Herr Danquart, fast 60 Jahre nach Pier Paolo Pasolinis berühmter Reise entlang der italienischen Küste haben Sie mit einem Filmteam die gleiche Reise gemacht. Warum haben Sie sich ausgerechnet den brüllend heißen August dafür ausgesucht?

Na, Pasolini fuhr 1959 auch im August. Der „Ferragosto“, das ist die wichtigste Zeit in Italien. Und es war ja der Arbeitsauftrag, den Pasolini damals hatte ...

… der Schriftsteller und Regisseur sollte für die Zeitschrift „Successo“ zusammen mit einem Fotografen einmal an der Küste entlang um den gesamten Stiefel reisen.

Und er wollte dabei herausfinden: Wie verbringen die Italiener ihren Urlaub an den Stränden? Deshalb hieß sein Ergebnis auch „Die lange Straße aus Sand“. Der Wandel zur Moderne fand in Italien just in dieser Zeit statt, 1959 war der Bruch sofort sichtbar. Der Massentourismus war gerade im Entstehen begriffen, außerdem gab es eine Migrationsbewegung aus dem bitterarmen Süden in den wohlhabenderen Norden. Pasolinis wichtigste Analyse war seine Kritik am aufstrebenden Konsumismus, den er „hedonistischen Faschismus“ nannte.

Sie haben sogar das gleiche Auto gewählt wie er, einen Fiat Millecento.

Das war der einzige Fixpunkt, den wir hatten, neben den Texten aus Pasolinis Reisetagebuch und der Reiseroute. Sonst sollte sich alles vor Ort ergeben. Eine Bestandsaufnahme der Gegenwart.

Pasolini hatte seinen Millecento damals vom Filmemacher Federico Fellini geschenkt bekommen.

Unseren haben wir gekauft. Nach den neun Wochen Dreh hatten wir 8500 Kilometer auf dem Tacho. Und ich muss zugeben, nach über zwei Monaten war ich ziemlich erledigt. Jeder beneidet mich jetzt um die Reise, aber es ist auch ziemlich anstrengend gewesen: Immer fahren, immer gucken, immer drehen, ständig neue Hotels.

Welche Art von Durchhaltevermögen braucht es da?

Man muss im Auto schlafen können, sonst bekommt man einfach zu wenig Schlaf. Wir drehten bis abends, dann muss man noch etwas essen, steht morgens um vier oder fünf wieder auf, um das schöne Licht zu haben. Mittags zu drehen ist filmisch langweilig. Man muss gegen die mentale Müdigkeit kämpfen, immer wach bleiben, um diese dokumentarischen Momente nicht zu verpassen. Da war ich froh um meine junge Truppe mit ihrem Stamina. Wenn einer sagte: „Das war doch gerade ein schönes Bild“, haben wir angehalten, sind zurückgefahren und haben das Bild gemacht. So haben wir auch einen schlafenden, geradezu elegischen Schiffsfriedhof entdeckt.

Sie haben sich für Ihren Dokumentarfilm mit keinem einzigen Pasolini-Kenner verabredet, sondern sich vom Schicksal treiben lassen. Die Gesprächspartner:innen sind Zufallsbegegnungen an den Schauplätzen der Reise. Erstaunlicherweise reden alle in größter Expertise von Pasolini.

Ich wollte im besten Sinne naiv und nicht vorbereitet der Wirklichkeit begegnen. Und dieser Wirklichkeit Wahrhaftigkeit abgewinnen. Durch vorrecherchierte Inszenierungen hätte ich alles zerstört. Viele Dinge hätte ich mir auch vorher gar nicht vorstellen können.

Was zum Beispiel?

Den Besuch in Ostia.

Das ist der Vorort von Rom, in dem Pasolini 1975 grausam ermordet wurde. Bis heute sind die Umstände nicht geklärt.

Ich dachte am Vorabend noch: Wie stellt man den Tod dar im Film? Und dann finde ich dort diese übergroßen toten Tiere mit diesen knopftoten Augen …

Das waren verwitterte Spielgeräte auf einem alten Kinderspielplatz.

Ja, die Gegend ist ja im Prinzip ein Slum. Hier zeige ich eben nicht den Badestrand – den hätte es auch gegeben –, sondern die Industriegegend, wo nur die ärmsten Leute leben. Dort traf ich zwei Kleinwüchsige, die an einer Haltestelle auf den Bus warteten.

Wie durch ein Wunder waren für die beiden Pasolinis Thesen und Überzeugungen sehr wichtig.

Ja, er war ja Kommunist und schwul und Schriftsteller und Regisseur, der den Kapitalismus kritisiert und sich sehr für die arme, einfache Bevölkerung interessiert hat. Und die interessiert sich nun Jahrzehnte später immer noch für ihn! Irre, wie wir plötzlich über den Tod redeten und Mutmaßungen anstellten. Direkt dahinter saßen drei alte Männer auf Campingstühlen, die an der Industriebrache badeten und so taten, als wären sie im Fünf-Sterne-Hotel.

