Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.“ Hermann Hesses Zeilen aus seinem Gedicht „Stufen“ ist ein magisches Hoffnungsversprechen auch für jede neue Regierungsbildung. Was aber tun, wenn die neue Regierung – wie jetzt in Berlin – die alte Regierung wird und bleibt, dann liegen vor uns die „Mühen der Ebenen“: Nicht hoffen, sondern tun, nicht klagen, sondern kämpfen.

Berlin ist eine Einwanderungsgesellschaft, seit Jahrzehnten wird darauf in der Schule zu wenig Rücksicht genommen. Die historisch-politische Bildung in den Fächern Geschichte und Politische Bildung wurde auf ein Minimum zusammengestrichen, das Patchwork-Fach GeWi (Gesellschaftswissenschaften) wurde geschaffen, in dem von allen Fächern ein bisschen und von keinem etwas Genaues gelernt wird. Kinder und Jugendliche in der Schule einer Einwanderungsgesellschaft brauchen aber fachwissenschaftlich erstklassig geschulte Lehrer:innen, die ihnen Raum und Zeit innerhalb eindeutig begrenzter Fächer eröffnen, um die vielen Geschichten zu einer Geschichte werden zu lassen: Die Geschichte des Aufnahmelandes beziehungsweise des Einwanderungslandes, die als Nationalgeschichte verfasst ist, also die öffentlichen Narrative; die familiär tradierten Geschichten und Erzählungen der Mehrheitsgesellschaft, also die privaten Narrative der Mehrheit, ihrer Mitschüler, ihrer Nachbarskinder; die Geschichte ihrer Eltern, aus den Herkunftsländern und Regionen der Migranten:innen, also die öffentlichen Narrative der Minderheit und die familiär tradierten Erzählungen ihrer Einwander-Communities, das heißt, die privaten Narrative der Minderheiten.

Partizipation und historisch-politische Bildung kann nur gelingen, wenn es genügend Zeit und kommunikativen Raum für diese vielfältigen Narrative gibt: Individuelle Identität kann nur entstehen, wenn die Jugendlichen diese vielfältig gebrochenen und sich überlappenden historischen Erzählungen in fairen, faktenbasierten Diskussionen, mit kontroversen Argumenten bilden und ausprobieren können. Berlin braucht in der Schule in Geschichte und Politik diesen Raum und diese Zeit, damit Kinder und Jugendliche eine würdevolle und demokratische Kultur erleben und später zu überzeugten Demokraten heranreifen.

Die neue Senatorin muss diesen „Zauber, der uns beschützt und der uns hilft, zu leben“ organisieren, sie muss Prioritäten setzen und harte Kämpfe zwischen den Egoismen der einzelnen Fächer durchstehen und im Sinne einer demokratischen Einwanderungsgesellschaft befrieden. Durch GeWi, Geschichte und Politische Bildung als Ein-Stunden-Fach, veraltete Rahmenlehrpläne, die sich einzig an der deutschen Nationalgeschichtsschreibung orientieren, immer mehr Quer- und Seiteneinsteiger, die pädagogisch überfordert und fachwissenschaftlich oft nicht für diese Aufgabe ausgebildet sind, wird dies nicht gelingen. Auch einfache kleine Veränderungen und ein „weiter so“ helfen Berlin nicht.

Es muss der große Wurf gelingen: Fachkompetente Geschichts- und Politiklehrkräfte bereits in der Grundschule, das Fachprinzip durchgehend bis zum Abitur, kleine Klassen, damit die Kinder und Jugendliche sich würdevoll und kommunikativ ausprobieren können, und kontinuierlich – in ihrer Arbeitszeit – fort- und weitergebildete Lehrkräfte, die sich von ihrer Senatorin gestützt und nicht bevormundet fühlen, respektiert und nicht allein gelassen. All das kostet viel Geld, aber wer hat behauptet, dass demokratische Bildung umsonst und billig ist: Es sind Investitionen in unsere demokratische Gesellschaft und Zukunft.

Berlin sollte endlich realisieren: Historisch-politische Bildung ist in einer Einwanderungsgesellschaft eine zentrale Kompetenz. Und nach dieser Erkenntnis auch konsequent handeln, denn was aus einer „Demokratie ohne Demokraten“ wird, wissen wir spätestens seit dem Ende der Weimarer Republik.

Der Autor ist Berliner Landesvorsitzender des Verbands der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands.