Dass die Wut jederzeit ausbrechen kann, merken Chefärzte, Klinikmanager und die Landesregierung gerade in Nordrhein-Westfalen. Tausende Operationen wurden verschoben, Arbeitsgerichte angerufen, Beschwichtigungsappelle gehalten – doch die Pflegekräfte an den Universitätskliniken streiken. Schon fast neun Wochen dauert der Arbeitskampf. Im Kern fordern die Streikenden: mehr Kollegen. In OP-Sälen, Notaufnahmen, Krankentransportern fehlt Personal. Ein Entlastungstarifvertrag soll festlegen, dass mehr Kollegen kommen. Woher die kämen?

In den vergangenen drei, vier Jahren wurde so viel über Pflege gesprochen wie kaum zuvor in der bundesdeutschen Geschichte. Schon vor der Coronakrise hatten sich die einst gewerkschaftsskeptischen Beschäftigten auf den Krankenstationen organisiert. Auch in den Altenheimen war das Personal so knapp, dass Betriebsräte, Krankenkassen, Fachpolitiker öffentlich warnten. Dann kam die Pandemie und mit ihr die Debatte um Intensivschwestern, die nach kräfteraubenden Dauerschichten kündigten.

Vor wenigen Wochen hat die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz, SPD, eine Milliarde Euro zur Verfügung gestellt, damit Pflegekräfte steuerfreie Boni erhalten. Unter Scholz werden, wenngleich Jahre zuvor angeschoben, weiter Pflegekräfte in Albanien, Mexiko und den Philippinen angeworben; der vor dem Berufseinstieg in Deutschland nach wie vor umfangreiche Papierkram wurde zumindest reduziert. Und in diesen Monaten ist Scholz durch Russlands Angriff auf die Ukraine gebunden. Doch es muss mehr passieren. Sonst wird es an deutschen Krankenbetten gefährlich.

Die Löhne waren zuletzt zwar gestiegen, der Stress auf den Stationen aber auch. SPD, Grüne, FDP schrieben im Koalitionsvertrag vom „Anspruch auf familienfreundliche Arbeitszeiten“, um neues Personal zu gewinnen, auch davon, überall die Pflegepersonalregelung 2.0 einzuführen – ein Instrument, über das gleich zu reden sein wird. Reicht das?

Um es trotz der Personalnot in Kliniken und Heimen gleich zu sagen – in Deutschland arbeiten mehr Pflegekräfte als in den meisten Ländern. So waren 2019 – je nach Statistik – bis zu 14 Pflegekräfte pro 100 000 Einwohner im Einsatz, im Schnitt verzeichnen selbst die wohlhabenden OECD-Staaten weniger als neun Pflegekräfte.

Doch obwohl Deutschland mit 1,9 Millionen Pflegekräften gut ausgestattet sein müsste, suchen fast überall Krankenhäuser, Reha-Kliniken, Altenheime dringend Personal. Dabei kamen zuletzt viele Pflegekräfte dazu. Allein in Krankenhäusern waren 2020 knapp 486 000 Beschäftigte in der Pflege tätig, 18 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor, schreibt das Statistische Bundesamt. Doch den Stress in Kliniken und Heimen leugnet niemand, warum ist die Lage also so schwierig?

Zunächst, der Bedarf an Pflege wächst rasant. Wie es im Barmer-Report heißt, werden bis 2030 mindestens 180 000 Beschäftigte allein in der Altenpflege fehlen. Die Zahl derjenigen, die Hilfe brauchen, nimmt wegen des steigenden Durchschnittsalters zu. Auch in den Kliniken landen deshalb mehr Patienten, die aufwendig versorgt werden.

Die Ampel-Koalition setzt nun auf die erwähnte Pflegepersonalregelung 2.0. In diesem meist PPR 2.0 abgekürzten System notieren Pflegekräfte pro Schicht und Station, was alles erledigt wurde. So soll der Personalbedarf der nächsten Monate bestimmt werden. Wofür die eingesetzten Pflegekräfte nicht reichten, wird nur bruchstückhaft aktenkundig.

Doch selbst unter der PPR 2.0 müssten, so schätzen Krankenhausleiter, sechs, sieben, acht Prozent mehr Pflegekräfte eingesetzt werden. Schon der frühere Gesundheitsminister Jens Spahn, CDU, hatte Mindestpersonalschlüssel eingeführt und die Krankenkassen verpflichtet, mehr Geld für die Pflege auszuschütten.

Die PPR 2.0 soll das ergänzen. Den Streikenden in den NRW-Hochschulkliniken reicht das nicht. Sie fordern einen genaueren Tarifvertrag wie er an der Charité gilt. An Berlins Universitätsklinik soll eine Intensiv-Pflegekraft seit diesem Jahr im Schnitt nicht mehr als 1,8 Patienten pro Schicht versorgen müssen, zuvor waren es der Regelung Spahns zufolge eher 2,5 Patienten. Die Charité wirbt nun mit ihrem Tarifvertrag um bis zu 700 neue Pflegekräfte – die kommen wegen des Renommees der Klinik womöglich, fehlen dann aber woanders.

Trotz steigender Löhne wollen schlicht zu wenige Männer und Frauen in diesen Job, der neben sozialer und technischer Kompetenz auch viel Schreiben erfordert. Ja, auch das ist Pflege: Akten, Listen, Gegenzeichnen – bis zu drei Stunden am Tag verbringen Beschäftigte in den Kliniken mit Bürokratie. Neben den Krankenkassen erzwingen dies fachliche Übereinkünfte, staatliche Vorschriften und die nur rudimentäre Digitalisierung. So aber dürften sich kaum mehr Azubis gewinnen lassen, und frühere Pflegekräfte, von den Zehntausende den Job wechselten, kommen auch nicht zurück.

An anderer Stelle will Gesundheitsminister Karl Lauterbach bald loslegen. Der SPD-Politiker hat eine 15-köpfige Epxertenkommission eingesetzt, die in den nächsten Monaten eine Klinikreform skizzieren soll. Denn das Land wird kaum anders können, als die Zahl personalintensiver Klinikbetten zu begrenzen, dafür die ambulante Versorgung auszubauen.

Viele Fachleute von FDP bis Linke sind sich einig: Diese Reform solle vernünftigerweise kein Personal abbauen, selbst wenn einzelne Kliniken schließen werden. Trotz hoffentlich steigener Zahlen an Pflege-Azubis müsse diese Reform vielmehr dafür sorgen, dass die alternde Gesellschaft überhaupt angemessen versorgt werden kann.

Anderswo ist man im Umgang mit knapper Pflege weiter. Auf 1000 Dänen kommen weniger als drei Krankenhausbetten, auf 1000 Deutsche dagegen acht Betten – die Lebenserwartung in beiden Staaten gleicht sich, allerdings setzt man in Dänemark stärker auf Prävention, Telemedizin, Aufklärung.

Dass Deutsche öfter in der Klinik liegen, hat auch damit zu tun, wie die Krankenhäuser hierzulande an ihr Geld kommen. Landeseigene, konfessionelle und die meisten privat betriebenen Kliniken erhalten von den Kassen pro Diagnose einen festen Satz. Es gibt Eingriffe, von denen Geschäftsführer und Chefärzte wissen, dass sie mehr kosten, als die Versicherungen zahlen, und solche, bei denen tendenziell Geld übrig bleibt. Mitunter werden lukrativere Eingriffe auch durchgeführt, so der Vorwurf, wenn sie nicht nötig waren. Ein beliebtes Beispiel: In Deutschland wurden 2017 je 100 000 Bewohner 309 künstliche Hüftgelenke eingesetzt, in Dänemark 248.

Doch nicht nur fragwürdige Prozeduren binden Personal. Anders als in Dänemark gibt es in Deutschland keine elektronische Patientenakte, die zügig von Praxen, Kliniken, Heimen eingesehen werden könnte. Dabei ist das auch medizinisch riskant. Denn über verschriebene Tabletten, Allergien, frühere OPs erfährt das Personal gerade bei hochbetagten Patienten oft wenig. Und so müssen auch Pflegekräfte viele Informationen erst herantelefonieren, um sie dann in eine hauseigene Akte zu tippen.

Immerhin, im Koalitionsvertrag steht: „Wir beschleunigen die Einführung der elektronischen Patientenakte.“

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,


wie Sie vielleicht mitbekommen haben, streiken aktuell alle Unikliniken in Nordrhein-Westfalen für den Tarifvertrag Entlastung - und das seit Wochen! Angetrieben von dem Wunsch, den jeder aus dem Gesundheitswesen in sich trägt: nämlich nicht selbst an den Arbeitsbedingungen zu zerbrechen, und wieder eine Pflege leisten zu können, die für die Patienten sicher ist, und vor allem auch
ihren Bedürfnissen gerecht wird.

Dieses Thema ist nicht nur meine persönliche Herzensangelegenheit, sondern ein seit Jahren drängendes Problem, das nachweislich Menschenleben kostet, und daher keinen Aufschub mehr duldet. Bisher warten wir aber vergeblich auf eine klare Positionierung seitens der Politik, die uns den Rücken stärkt und zu deutlich spürbaren Verbesserungen führt.

Aus diesem Grund wende ich mich hilfesuchend an Sie. Erinnern Sie sich an unser gemeinsames Gespräch während des Wahlkampfs im letzten Jahr? Wir haben über den Personalnotstand in der Pflege gesprochen, und obwohl wir nicht in allen Punkten einer Meinung waren, stand auch für Sie ohne Zweifel fest: Es muss eine angemessene Bezahlung und eine deutliche Entlastung der Pflegekräfte geben.

Ich weiß, am Ende des Tages sind viele Wahlkampfaussagen ausschließlich eines: leere Worte. Sie aber hatten mir Ihr Versprechen - wortwörtlich „von Mann zu Mann“ gegeben - sich für uns und somit auch für alle Patienten einzusetzen.

Ein Ehrenwort ist mir heilig, Ihnen auch? In der Hoffnung nicht „gescholzt“ worden zu sein, freue ich mich auf Ihre Antwort. Gern auch bei einem persönlichen Gespräch.

Hochachtungsvoll und mit freundlichen Grüßen
Ricardo Lange