Am 24. Februar 2022 griff Putins Armee die Ukraine an. Völkerrechtswidrig, ein Kriegsverbrechen. Nur drei Tage später brachte der Bundeskanzler die Ungeheuerlichkeit auf den Begriff: Zeitenwende. Die Rede war bemerkenswert, der Begriff nicht neu. Was damit gemeint war, gilt es noch politisch auszubuchstabieren. Was es für die Demokratie hier und anderswo bedeutet, ebenfalls.

Historiker wie Frank Bötsch hatten die Zeitenwende freilich schon vorher auf das Jahr 1979 verlegt. Neunzehnhundertneunundsiebzig? Ja 1979! Das war das Jahr indem mit der Revolution des Ajatollah Khomeini der demokratiefeindliche fundamentalistische Islam die politische Weltbühne betrat, die Sowjetunion in Afghanistan einmarschierte und Deng Xiaoping mit Wirtschaftsreformen den Aufstieg Chinas zur Supermacht programmierte. Das liest sich in der Tat wie die Sattelzeit einer geopolitischen Transformation.

Von einer Demokratisierung der Welt war allerdings auch hier noch nicht die Rede. Diese globale Utopie begann erst im anno mirabile von 1989, als mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums das „kurze 20. Jahrhundert“ (E.Hobsbawm), das mit der Oktoberrevolution im Jahre 1917 begonnen hatte, endete. Beide Jahre markierten zwei fundamentale Zeitenwenden in der Geschichte der Moderne. So konnte es nicht verwundern, dass der bis dahin unbekannte Regierungsbeamte Francis Fukuyama in einem weltweit überschätzten Essay gleich das Ende der Geschichte mit verkündete. Kapitalismus und Demokratie, so die geschichtsphilosophische Spekulation, hätten nun endgültig den Wettlauf der Systeme gewonnen. In beiden liberalen Ordnungen sei die Geschichte zu sich selbst gekommen. Mit der nach 1989 folgenden beispiellosen Durchkapitalisierung der Welt hatte Fukuyama Recht. Kann aber die Demokratie einen ähnlichen Triumphzug vorweisen? Ist die Welt heute demokratischer als am Ende des kurzen 20. Jahrhunderts? Oder haben wir drei Jahrzehnte lang keine Zeitenwende, sondern nur eine demokratische „Zwischenzeit“ erlebt, die nun im Jahre 2022 mit dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine endet?

Die demokratische Zwischenzeit führte in der letzten Dekade des 20. Jahrhunderts zu einer raschen Transformation zahlreicher autokratischer Staaten in demokratische Regime. Demokratieforscher zählten im Jahre 2005 weltweit 120 Demokratien, wenn auch auf der Grundlage eines Minimalverständnisses von Demokratie. Gleiche und freie Wahlen, wie fair und korrupt auch immer, genügten. Unbestreitbar ist aber, dass es in vielen Autokratien wie Demokratien zu einer Demokratisierungswelle kam. Die Welle wurde im Jahre 2008 gebrochen. Nach einem langen Aufstieg erleben wir nun schon im 15. Jahr einen kontinuierlichen Rückgang der Demokratie – weltweit. Dies betrifft nicht nur die zunehmende autokratische Verhärtung in Diktaturen wie China, Russland, den zentralasiatischen „Stan-Ländern“, im Iran oder in Nicaragua. Auch in den entwickelten rechtsstaatlichen Demokratien von den USA über Frankreich bis zu Deutschland sind, wenn auch in unterschiedlichem Maße Qualitätsrückgänge der Demokratie zu verzeichnen. Illiberalisierung, Polarisierung, (Rechts-)Populismus und die Zunahme politischer Gewalt sind heute die sich ausbreitenden Erwachsenenkrankheiten der entwickelten Demokratien. Während wir nach 1989 über die Demokratisierung der Demokratie nachdachten, reflektieren wir heute über ihre „Resilienz“ gegen die sich beschleunigende Erosion der liberal-demokratischen Qualität.

Exogene und endogene Ursachenkomplexe treiben die gegenwärtige Malaise der westlichen Demokratien. Wir durchleben gegenwärtig eine Dekade gefährlicher Akkumulation von Problemen, die wir im Westen selbst mit erzeugt haben und die nun die Demokratien von außen treffen: Migration, Pandemie, Klima, Krieg und Rückwirkungen wirtschaftlicher Sanktionen, die unsere Volkswirtschaften bisher offensichtlich stärker treffen als das Putin-Regime. Zu den hausgemachten Problemen zählt auch die Rückkehr von Verteilungskonflikten, die nach der Finanzkrise eingefroren waren und diskursiv hinter kleinteiligen Identitätsfragen zurücktraten. Es geht nun um die Frage, wie die Folgelasten der vielfältigen Krisen fair und gesellschaftsverträglich verteilt werden können. Dies ist eine endogene Herausforderung der Demokratie.

Krisen erfordern schnelles Handeln. Schnelle Entscheidungen werden weniger vom Parlament, häufig aber von der Exekutive geprägt und getroffen. Sie weisen dann aber einen typischen Mangel kluger Reflexion und demokratischer Deliberation auf, von handwerklichen Fehlern gar nicht zu reden. Die von Regierung und Verwaltung betriebene Corona-Politik auf Kosten des Parlaments und individueller Freiheiten liest sich im Nachhinein wie ein Menetekel für die zukünftigen Krisenentscheidungen dieses Jahrzehnts. Eine Aufarbeitung aus demokratischer Sicht steht dennoch aus. Aus Fehlern lernen ist kein demokratischer Selbstzweck, sondern die Vorbereitung auf zukünftige Krisen. Warum nicht durch einen Bürgerrat? Der Bundestag sucht doch gerade nach einem Thema.

Freiheitliche Demokratien leben von ihrer normativen Überlegenheit gegenüber autokratischen Zwangssystemen. Gleichzeitig müssen sie wirtschaftliche, soziale und politische Probleme effektiv und fair lösen. Dies darf auch in Krisenzeiten nicht auf Kosten ihrer normativen Grundlagen geschehen. Aber Krisen laden zu technokratischen Lösungen ein. Sie sind die Stunde der Exekutive. Parlamentarische Deliberation wird des krisenuntauglichen Zeitverbrauchs geziehen. Zudem würden parlamentarische Debatten und justizielle Vetomöglichkeiten das Risiko verwässerter Entscheidungen bergen, unangemessen für die Bewältigung von Krisen. Wenn uns zudem Experten und Wissenschaft schon vorher die effektivsten Lösungen unterbreiten, ist es dann nicht ein systemischer Webfehler der Demokratie, darüber noch von parlamentarischen Amateuren beraten lassen? Ist es nicht moralisch zwingend und politisch klug in der Klimafrage oder in Pandemien, auf demokratische „Girlanden“ zu verzichten, wenn es doch um das Überleben der Zivilisation oder den Tod von Tausenden Menschen geht? Oder, warum sollte eine Repräsentantin nicht an ihrer wertegebundenen Position festhalten, wenn die trivialerweise interessegeleiteten Repräsentierten eine Politikwende verlangen? Schlagen nicht hehre Werte krämerhafte Interessen?

Wer so denkt, verkennt das Wesen der Demokratie. Deren Institutionen und Verfahren sind durch Verfassung und Gesetze a priori fixiert, die Entscheidungsergebnisse aufgrund pluralistischer Werte, Interessen und Kompromisse aber kontingent. Wer das nicht versteht, hält den Pluralismus der Demokratie nicht aus. Der verlangt nach systemischen Zeitenwenden und biegsamen Institutionen. Mehr Autoritarismus wagen wäre dann der Slogan für die krisenhaften zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts. Orbán in Ungarn, die PiS in Polen, Bolsonaro in Brasilien und nicht zuletzt Donald Trump lieferten das Skript.

Um es deutlich zu sagen: der gefährlichste Angriff auf die Demokratie kommt heute von der Rechten. Der Beifall der Bevölkerung für sie wurde dies- und jenseits des Atlantiks lauter. Der Ruf nach der „wehrhaften Demokratie“ ebenfalls. Trivialisiert wird der konstitutionell und soziologisch aufgeklärte Begriff der „militant democracy“, wie ihn der Verfassungstheoretiker Karl Löwenstein und der Soziologe Karl Mannheim unter dem Eindruck des Faschismus entwickelt hatten. Er wird nun reduziert auf die Kompetenzerweiterung des Verfassungsschutzes, der ausgedehnten Beobachtung rechter Gruppen, diverser Flügel der AFD bis hinein in den Corona-Protest. Paradoxerweise kommt dieser Ruf nun häufig aus den Reihen der Grünen, deren Gründergeneration einst selbst als „dubiose Subjekte“ vom damaligen Verfassungsschutz beobachtet und vom Staatsdienst fern gehalten wurden.

Ein illiberales Instrument wird aber nicht schon dann (links)liberal, wenn es auf die Rechte angewandt wird. Staatsschutz darf nicht auf Kosten des Grundrechtsschutzes geschehen. Der Schlachtruf „keine Freiheit den Feinden der Freiheit“ stärkt nur den Trend zur Unversöhnlichkeit. Liberale Demokratien können sich langfristig nicht durch illiberale Maßnahmen schützen. Der Schutz muss aus dem liberalen Innen kommen: durch eine starke Zivilgesellschaft, einen lebendigen Parlamentarismus, ein wachsames und dennoch zurückhaltendes Bundesverfassungsgericht und pluralistische Medien, die informieren und nicht erziehen.

Aber genauso wichtig erscheint gerade in Krisenzeiten eine faire Lastenverteilung. Die unvermeidbaren Zumutungen der großen Transformation der Energiepolitik, der Klimawende oder der Sanktionsfolgen gegen Russland schieben die Verteilungsfrage gerade wieder in den politischen Vordergrund. Keine auf rechtliche und politische Gleichheit gegründete Demokratie kann auf die Dauer systematisch ungleich verteilte Lebenschancen ohne tiefe Risse aushalten.

Die Demokratie steht auch bei uns unter Druck. Die Krisenbewältigung der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts wird darüber entscheiden, ob sich die seit 2008 anhaltende Erosion der Demokratie zu einer existenziellen Krise verschärft. Deutschland und die meisten Staaten Westeuropas sind davor besser geschützt als Osteuropa oder die USA. Immun sind sie nicht. Der freiheitlich demokratische Staat und die zivile Gesellschaft sind durchaus in der Lage, die Voraussetzungen ihrer Zukunft zu garantieren. Nur das liberale und soziale Zusammenspiel beider wird uns erlauben, die Krisen als Chance zu begreifen. Dann werden wir uns nicht mehr um die Resilienz der Demokratie sorgen, sondern wieder an der Demokratisierung der Demokratie arbeiten. Eine Zeitenwende, demokratisch dazu.

Wolfgang Merkel ist Direktor emeritus am Wissenschaftszentrum Berlin, Prof. em. der Humboldt Universität und Senior Scholar am Democracy Institute der Central European University