Wer ins Theater geht, lebt mit Identifikationsschwierigkeiten. Wer fände sich schon ohne größere Abstraktionsleistungen im spanischen Infanten Don Karlos wieder, wer in der penetranten Gatten-Pusherin Lady Macbeth? Das dramatische Andockproblem ist nicht neu, in der Aufführungspraxis wird längst darauf reagiert. Gern hebeln Regisseurinnen und Regisseure arg antiquiert wirkende Aspekte mit entsprechenden Inszenierungsideen aus; zum Beispiel, indem sie Helden als armselige Würstchen auftreten lassen und devote Frauen-Figuren parodistisch als Männerfantasien markieren.

So jedenfalls hielt es die ästhetische Postmoderne, die von den 1990er bis weit in die 2010er Jahre hinein als state of the art galt. Neue Perspektiven auf die alten Stücke, den dramatischen Kanon, entstanden im Inszenierungsnahkampf mit den tradierten Werken. Die überlieferten Texte dienten als Material, um den Abstand, aber auch weiter existierende Berührungspunkte zur (Theater-)Geschichte neu zu bestimmen.

Zurzeit geschieht mit dem Kanon etwas anderes. Der Trend geht zur unmittelbaren Gegenwart: Vielerorts versucht man die alten Texte und Stücke selbst ans Heute anzupassen. Zumindest auf den Großstadt-Bühnen stehen Branchen-Klassiker immer häufiger in zeitgenössischen Bearbeitungen auf dem Spielplan: Man nutzt sozusagen die Zugkraft der dramatischen Traditionsmarken und schafft „Überschreibungen“, die sich oft weit genug vom Ursprungstext entfernt haben, um als eigenständige Uraufführungen zu gelten. Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen“ treffen heute als Umweltaktivisten im Co-Working-Space aufeinander, August Strindbergs „Fräulein Julie“ wird mit kompromittierendem Videomaterial düpiert.

Faust sinniert über die Welt

Dass Stoffe immer wieder neu bearbeitet und reformuliert werden, hat Tradition, angefangen von der Antike über Brecht bis zu Heiner Müller. Als Genrebegriff im heutigen Sinne ist die „Überschreibung“ aber erst Mitte der 2010er Jahre ins breite Stadttheater-Bewusstsein gerückt. Seinerzeit begann der australisch-schweizerische Regisseur und Autor Simon Stone, Stücke von Euripides, Tschechow oder Ibsen zu verheutigen, indem er zwar deren Figuren und Grundkonflikte beibehielt, sie aber mit komplett neuen Dialogen radikal in die Gegenwart übersetzte.

Seither hat sich die Kanon-Bearbeitung enorm ausgeweitet. Die Grenzen von der Über- zur Umschreibung sind fließend geworden: Häufig geht es nun darum, den Kanon zu kritisieren und zu korrigieren, alte Narrative durch neue Gegen-Narrative zu ersetzen. Vor allem die Revisionsarbeit an den dramatischen Frauenbildern hat Konjunktur. Faust denkt über die Welt nach – und Gretchen über Faust: Die denkbar schrägen Geschlechterverhältnisse, die sich, historisch bedingt, durch viele Genre-Klassiker ziehen, sollen in den Überschreibungen geradegerückt werden.

Als eine der wichtigsten Vertreterinnen solch einer Bearbeitungspraxis gilt die Regisseurin Ewelina Marciniak, deren jüngste Inszenierung „Iphigenia“ bei den Salzburger Festspielen Premiere hatte. Diese Überschreibung, die Marciniaks Dramaturgin Joanna Bednarczyk frei nach Euripides und Goethe erstellt hat, ist frappant.

Erst Held, dann Feindbild

Im alten Mythos soll Iphigenie bekanntlich einen Opfertod sterben. Ihr Vater Agamemnon, griechischer Heerführer im Trojanischen Krieg, willigt aus Staatsräson ein. Bei Marciniak und Bednarczyk tritt uns Agamemnon nun als aalglatter Ethikprofessor entgegen, der einen #MeToo-Fall vertuscht. Weil er schlechte Publicity fürchtet, kehrt er den sexuellen Missbrauch Iphigenies durch seinen Bruder Menelaos kurzerhand unter den Teppich seiner Luxusvilla. Das moralische Entscheidungsdilemma zwischen Staatsräson respektive Gesellschaft und Familie entfällt. Der plakativ unmoralische Ethikprof vertritt handfeste Eigeninteressen, die in hölzernen seminaristischen Text-Einschüben mit strukturellen Machterhaltungsinteressen des Patriarchats in eins gesetzt werden.

Vom dramatischen Protagonisten zum gesellschaftspolitischen Feindbild: Diese Karriere wird zurzeit vielen männlichen Kanon-Figuren zuteil. Am Deutschen Theater Berlin ist es Georg Büchners „Woyzeck“, der als personifizierter Problemfall Mann durch sein Eigenheim stiefelt. Ja, tatsächlich: Der prekäre Tagelöhner von Büchner ist am DT zu einem narzisstischen Schauspieler mit Borderline-Syndrom mutiert, bei dem im Pandemie-Lockdown der Femizid-Impuls getriggert wird. Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani haben den Plot in ihrer Überschreibung „Woyzeck Interrupted“ in eine Verlesung zahlloser realer Tötungsdelikte eingebettet, die Männer weltweit an Frauen begangen haben. Das Drama schrumpft zum Thesenstück, die Figur zum Täterprofil.

