„Hier ist fast alles möglich“, schwärmt die landeseigene Tourismus-Gesellschaft „visitBerlin“: „Spazieren gehen, Picknicken, joggen, Fahrrad fahren, Ball spielen, Drachensteigen lassen, kiten, skaten, Minigolf spielen, Yoga, grillen, gemeinschaftlich gärtnern, Vögel beobachten, Pause machen, Himmel angucken und vieles mehr.“ Und weiter: „Die Stimmung beim Sonnenuntergang ist überwältigend. Mitten in der Stadt bietet sich ein Horizont!“

Und was für einer: In keiner anderen Metropole gibt so einen freien Blick. Hier gibt es eine Naherholung der besonderen Art, nicht nur für die Augen. Ein Biotop für hunderte Vogelarten. Ein friedlicher, ruhiger Ort, geschaffen und bewahrt durch einen Volksentscheid.

Doch jetzt ziehen am Horizont graue Betonwolken auf: Der Senat hat sich aufgemacht, die Stimmung zu verderben. Er will hier Häuser hinsetzen, um fast jeden Preis. Aber warum?

Die schwachen Argumente der Baufreunde

Das zentrale Argument ist die Wohnungsnot. Seine Kraft schöpft der Feldrevisionismus deshalb aus der stoischen Behauptung seiner Vernunft, als Sedativum verabreicht er den Skeptikern Wohlklangwörter: „Behutsam“ soll gebaut werden, so heißt es im Koalitionsvertrag, so sagt es auch Kai Wegner, und nur auf „einem sehr geringen Umfang der Fläche des Feldes“, versichert die SPD.

„Sehr verträglich“ soll alles werden, verspricht Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt. Und wem das noch nicht reicht, bekommt von SPD-Chef Raed Saleh sogar eine „Ewigkeitsgarantie“ für die Unantastbarkeit der Reste des Feldes. Wie lange diese Ewigkeit dauert, sagt er nicht. Die Amtszeit von Politikern ist jedenfalls endlich.

Dabei sind die Argumente der Baufreunde gar nicht so vernünftig. Schauen wir sie uns doch mal etwas genauer an.

Im Koalitionsvertrag wird suggeriert, dass die „zugespitzte Wohnungsnot“ eine Bebauung des Tempelhofer Felds quasi erzwingt. Tatsächlich aber ist der Senat nicht einmal in der Lage, einen berlinweiten Katalog möglicher Flächen zu erstellen. Das ungenutzte Potenzial zur Bebauung, Verdichtung, Aufstockung, Erhöhung und Umwandlung ist jedenfalls enorm und würde auch ohne das Tempelhofer Feld für Jahrzehnte reichen. Ohnehin stellt sich die Frage, welchen quantitativen Beitrag das Feld zur Lösung des Wohnungsproblems leisten könnte, wenn es nur „behutsam“, „sehr verträglich“ und „in einem sehr geringen Umfang“ bebaut werden würde.

Und damit kommen wir zur Qualität der Bebauung. Der Senat verweigert jegliche Auskunft über heutige Kostenschätzungen mit Hinweis auf den ausstehenden Ideenwettbewerb. Für den allerdings wurde mit 1,2 Millionen Euro fünfmal mehr im Haushalt vorgesehen als für andere Großbauprojekte. Da bleibt noch genug für eine schöne Kampagne übrig.

Für das Feld müssten alle Erschließungsarbeiten vorgenommen werden, unabhängig von der Zahl der zu errichtenden Wohnungen. Aber erst bei einer hohen Zahl von Einheiten wäre der Aufwand wirtschaftlich vernünftig. Oder bei sehr teuren Einheiten. Aber das soll es ja beides nicht geben.

Vor zehn Jahren rechnete der Senat mit Baukosten von mehr als 610 Millionen Euro für weniger als 5000 Wohnungen. Das dürfte sich bis heute erheblich verteuert haben. Da hier ausschließlich landeseigene Wohnungsgesellschaften und allenfalls ein paar gemeinwohlorientierte Genossenschaften bauen sollen, um die Mieten niedrig zu halten, müssten diese sich massiv verschulden. Und selbst dann könnten sie allenfalls vielstöckige Billigbauten errichten.

Ein Horizont aus Kränen und Häuserwänden

Bis das Tempelhofer Feld zur Linderung der Wohnungsnot beitragen würde, verginge zudem eine lange Zeit. Selbst die größten Optimisten unter den Experten rechnen mit mindestens achteinhalb Jahren bis zur Fertigstellung der ersten Wohnung. Die Realisten gehen von mehr als zehn Jahren aus. Da wäre mit Nachverdichtung anderswo schon mehr erreicht. Und fertig wären die Quartiere wohl kaum vor 2040.

Das wiederum bedeutet, dass der Horizont erst jahrelang an Kränen endet und später an hohen Häuserwänden. Fast eine ganze Generation der jährlich 2,5 Millionen Besucher müsste Tiefbaurammen, Presslufthämmer, Bagger, Laster und Dieselgeneratoren ertragen. Besonders behutsam oder sehr verträglich wird das jedenfalls nicht.

Mehr als siebzig Prozent derjenigen, die das freie Feld jedes Jahr nutzen, kommen aus den umliegenden Steinwüsten in Neukölln, Kreuzberg, Tempelhof und Schöneberg. Doch der Senat will eine stadtweite Neuabstimmung – und bricht damit das Versprechen von Kai Wegner, die Stadt nicht weiter zu spalten. Zwei Drittel der Berlinerinnen und Berliner wohnen außerhalb des S-Bahnrings in der Nähe anderer Naherholungsgebiete und haben nichts vom Tempelhofer Feld. Sie brauchen es nicht. Also haben sie auch nichts dafür übrig. Etliche Koalitionspolitiker sind bereits eifrig bemüht, ihnen einzureden, mit einer Bebauung des Feldes, das doch nur ein paar verwöhnten Großstadtgrünen als Spielplatz diene, ihre eigenen freien Flächen besser schützen zu können.

Der Wille, unbedingt auf dem Tempelhofer Feld zu bauen, wird nicht so sehr getragen von tiefer Sorge über die Wohnungsnot, sondern mehr von Trotz und dem Wunsch nach Revanche. Dafür opfert der Senat, was seine Repräsentanten oft stolz präsentieren: dass Berlin anders ist. Was für ein Märchen: Es war einmal. Mitarbeit: Teresa Roelcke.