Rob Krier wusste schon immer, wie es geht. Der 1938 in Luxemburg geborene Architekt galt als einer der wichtigsten Protagonisten der postmodernen Architektur. Zuvor als Theoretiker und Künstler aktiv, erhielt er in den 80er Jahren im Rahmen der Berliner IBA Gelegenheit, seine Karriere als bauender Architekt zu starten. Die von ihm geplanten Wohnhäuser und -anlagen in der Rauchstraße in Tiergarten und in der Kreuzberger Ritterstraße zählen heute zu den ansehnlicheren und beliebteren Ergebnissen der Bauausstellung.

Dass er heute als Vertreter einer vergangenen Stilepoche fast vergessen ist, wird seiner Bedeutung allerdings nicht gerecht. Denn geradezu visionär hat er bereits 1975 skizziert, wie unsere von den Verkehrsplanern malträtierten Städte wieder zu lebenswerten urbanen Räumen werden könnten.

„Stadtraum in Theorie und Praxis“ hießen damals Ausstellung und Buch über seine städtebaulichen Forschungen über den Stadtraum und seine Vorschläge, die Stadt Stuttgart, wo er damals lehrte, in diesem Sinn umzubauen, vor allem zu verdichten. Die mit Verve vorgetragenen Ideen erschienen damals radikal und wurden teils belächelt. Später konnte er in Holland eine Reihe von städtebaulichen Anlagen verwirklichen. In Potsdam am Stern entstand in den 90er Jahren das Quartier Kirchsteigfeld. Schule gemacht haben sie wohl nur deshalb nicht, weil Krier sie in einer postmodern neohistoristischen Formensprache gestaltete, die rasch aus der Mode kam. Doch geht es weniger um Haus und Fassade, es geht um Stadtstruktur.

Heute sprechen alle von Urbanität, Verdichtung, differenzierten Straßenräumen, abwechslungsreicher Architektur mit Identifikationspotenzial. In Fachkreisen zumindest. Die Realität sieht anders aus. Aber warum? Was innerstädtische Quartiere lebendig und lebenswert macht, kann eigentlich jeder Stadtbewohner mit einem Wort beantworten: Urbanität. Was gehört dazu? Zunächst eine gewisse Dichte, die intensives Zusammenleben fördert. Dichte ist in neueren Quartieren gegeben, aber nur zahlenmäßig, durch enorme Bauhöhe der vereinzelten Blocks vor allem, aber es fehlt das verknüpfende Netzwerk.

Außerdem gehört Verkehrsberuhigung dazu, Verkehrsentflechtung, die den öffentlichen Raum nutz- und erlebbar machen. Daran mangelt es, weil niemand den öffentlichen Raum bezahlen will. Und es braucht Architektur, die nicht ausschließlich objektbezogen, sondern stadtgestalterisch raumbildend konzipiert ist und dadurch interessante Stadträume schafft. Hier versagen die Planungsbehörden, die aus Bequemlichkeit immer gleiche Quadratrasterstadtpläne erzeugen, ohne städtebauliche Hierarchien und Höhepunkte, ohne den Blick für geformte Stadt-Räume.

Nutzungsmischung ist eine weitere Notwendigkeit für Urbanität. Sie sorgt dafür, dass wohnungsnahe Arbeitsplätze bereitstehen und Berufsverkehr vermieden wird. Das wissen zwar alle Stadt-, Verkehrs- und Umweltplaner, doch noch immer erschweren Planungsvorschriften und ängstliches Agieren der Planungsbehörden in vorgeprägten Schablonen, urbane Mischungen zuzulassen – etwa durch Lärmschutzverordnungen. Wie Quartiere funktionieren, hängt auch von der Konzeption der Bauten ab.

Gebraucht werden weniger Drei-Zimmer-Normwohnungen, sondern unterschiedliche Wohnungszuschnitte und flexible Grundrisse, die verschiedenen Lebensformen, Lebenszuschnitten und Lebensabschnitten gerecht werden. Wie lebendig ein Quartier wirkt und funktioniert, entscheidet sich hauptsächlich durch die Nutzung der Erdgeschosse. Hochparterrewohnungen sind für den Stadtbewohner uninteressant. Gewerbe, Cafés und Restaurants, soziale Anlaufstellen, Werkräume, Sport und Fitness müssen „kuratiert“ angesiedelt werden.

