Wenn man die Regisseurin Pinar Karabulut fragt, wie sie den Theaterbetrieb auf ihrem bisherigen Weg kennengelernt hat, entgegnet sie trocken: „Wie viel Zeit haben Sie?“ Um dann zu einem pointierten, auch deprimierenden Exkurs über die Arbeitsrealitäten an deutschen Bühnen 2022 auszuholen. Karabulut erzählt, dass Disponent:innen ihr eigentlich gewohnheitsmäßig drei Tage mehr Probenzeit auf der Bühne geben müssten, weil sie so viele Stunden bei Diskussionen mit männlichen Kollegen verliert, „die glauben, ich hätte keine Ahnung“.

Mit Leitern aus technischen Abteilungen etwa, die ihr bestimmte Wünsche einfach nicht erfüllen. Auch mit Schauspielern, die sich Szenenanweisungen trotzig verweigern. „Die Institution Theater“, so Karabulut, „hängt den gesellschaftlichen Realitäten noch immer hinter her.“ Klar, es gibt Ausnahmen, es wurde begonnen, über Macht und Missbrauch an den Häusern zu reden. Nur geändert habe sich größtenteils: „Nichts“.

Pinar Karabulut macht seit 2015 Theater, inzwischen zählt sie zum künstlerischen Leitungsteam der Münchner Kammerspiele, wo sie daran arbeitet, „Narrative auf die Bühne zu bringen, die ich aktuell finde, präsent, diskussionswert. Die ich für politisch wichtig halte“. Feminismus, Diversität, Queerness sind Themen, denen sie Raum gibt. Auch in ihrer Inszenierung von Sivan Ben Yishais „Like Lovers Do“ – ein Text, der so extrem von sexualisierter Gewalt aller Abart erzählt, dass zumindest zu Beginn der Proben „jede und jeder in der Produktion Momente des mentalen Zusammenbruchs hatte“, so die Regisseurin. Dadurch allerdings, dass ihre fünf Performer:innen die Horror-Schilderungen im neofuturistischen Setting als genderfluide Aliens quasi rückschauend verhandeln, wird bei Karabulut eine Hoffnungsebene eingezogen. Wenigstens in der Zukunft scheinen tradierte Muster überwindbar.

Pinar Karabulut zählt zu den Regisseur:innen, die in diesem Jahr zum ersten Mal mit einer Inszenierung beim Theatertreffen gastieren. Neben ihr sind das Ewelina Marciniak und Lukas Holzhausen. Gemeinsam haben die Festival-Newcomer:innen, dass sich in ihren Arbeiten direkt oder indirekt spiegelt, mit welchen Diskursen das Theater selbst ringt, wo es Fortschritte gemacht hat oder auf der Stelle tritt.

Der Schweizer Regisseur Lukas Holzhausen empfiehlt das Sachbuch „Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten“ von Christian Baron, „um über den Kulturbetrieb nachzudenken“. In den vergangenen Jahren sei die Arbeiterschaft, das Proletariat auf dem Theater zu oft als „White Trash“ dargestellt worden. Holzhausen spricht aus Erfahrung, er hat an Produktionen mitgewirkt, „in denen wir dem Zeitgeist der Reality -Shows hinterher gehechelt sind. Es konnte gar nicht kaputt genug zugehen“.

Seine Inszenierung des Romans „Ein Mann seiner Klasse“, ebenfalls von Christian Baron, liefert einen entschiedenen Gegenentwurf zu dieser Herabwürdigung. Erzählt wird die autobiografische Geschichte vom Aufwachsen mit einem trinkenden, gewalttätigen Vater, der immer wieder auch überraschende Seiten offenbart, flüchtige Momente von Zärtlichkeit.

Der Darsteller dieser Figur ist bei Holzhausen ein Laie, der gelernte Zimmermann Michael Sebastian, den eine Mitarbeiterin des Schauspiels Hannover im Supermarkt angesprochen und für die Produktion gewonnen hat. Der stellt seinen Körper immer wieder, wortlos, als Projektionsfläche zur Verfügung. Im Bewusstsein der Ambivalenzen, die so ein Spiel vor zumeist gutbürgerlichem Publikum hat. Sollten deshalb diejenigen, die im Maschinenraum unserer Gesellschaft schuften, kein Gesicht mehr auf der Bühne bekommen?

„Du spielst die Jungfrau, richtig? Die Hauptrolle. Du darfst hier auf der Bühne stehen, den meisten Text sagen. Nur warum? Weil du aussiehst wie die Besetzung, die sich jeder Tattergreis vorstellt für die Heilige Johanna?“ So wird die Schauspielerin Annemarie Brüntjen von einem Kollegen angegiftet – in der Produktion „Die Jungfrau von Orleans“ der polnischen Regisseurin Ewelina Marciniak. Hervorgegangen ist die Szene aus einer Improvisation. „Wir haben über Gewalt im Theater als Institution geredet, darüber, wie es ist, als junge neue Kollegin ins Ensemble zu kommen – wo die älteren Kollegen versuchen, dich zu demütigen“, so Marciniak.

Die Theatermacherin (deren „Werther“-Adaption derzeit am Deutschen Theater läuft) hat zusammen mit der Dramatikerin Joanna Bednarczyk am Nationaltheater Mannheim Schiller neu gelesen. Sie halte nichts von einer Protagonistin, „die nur dadurch zur Heldin werden kann, dass sie stirbt“, sagt Marciniak. Entsprechend zeigen sie und Bednarczyk die Geschichte als feministischen Befreiungskampf. Stark, reflektiert und ebenso das Theater selbst befragend wie die Arbeiten von Karabulut und Holzhausen.

Noch eine Gemeinsamkeit haben die drei Debütant:innen. Sie alle freuen sich sehr über die Einladung zum Theatertreffen. Das zumindest bleibt eine Konstante: Die Einladung nach Berlin ist nicht nur als Auszeichnung gemeint, sie wird auch so empfunden. Zumal die scheidende Leiterin Yvonne Büdenhölzer das Festival „modernisiert und frischen Wind rein gebracht“ habe, so Pinar Karabulut, die noch nie eine Theatertreffen-Vorstellung live sehen konnte. Es scheiterte früher daran, dass sie keine Tickets bekam. An manchen Stellen hat das Theater eben doch dazugelernt.

Da wird oft weggesehen. Szene aus Ein Mann seiner Klasse vom Schauspiel Hannover. Foto: Katrin Ribbe