Für viele Deutsche ist das ein Großteil der Italiensehnsucht: die Behauptung der Lebensart, egal, wie widrig die Umstände.

Herrlich ist das. Schon Pasolini hat solche gebrochenen Bilder gesehen. Viele sagen, dass er geradezu prophetisch war in seiner Gesellschaftskritik. Die von ihm gezeigten Missstände habe ich auf meiner Reise auch gefunden. Deshalb ist der Film zwar eine Liebeserklärung an Italien, aber auch ein Abgesang.

Die Macht des Konsums ist nicht kleiner geworden, davon erzählen die Menschen in Ihrem Film. Auch die Migration ist heute nur globaler: Die Flüchtenden kommen einfach von weiter her.

Genau darüber konnte ich mit den Leuten überall sprechen. Wir redeten permanent politisch, die Offenheit gegenüber meiner Kamera war schon ungewöhnlich. Sonst schreit ja jeder gleich auf mit seinem Recht aufs eigene Bild.

Warum war das so?

Die Italiener sind ohnehin ein sehr vokales Volk. Oft hat das Zauberwort „Pasolini“ alle Herzen sofort geöffnet.

Vielleicht war es Ihr Vorteil, dass Sie nicht in der Rolle des Touristen gekommen sind.

Das glaube ich auch. Die Leute merken natürlich, dass ich einen anderen Bezug habe. Pasolini ist ja schon immer in meinem Leben. Als er ermordet wurde, habe ich gerade angefangen, Film zu studieren. Das hat mich verändert und mein filmisches Werk beeinflusst. Da treffen wir also einen älteren Mann, der liest Zeitung und fragt: Was macht ihr da? Ja, wir drehen einen Film über Pasolini – und dann geht es sofort los mit dem Erzählen. Er war auch Schriftsteller, hat spontan ein langes Gedicht vorgetragen, 20 Minuten, aus dem Stehgreif. Da gibt es eine ungeheure Direktheit bei den Leuten.

Erstaunlich, dass die noch da ist nach mehr als 60 Jahren Massentourismus. Normalerweise fallen um diese Zeit die Horden aus dem Norden ein.

Viele haben ihr Leben auf diesen Tourismus abgestimmt. Ganze Stadtteile veröden, weil sie nur noch Airbnb machen. In Venedig stehen Wohnungen dafür ständig leer. Die Situation ist in Florenz und Rom genauso. Sogar in Capri. Vielleicht ist der einzige Vorteil der Pandemie das Innehalten: dass man einmal darüber nachdenkt, ob man das alles noch so will.

Die ersten massenhaften Reisen der 50er und 60er Jahre waren der Auftakt zu Deutschlands Status als „Reiseweltmeister“. Die Sehnsucht nach Asien wäre heute nicht denkbar, ohne dass es vorher Italien gegeben hätte.

Italien ist noch immer das beliebteste Reiseland der Deutschen. Und diese Massen, mehrere Millionen im Jahr, beschränken sich hauptsächlich auf den Norden, Ligurien oder die Toskana. Außerdem noch auf die größeren Städte. Nach Kalabrien verliert sich kaum einer.

Sie machen sich ein filmisches Vergnügen daraus, wie Pasolini die Brüche aufzuzeigen: Man sieht vermeintliches Dolce Vita am Strand und gleich dahinter einen Industrietanker.

Oh ja, und auch Pasolinis Bilder kann man noch brechen, wenn er etwa über die Stadt Tarent spricht, die Stadt am Ionischen Meer.

Er schreibt: „Tarent, die perfekte Stadt. Hier lebt man wie in einer Muschel, in einer geöffneten Auster.“ Weil sie zwischen zwei Meeren liegt.

Ich zeige dort eigentlich nur die Industrie, heruntergekommene Fassaden!

Ist das komisch oder tragisch?

Es passiert halt was beim Zuschauer. Aus dem gleichen Grund habe ich in Matera, der uralten Stadt bei Bari, in einem Altersheim gedreht. Denn ich wusste natürlich, dass auch Pasolini hier gefilmt hat.

Matera ist durch ihn, der dort als Erster 1964 das Matthäus-Evangelium verfilmte, zu einem weltberühmten Drehort für Bibelfilme geworden. In seinen Höhlen hatten bis 1950 noch 15 000 Menschen unter rückständigsten Bedingungen gelebt. Nach Pasolini kam Hollywood, etwa für „Die Passion Christi“ mit Mel Gibson.

