Der graue, längliche Stahlkasten sieht ein bisschen aus wie ein Ufo, inmitten bemooster Apfelbäume und den für die Creuse typischen Schiefer- und Granitsteinhäusern aus dem 19. Jahrhundert. Es summt, die Vögel zwitschern.

Im Ufo, das eigentlich ein zum Ärztezentrum umgebauter Wohncontainer ist, geht es hingegen ganz modern zu: Das Telefon klingelt. Audrey Jacob nimmt ab. „Allô ? C’est le docteur“. Die Patientin war diese Woche schon da, aber besser geht’s ihr noch nicht. „Na dann kommen sie doch heute Nachmittag nochmal vorbei“, sagt die Ärztin mit beruhigender Stimme. Ein Problem haben, zum Arzt gehen – was für viele Städter das normalste der Welt scheint, war hier, in Ajain, lange alles andere als selbstverständlich.

Drei Jahre lang ohne Arzt

Als nach 40 Jahren der einzige Hausarzt der Gemeinde in Rente ging, gab es drei Jahre lang keinen Ersatz. Auch wenn die Region mit ihren grünen Hügeln und Wäldern ein Paradies für Naturliebhaber ist, reicht das offenbar nicht, um Ärzte langfristig in die Gegend zu locken. Alles haben sie versucht, ein Video für Social Media gedreht, Annoncen in Zeitungen geschaltet. Doch gebracht hat es nichts. Bis Martial Jardel kam und ihnen sein Projekt „Médecins solidaires“, solidarische Ärzte, vorstellte.

Der 32-Jährige ist selbst Landarzt im benachbarten Département Haute-Vienne. Nach dem Studium in Limoges und Paris ist er mit einem Wohnmobil durch ganz Frankreich gefahren, um als Aushilfsarzt praktische Erfahrung zu sammeln – eine „Tour der medizinischen Wüsten“, wie er sagt. Das hat ihn auf eine Idee gebracht: „Anstatt einem einzigen Arzt sehr viel abzuverlangen, kann man versuchen, dasselbe von mehreren Ärzten zu bekommen.“

Und so übernimmt jede Woche eine neue Ärztin, ein neuer Arzt das Ärztezentrum des Dorfs. Dafür reisen sie aus dem ganzen Land in den 1130-Seelen-Ort in Zentralfrankreich. Jardel ist dabei wichtig, dass man nicht „Pierre auszieht, um Paul anzuziehen“, also einer ebenso strukturschwachen Region einen Arzt für eine Woche wegnimmt. „Oft können sie sich von Kollegen vertreten lassen oder, wenn sie aus einem Ballungsraum kommen, haben die Patienten genug Alternativen – sofern sie nicht auch eine Woche warten können.“

Im Wartezimmer hängt eine große Frankreichkarte. Stolz zeigt Jardel auf die mit Pinnnadeln verbundenen Portraits von Ärzten. „Nantes, Narbonne, Paris, und einer kam sogar aus Nizza“, freut er sich. Sein Finger huscht dabei vom Norden in den Süden, vom Westen in den Osten. Wer einmal da war, wird hier verewigt.

Mehr Kühe als Menschen

So muss sich kein Arzt auf Jahre an die strukturarme Region binden. Die Creuse ist das am zweitwenigsten bevölkerte Département Frankreichs. In Ajain fährt nur zweimal am Tag ein Bus – und auch nur dann, wenn man am Vortag anruft. 418.000 zu 116.000, das ist das Verhältnis von Kühen und Menschen in der Creuse. Darunter sind aktuell 382 Ärzte - der nationale Durchschnitt liegt bei knapp über 2000 pro Département.

Landarzt zu sein, das bedeutet oft rund um die Uhr erreichbar zu sein, eine wie in Frankreich übliche 35-Stunden-Woche ist illusorisch. Oft ist man der einzige Ansprechpartner im Umkreis, wenn man nach einigen Jahren wieder weg will, fühlt man sich der Gemeinde moralisch verpflichtet. Das macht den Job unattraktiv, Nachrücker fehlen chronisch. Die Zahl der Allgemeinärzte ist in der Creuse in den vergangenen zehn Jahren von 140 auf 90 gesunken.

