Tauen „frozen conflicts“ je auf? Was geschieht mit diesen Territorien, die kaum ein Land anerkennt, wenn die Gewalt dort aufhört und die Waffen schweigen, aber der Konflikt bleibt? Gibt es Lösungsansätze für solche Konflikte, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs immer häufiger werden?

Weltweit existieren heute etwa 200 solcher Konflikte, in denen meist Separatisten staatliche Ansprüche auf abgetrennte Territorien erheben, die von der überwältigenden Mehrheit der Staatengemeinschaft nicht anerkannt werden. Nordzypern ist ein besonders prominentes Beispiel dafür. Seitdem an Weihnachten 1963 der letzte Schuss zwischen griechischen und türkischen Bewohnern der Mittelmeerinsel fiel, hat sich das politische Umfeld stark verändert, doch der Streit über ein vereintes Zypern dauert seit fast 60 Jahren unverändert an.

Der Schritt der türkischen Zyprioten, etwa 25 Prozent der Gesamtbevölkerung, Nordzypern 1983 als unabhängigen Staat auszurufen, blieb ein einsames Unterfangen. Weder der Beitritt des griechischen Zyperns in die Europäische Union 2003 noch unendliche Verhandlungsrunden mit der EU und den Vereinten Nationen haben irgendetwas gebracht. Nordzypern ist 2022 im Wesentlichen, was es 1963 auch war: eine politisch, wirtschaftlich und kulturell isolierte Region.

Solche eingefrorenen Konflikte häufen sich im postsowjetischen Raum. Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Wieder- und Neugründung unabhängiger Staaten ist Europa und Asien gesprenkelt mit Flecken, die zwischen Krieg und Frieden stehen, zwischen Staat und Nicht-Staat, die keine Anerkennung der Weltöffentlichkeit finden, aber eines zeigen: Die Welt besteht nicht nur aus Nationalstaaten, Großmächten und souveränen Territorien. Es gibt etwas dazwischen.

De-facto-Staaten sind immer das Ergebnis eines heißen Kriegs. Doch weil die Interessen der kämpfenden Gegner nicht adressiert werden, weil die Parteien Lösungen weder suchen noch finden, gibt es keinen stabilen Frieden, ist der Wiederausbruch von Gewalt jederzeit möglich. Und schließlich sind „frozen conflicts“ keineswegs jene entfernten Provinzkonflikte, die gerne als zu weit weg, zu peripher wahrgenommen werden. Sie sind immer auch internationale Konflikte, da das Eingreifen eines militärisch starken äußeren Staates den Konfliktverlauf maßgeblich bestimmt.

In Korea und Taiwan ist das China, in Georgien, Moldau und der Ukraine Russland, alles ehemalige Empires, die auf den Verlust vergangener Größe mit Aggression, Expansion und der Revision von Grenzen in der Gegenwart antworten.

Der Begriff des „frozen conflict“ hat in den 1990er Jahren das Vokabular der internationalen Politik betreten. Er sollte die Tatsache unterstreichen, dass militärische Auseinandersetzungen zwar gestoppt waren, der Konflikt aber nicht gelöst war und Gewalt jederzeit ausbrechen konnte. Die Realität in diesen Territorien zeigt jedoch, wie zwiespältig es ist, solche Konflikte wirklich als eingefroren zu bezeichnen. Die Akteure bewegen sich vielmehr dynamisch zwischen Versuchen, einen stabilen Frieden zu verhandeln, und Eskalationen zu erneuter Gewalt, oft angestachelt von einem äußeren Patron. Ein Blick auf die Realität zeigt, warum der Vorschlag des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, den Krieg in der Ukraine „einzufrieren“, so problematisch ist.

Transnistrien ist ein Ergebnis eines solchen Vorgangs, von Berlin nur 1600 Kilometer entfernt. Anfang der 90er Jahre haben russischsprachige Eliten, meist Geschäftsleute aus der Stahlindustrie, die Abtrennung des kleinen Flecken Landes von der neu entstandenen Republik Moldau durchgesetzt. Transnistrien, zwischen Moldau und der Ukraine gelegen, mit rund 375000 Einwohnern, wird heute von kaum einem Land der Welt anerkannt und hat ein autoritäres Regime, das freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit massiv beschneidet.

Die russische Regierung liefert dem isolierten Regime gratis Gas und nützt die aufgelaufenen Schulden als Pfand im Poker um Konfliktverhandlungen. Zwischen den Bewohnern Transnistriens und der Republik Moldau gibt es keine ethnischen Ressentiments, der entscheidende Faktor ist vielmehr die russische Regierung, welche die ungelöste Situation für sich nützt.

Das Einzige, was die endlosen Verhandlungen vorangetrieben hat, war die Einschaltung von Menschen, an die im Westen zunächst keiner dachte: lokale Geschäftsleute, die Verbindungen nach Russland wie in den Westen besaßen. Diese Mittelsmänner mit weitreichenden wirtschaftlichen Netzwerken haben in letzter Zeit dazu beigetragen, dass der Export nach Europa heute mehr als die Hälfte des Außenhandels ausmacht und die Alltagspraxis in Transnistrien weniger eingefroren ist, als es der Status eines global nicht anerkannten Landes vermuten lässt.