Ein großes Potenzial bieten die Dachflächen. Täglich wird in Deutschland eine Fläche von 40, manche sagen 100 Fußballfeldern überbaut, also großenteils versiegelt. Warum nicht wenigstens die Dachflächen standardmäßig begrünen, um die verheerenden klimatischen und wasserwirtschaftlichen Effekte der Bodenversiegelung zu mildern? Dachgärten bieten enormen Erholungswert und helfen dadurch, Freizeitverkehr zu vermeiden. In solcher Umgebung, in der Bewohner nicht nur wohnen, sondern auch arbeiten und Freizeit verbringen können, herrscht rege innerstädtische Betriebsamkeit, weil die Menschen weniger Anlass sehen, das Quartier zu verlassen. So entstehen soziale Nähe, Verbundenheit mit dem eigenen Kiez und Heimatgefühl. Die meisten neuen Wohnquartiere haben nichts dergleichen zu bieten. Die Wohnungsknappheit und der damit verbundene politische Druck sowie die Produktionsverhältnisse bedingen, dass besinnungslos Masse gebaut wird. „Bauen, bauen, bauen“, ist das Credo der Bauministerin zur Bewältigung der Wohnungskrise, von Qualität redet niemand.

Die Investoren lassen sich nicht lange bitten. Sie sind an rasch zu produzierender Massenware interessiert. Lebenswerte Stadtquartiere im oben angesprochenen Sinn bedingen sorgfältige, intensive Konzeption und Vorplanung. Die Behörden sind jedoch hoffnungslos überfordert und planen simple, schematische Quartiere. Die Auseinandersetzung mit vielen Einzelbauherren, Baugruppen, Genossenschaften ist ihnen zu langwierig und aufwendig. So werden die Quartiere in zu große Baulose aufgeteilt, die von kapitalstarken Investoren mit schematischen, beziehungslosen Einzelobjekten vollgestellt werden.

Selbst große kommunale Wohnungsbaugesellschaften sehen sich vorgeblich wegen des Kostendrucks gezwungen, monofunktionale Quartiere mit seriellen 08/15-Grundrissen in großen Einheiten zu entwickeln. Das Risiko, die Erdgeschosse durchgehend gewerblich oder öffentlich zu nutzen, gehen sie nicht ein. Und fragt man, warum die Dächer nicht begrünt und nutzbar sind, heißt es, das rechne sich nicht, das funktioniere nicht und das lasse sich nicht organisieren.

Über die Stadt der Zukunft wird viel nachgedacht, publiziert, ausgestellt. Es gibt auch gebaute Beispiele, doch es bleiben Einzelfälle. In Wien-Aspern etwa. Auf dem 240 Hektar großen Gelände eines ehemaligen Flugfelds entsteht die „Seestadt Aspern“ für 20.000 Menschen nach einem ungewöhnlichen Plan des Schweden Johannes Tovatt. Im Zentrum liegt ein mit 3,5 Hektar großer See. Eine Ringstraße erschließt den Stadtteil. Die Straßen verlaufen in alle Richtungen. Ein zentraler Bereich hat gar ein verwinkeltes, mittelalterliches Straßennetz und wird als konzentriertes, urbanes Zentrum erlebt.

Mit von der Partie ist der dänische Stadtplaner Jan Gehl, der in seinem viel beachteten Buch „Städte für Menschen“ dargelegt hat, wann und warum Städte lebenswert sind und wie sie menschenfreundlicher gemacht werden können. „Stadt auf Augenhöhe“ ist ein Kapitel darin und ein Plädoyer dafür, die Erdgeschosse aller Bauten unbedingt öffentlich zugänglich zu nutzen. Das spannende, hoffnungsbeladene Projekt, zurzeit halbfertig, ist bereits Wallfahrtsort für Architekten und Planer. Ob zu Recht, wird sich bald erweisen.

Es ist also bekannt, wie es besser geht, doch die Politik versagt. Einzig die Gesetz- und Verordnungsgebermaschinerie läuft gut geschmiert und produziert groteske Berge von hemmenden und kostentreibenden Vorschriften. Nach den damals gut gemeinten „Grüne-Witwen-Vorstadtsiedlungen“, den Schlafstädten und den monofunktionalen Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre wird bundesweit – diesmal sehenden Auges – in großem Stil eine neue Generation Wohnquartiere produziert, mit deren Defiziten wir Jahrzehnte werden leben müssen.

Die Europacity nördlich des Berliner Hauptbahnhofs zum Beispiel. Nach Rob Krier wurde dort alles falsch gemacht. Ein ganzer Stadtteil in der zentralsten Innenstadt: öde, langweilig, anonym, in dem niemand spazieren gehen mag. Krier möchte spazieren gehen. Er lebt natürlich nicht dort, sondern in einer Altbauwohnung in Charlottenburg, wo es all das gibt, was er mit seinen Quartieren auch gebaut hat.

Gebraucht werden also nicht nur ein Mietendeckel und Grundstücks- und Baukostendämpfungsinitiativen, um massenweise bezahlbaren Wohnraum zu schaffen. Gebraucht wird eine Qualitätsoffensive, damit die neuen Quartiere keine peripheren „Vorstädte“ alten Schlags werden, sondern lebenswerte Innenstadtquartiere mit eigenem, urbanem Charakter.

Rob Krier, 1995. Foto: Luca Vignelli