burgtors untergebracht ist – Werke von Künstlerinnen ausgewählt. Darunter ebenfalls Maurer und Molnár, internationale Größen wie Agnes Martin und Sarah Morris sowie starke ungarische Positionen Konkreter Kunst.

Die Ursprünge der Neo-Avantgarde in Ungarn rückt die Ausstellung „Boglár 50“ im Kunstmuseum des Seebads Balatonfüred in den Fokus. 1970 erwarb György Galántai, Künstler, Dichter und Begründer des Artpool-Archivs zur experimentellen Kunst und Literatur in Osteuropa, die Ruine einer Friedhofskapelle in Balatonboglár. Das Boglár-Studio wurde zum zentralen Treffpunkt der parallel zum kommunistischen System agierenden Künstler:innen, die hier Ausstellungen, Lesungen und Konzerte veranstalteten, Body Art und Videos, Performances und Happenings aufführten. Dora Maurer gehörte dem Kreis an oder der Schauspieler und Regisseur Péter Halász vom legendären Squat Theatre, das 1977 nach New York auswanderte und von dort für Furore sorgte.

Nach nur drei Jahren wurde die Boglár-Kapelle von den Machthabern geschlossen, die Mitglieder der Gruppe aufgrund ihrer politischen und ästhetischen Radikalität in den Untergrund und die Illegalität oder ins Exil gedrängt. Den Einfluss der Boglár-Bewegung bis heute zeigt ein Begleitprogramm, bei dem unter anderem die in Berlin lebende Performance-Künstlerin Hajnal Nemeth auftritt.

Innovativ und zukunftsweisend

Daneben steht ein Camp zu nachhaltigem Bauen und sanften Technologien für Innovation, der multifunktionale Immersionsraum, ein futuristisches Festival mit Elektronik-Sounds und audio-visueller Kunst, das Center of Digital Experience oder das interdisziplinäre Ökologie-Projekt „Balatorium“ mit Künstler:innen und Wissenschaftler:innen im Nationalpark Balaton-Oberland.

Blickt man auf das Programm der Europäischen Kulturhauptstadt 2023 könnte man fast den Eindruck gewinnen, die politischen Konflikte zwischen Ungarn und Brüssel seien obsolet. Die Region Veszprém-Balaton pflegt ihr kulturelles Erbe uns zeigt sich zugleich als modern, welt- und zukunftsoffen.