Textbausteine, Diskurspool

Nun endet bekanntlich nicht jedes Drama mit einem tödlichen Frauenopfer. Der Kanon enthält auch Komödien oder Werke, die sich zumindest gut als solche inszenieren lassen, weshalb es das Mängelwesen Mann in den frauenzentrierten Überschreibungen auch in lustig gibt. Es tritt dann nicht als Killer, sondern als Kasper an die Rampe. Zu einem solchen hat die Regisseurin Yana Ross zum Beispiel gerade Anton Tschechows „Iwanow“ im Berliner Ensemble geplättet – mit dem dramatischen Holzhammer. Der nihilistische Selbstzerfleischer aus der russischen Provinz ist bei ihr zu einem infantilen Tennis-Clown mutiert, der sich im Gütersloher Sportverein „Netzroller“ im Stuhlkreis für diskriminierungsfreies Sprechen blamiert und den Output einer attraktiven Jungliteratin bekichert, während er selbst keine Pointe eingenetzt kriegt.

Dass in einem Kontext, der auf „feministische Überschreibungen“ schaut, bisher fast nur von Männerfiguren die Rede war, muss mindestens paradox wirken. Erstaunlicherweise spiegelt es aber exakt die Bühnenrealität wider. Die vorrangige Kanon-„Korrektur“ besteht weniger in einer Aufwertung des weiblichen als vielmehr in einer Abwertung des männlichen Casts – im Sinne einer dramatischen Komplexitätsreduktion. In vielen Überschreibungen werden Stückpersonen nicht von innen heraus als Charaktere entwickelt, in deren ambivalenten Eigenschaften und oft verqueren Handlungen sich die Bedingungen ihrer Zeit offenbaren und aus deren Betrachtung sich deshalb viel über die Funktionsweisen von Gesellschaft und die Abgründe des Homo Sapiens erfahren lässt, also über die Dialektik von Individuum und Sozialgefüge. Sondern die Figuren wirken wie Hohlkörper, die von außen mit den entsprechenden Textbausteinen aus dem gesellschaftspolitischen Diskurspool befüllt wurden.

Ewiges Frauenfigurenleid

Dass sich die Bandbreite fürs männliche Rollenfach unter diesen Umständen ähnlich überschaubar darstellt wie früher diejenige fürs weibliche, wird branchenintern gern als Retourkutsche gerechtfertigt: ausgleichende Gerechtigkeit für jahrhundertelanges Frauenfigurenleid. Fragt sich nur, was damit gewonnen ist. Schaut man sich in der Bühnenrealität um, sieht es eher nach einem Verlustgeschäft aus. Die Tatsache, dass dem Drama zuverlässig die Dramatik ausgetrieben wird, wenn statt Dialogpartnern Parolenträger ins Rampen-Rennen geschickt werden, ist lediglich der offensichtlichste Effekt.

Schwer wiegen die dramatischen Nachteile ironischerweise auch für die Frauenfiguren. Haben sie es mit der Variante Kasper zu tun, wirken sie nämlich sogar umso unemanzipierter, je fortschrittlicher das Vokabular klingt, das sie im Munde führen. Denn warum haben diese Frauen einen solchen Clown nicht längst hinter sich gelassen? Erstaunlich genug schließlich, dass er ihnen überhaupt unterlaufen ist. Treffen die Bühnenfrauen indes auf den Typus Killer, ist eine (Re-)Produktion weiblicher Opfergeschichten nahezu unvermeidlich: der Super-GAU für eine Bearbeitungspraxis, die sich ja gerade die Revision des kanonischen Frauenopfers auf die Fahnen geschrieben hat. Die Hamburger Iphigenia jedenfalls – zunächst eine erfolgreiche Pianistin – bricht sich eigenhändig die Finger, nachdem sich ihre Karriere als väterlicher Wunsch entpuppt hat. Final brennt der Flügel.

Emanzipierte Schwestern

Dass es im dramatischen Genre funktionieren kann mit der klug aktualisierenden Kanon-Befragung, zeigt die freie Produktion „Sistas!“, eine „Drei-Schwestern“-Version nach Tschechow vom freien Kollektiv Glossy Pain in der Berliner Volksbühne. Auch hier trifft man auf Protagonistinnen, die sich mit hoher Diskursfitness in der gesellschaftspolitischen Debattenlandschaft verorten – als Akademikerinnen, Künstlerinnen, Schwarze, Frauen, Zehlendorferinnen. Nur werden die Diskurse hier eben nicht auf hölzerne Oberflächen-Statements herunterdividiert, sondern mit Hirn, Witz und hohem Bewusstsein für die fatale Neigung des Individuums zu Widersprüchlichkeiten wirklich ausverhandelt.

Sprich: Der Abend fängt an dem Punkt, mit dem die meisten anderen aufhören, überhaupt erst an. Mit Schwestern, die emanzipiert sind – und sich gegebenenfalls trotzdem eines finanziell stabilisierenden Paarungsverhaltens befleißigen. Die klassismusbewusst leben – und dennoch nicht frei von Ressentiment-Anflügen sind. Und deren (hier noch existierender) Vater gerade als solcher zwar unleugbare Schwächen aufweist, aber alles andere als ein Unsympath ist. Weil hier alle tief in ihre eigenen Verblendungszusammenhänge schauen, ist die Welt bei „Sistas!“ genauso komplex wie bei Tschechow, nur gegenwärtiger – und das Theater ähnlich kompliziert wie das Leben. Mit anderen Worten: ein Bühnen-Glücksfall.