Auch an der Grenze Georgiens sind die Ergebnisse eines „frozen conflicts“ zu besichtigen. Hier setzten Separatisten 1992 die Abtrennung der Region Abchasien vom neu gegründeten Georgien durch und etablierten ein staatsähnliches, indes von der Weltöffentlichkeit nicht anerkanntes Gebilde. Seit 2008 unterstützt Russland die Abchasier und verteilt dort russische Pässe, während der Nachbar Georgien 2014 den Status eines EU-Beitrittslands erlangt hat. Schmuggel, Schwarzmarkt, hohe Kriminalität und ein massiver Bevölkerungsrückgang um die Hälfte auf 250 000 Menschen sind das Ergebnis im Kaukasus.

Als Einzige vermochten zeitweilig solche Menschen Bewegung in den Konflikt zwischen Abchasien und Georgien zu bringen, die sich jenseits der ausgetretenen diplomatischen Pfade bewegen: abchasische und georgische Rechtsanwältinnen, Ärztinnen und Lehrerinnen.

Vor 2014 konnten sich diese Frauengruppen, von internationalen Organisationen unterstützt, erfolgreich bei Themen einigen, die zunächst jenseits des politischen Konflikts lagen. So handelten sie Lösungen für sauberes Trinkwasser, für Sicherheit bei der Grenzüberquerung und muttersprachlichen Schulunterricht für Minderheiten in beiden Ländern aus, bevor der georgisch-russische Krieg diese Erfolge wieder eindämmte.

Diese Art der Diplomatie könnte auch Kritikern einer feministischen Außenpolitik als Botschaft dienen. Denn Geschlechtergerechtigkeit erwies sich hier nicht als mögliche spätere Folge eines Friedensschlusses, sondern sie beeinflusste ihn nachhaltig oder bedingte ihn sogar.

In all diesen „frozen conflicts“, ob an der Grenze Georgiens, Moldaus oder in den sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk, ob in Kaschmir an der Grenze Indiens zu Pakistan oder in Taiwan spielen nukleare Waffen eine zentrale Rolle. Interessanterweise zeigt die Erfahrung der letzten dreißig Jahre, dass die Drohung mit nuklearem Einsatz den Konflikt vor Ort zwar anheizt, der Besitz dieser Waffen die internationalen Beziehungen aber eher stabilisiert.

Auch das gegenwärtige Pokerspiel Putins um das ukrainische Kraftwerk Saporischja, immerhin das größte Kernkraftwerk Europas, gehört zur typischen Politik eines externen Patrons. In den bisherigen Fällen gehen nukleare Drohgebärden auf lokaler Ebene meist mit globaler Stabilität und dem Nicht-Einsatz der gegenseitigen nuklearen Machtausstattung einher.

Lösungsansätze gibt es wenige und in den meisten Fällen ist die Fortdauer des Status Quo die Regel. Die Gesellschaft des abtrünnigen Gebiets bleibt weiterhin von einem äußeren Patron abhängig, aber auch der verkürzte Staat findet kaum Aufnahme in internationale Allianzen oder Verteidigungsbündnisse, solange der Konflikt an seiner Grenze nicht gelöst ist.

Ganz sicher ist der Vorschlag des sächsischen Ministerpräsidenten bezüglich der Ukraine von wenig Kenntnis solcher Konfliktverläufe geprägt. Auch auf der Krim lässt sich das traurige Ergebnis eines solchen Einfrierens gut beobachten. Die Industrieanlagen der Halbinsel werden abtransportiert, die Krimtataren massiv unterdrückt, die Wasserversorgung der Bevölkerung ist kaum gewährleistet.

Einige Erfahrungen lassen dennoch aufhorchen und könnten vielleicht auch Bewegung in den Krieg in der Ostukraine bringen. Was für Dynamik sorgen könnte, ist die Kombination dreier ganz unterschiedlicher Ansätze. Zum einen ist da die Möglichkeit, zivilgesellschaftliche Akteure in Verhandlungen einzubeziehen, deren Themen außerhalb des eigentlichen politischen Konflikts liegen – zumindest kann eine vereister Konflikt so etwas abtauen. Der Getreidedeal, der das dringend benötigte ukrainische Getreide jetzt ansatzweise auf den Weltmarkt bringt, gehört in dieses Repertoire der Kriseneindämmung.

Ein anderer Ansatz besteht darin, die feindliche Rhetorik einzudämmen. Angesichts der Dauerbeschallung mit russischer Propaganda und der verbalen Ausfälle von Putins Gefolgsmann Dmitrij Medwedew- erscheint dies aktuell als sehr schwierig, doch die Erfahrung mit vergleichbaren Konflikten zeigt die Bedeutung von Sprache für ihren Verlauf.

Von beiden Seiten, von der russischen Regierung wie von ukrainischen Politikern, werden derzeit Begriffe benutzt, um die eigene Gesellschaft zu mobilisieren oder die internationale Gemeinschaft auf die jeweilige Seite zu ziehen. Nach einem halben Jahr Krieg kennen wir diese Begriffe nur zu gut: Barbarei, Genozid, Terrorstaat, ethnische Säuberung, Faschismus, Kolonialismus. Doch die Diffamierung des Gegners führt immer zu einer Art Gegensprache und hat sich historisch als großes Hindernis für Verhandlungen erwiesen, für die sich die einander diffamierenden Gegner persönlich an einen Tisch setzen müssen.

Sprachliche Abrüstung gilt es mit militärischer Aufrüstung zu verbinden. Der historische Vergleich zeigt, dass solche Konflikte, die diplomatisch nicht lösbar waren, sich durch militärische Dominanz einer Seite aufzulösen begannen. Nur durch ein militärisches „Auftauen“ des Konflikts verliert die andere Seite an Interesse, den Konflikt endlos fortzusetzen, und stimmt Verhandlungen schließlich zu.

– Die Autorin lehrt Europäische und Globalgeschichte an der Universität Rostock.