Hausgemachtes Problem

Darunter leiden vor allem Menschen wie Franck. Der hochgewachsene Mann mit grauem, ungestümen Haar kommt mit einer großen Einkaufstüte zur Tür rein. Darin ist sein ganzes Dossier, hunderte Seiten mit Belegen und Laborergebnissen. Er hat Herzprobleme. 60 Kilometer musste er fahren und trotzdem sei die Praxis die nächste. „Sechs Monate hatte ich keine Behandlung. Die Médecins solidaires sind meine Rettung“, sagt er.

Auch Sophie, die nur eine Impfung für ihre einjährige Tochter braucht, musste dafür extra aus Dun-le-Palestel anfahren, auch das sind knapp 30 Kilometer. „Unser Hausarzt hatte keinen Termin mehr frei“, sagt sie desillusioniert. „Ajain war die einzige Möglichkeit gewesen, ansonsten hätte ich fast einen Monat warten müssen.“

Catherine, die ihre Mutter begleitet, fasst das Problem zusammen: „Mit all den Ärzten die in Rente gehen, sind die, die noch bleiben, immer ausgebucht. Man findet kaum noch jemanden, der Zeit hat.“ Der Altersdurchschnitt der Mediziner in der Creuse liegt bei 54,4 Jahren, der dritthöchste im Land.

Burn-out-Prävention

Das ist in Frankreich keine Seltenheit. Ein Drittel aller aktiven Allgemeinmediziner ist über 60 Jahre alt. Und schon jetzt kämpfen viele Regionen mit dem Ärztemangel, mehr als sieben Millionen Menschen leben in einer sogenannten „désert médical“, einer medizinischen Wüste, rund sechs Millionen Franzosen haben keinen Hausarzt.

Die Nachfrage in Ajain ist dementsprechend. Seit Beginn des Projekts im Oktober 2022 wurden 2500 Behandlungen durchgeführt. 750 Menschen haben das Zentrum als ihren Hausarzt deklariert. Finanziert wird das Ärztezentrum größtenteils durch die Kassen-Abrechungen. Die Kommune übernimmt lediglich die Kosten für den Container und die Ausstattung – etwa ein Zehntel der jährlichen Haushaltseinnahmen von Ajain. Und die Ärzte machen Abstriche, damit das Projekt bestehen kann. Rund 800 Euro verdienen sie in der Woche hier – etwa die Hälfte ihres üblichen Gehalts.

Aber für Geld mache sie das ohnehin nicht, sagt Audrey Jacob. Sie ist knapp 400 Kilometer aus Valence angereist und diese Woche im Dienst. „Den Leuten helfen, sich gebraucht fühlen, das ist sinnstiftend“, sagt sie. „Ich würde meinen Kollegen auf jeden Fall empfehlen, das Ärztezentrum eine Woche zu übernehmen.“

Die Patienten seien froh, dass sie da sei. Sie seien dankbar, dass sie sich die Zeit für sie nehmen. „Deshalb habe ich diesen Beruf gewählt. Ich habe das Gefühl, dass ich an meinem Platz bin.“ Allerdings gibt es auch andere Anreize: Sie ist die ganze Woche in einem schicken Ferienhaus untergebracht und kann sich ausschließlich um ihre Patienten kümmern. „Das ist Burn-out-Prävention“, sagt sie – und grinst unter ihrer Maske.

Die Hilfsbereitschaft der Ärzte ist groß. Bis Ende des Jahres ist der Kalender schon voll, doch Martial Jardel hat inzwischen 150 Anfragen. Deshalb wird er Anfang Juni noch ein zweites Ärztezentrum eröffnen, ebenfalls in der Creuse, im Ort Bellgarde-en-Marche. Und wenn ein Zehntel aller Allgemeinmediziner in Frankreich sich zu einer Woche Dienst an der Allgemeinheit verpflichten würden, so hat es Jardel ausgerechnet, könnte er 200 Ärztezentren in ganz Frankreich eröffnen – und damit etwa 300.000 Menschen wieder einen Zugang zu einer ärztlichen Versorgung ermöglichen.