Pasolini hatte damals, beeindruckt von den starken Gesichtern der einfachen Leute, noch die Bewohner als Laienschauspieler eingesetzt. Und diese alten Menschen in meinem Altersheim waren damals jung gewesen, also mussten sie Pasolini kennen! Am Ende eines langen Ganges saßen die alten Männer, spielten Karten, legten Patiencen. Ich fragte: Darf ich hier drehen? Sie kümmerten sich lange nicht um mich. Am Ende erzählt ein an Parkinson leidender Mann, wie er damals zusah, als Pasolini die Kreuzigung drehte: „Sie machten mit dem Kreuz ein Loch in den Boden. Bumm! Bumm!“

Haben Sie auf Ihrer Reise selbst etwas Neues entdeckt?

Ich muss sagen, ich war erschrocken über die Unterschiede zwischen Nord und Süd, die ich ja alle theoretisch kannte. Aber ich hatte das vorher nie selber besucht. Riesige Industrieanlagen, Neapel, Palermo, verlassene Dörfer … Und dann diese ursprüngliche Gastfreundschaft! Als wir mit einem alten Mann in einem Dorf drehen wollten, hatten wir zuvor 17 Stunden nichts gegessen. Wir waren ewig durch die Einöde gefahren, hatten alle Hunger. Und der Mann fragt seine Frau, ob sie uns Spaghetti kochen kann. Wir haben das so genossen.

Jetzt schwärmen Sie doch! Obwohl Sie einen so gesellschaftskritischen Film gemacht haben. Was zieht Sie an Italien so an?

Ich glaube, ich habe in einem früheren Leben in Italien gelebt, da gibt es irgendeine Erinnerung in mir. Außerdem haben mir meine Eltern gesagt, dass sie mich dort gezeugt haben, am Lago Maggiore, das ist schonmal ein Hinweis. Als Fünfjähriger war ich mit meinen Eltern in Jesolo, später am Lago di Lugano. Ich mag die Lebensweise, und was den Lago die Como angeht: Da gibt es dreieinhalbtausend Meter hohe Berge mit Schnee – und unten am See mediterranes Klima mit Palmen. Das findet man, glaube ich, in ganz Europa nicht noch einmal. Italien hat immer schon zu mir gesprochen und war bereits ein Sehnsuchtsort, der sich vor zehn Jahren manifestiert hat.

Wie das?

In Form eines uralten Hauses aus dem 17. Jahrhundert, das ich damals im Norden gekauft habe. Es ist ein Stück von einem alten, kleinen Kloster in einem noch immer intakten Ort. Ich war der erste Fremde dort.

Aber in Ihrer Italiensehnsucht sind Sie nicht allein.

Inzwischen ist sogar ein Ort wie Matera 2019 Kulturhauptstadt gewesen – und jetzt auch entdeckt und demnächst touristisch überlaufen.

Ist das nun etwas Schreckliches oder etwas Tolles, dass sich eine Nation als Ganzes so hoffnungslos in ein anderes Land verlieben kann?

Zum Glück geht die Liebe auch in die andere Richtung. Die italienische Kultur ist natürlich bei uns eingezogen. Max Frisch hat mal gesagt: Wir holten die Arbeiter, und es kamen Menschen. Die prägen natürlich unsere Kultur. In den 60er und 70er Jahren gab es hier keinen Cappuccino. Heute gehört er zum Standard wie Mozzarella Caprese, Pizza und Knoblauch als gängiges Küchengewürz. Bis dahin wurde „Knoblauchfresser“ als Schimpfwort benutzt. Man muss sagen, die Beziehung zwischen Deutschland und Italien ist eine erwiderte Liebe.

IMPRESSIONEN EINER REISE Im Fiat (unten links) machte sich Danquart auf den Weg. Besuchte ein Seniorenheim in Matera (links), beobachtete Schwimmer vor Containerschiffen (unten) und ging auf den Markt in Genua (ganz unten).

ZUR PERSON

DER FILMEMACHER

Pepe Danquart, 66 (oben), hat in Freiburg studiert und dreht seit 1980 vor allem Kurz- und Dokumentarfilme. Einem breiten Publikum bekannt wurde er, als „Schwarzfahrer“ 1994 den Oscar für den besten Kurzfilm erhielt. 2011 kam seine Dokumentation über den Grünen-Politiker Joschka Fischer in die deutschen Kinos, „Joschka und Herr Fischer“. Pepe Danquart lebt in Berlin.

DER FILM

Seit diesem Donnerstag läuft „Vor mir der Süden“ in den deutschen Kinos. Die Reisereportage über Italien hat der Regisseur im Sommer vor der Corona-Pandemie gefilmt, genau 60 Jahre nach Pier Paolo Pasolini, der sich 1959 auf eine ähnliche Tour durch sein Heimatland begab. Bei aller Kritik am Tourismus scheint bei Pepe Danquart immer auch die Liebe zum Belpaese durch.