Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit. Michael Riedel kennt natürlich das Karl-Valentin-Zitat – aber er weiß auch genau, wie man Jugendliche dazu bringt, sich der kreativen Herausforderung zu stellen. Auf der Bühne im großen Sendesaal des RBB an der Masurenallee sitzen 55 Schülerinnen und Schüler mit ihren Instrumenten und spielen die „Jeux d’enfants“, die „Kinderspiele“ des französischen Komponisten Georges Bizet – die natürlich alles andere sind als lockere Tändeleien, besonders für ein Nachwuchsorchester.

Hier ist also höchste Konzentration gefragt. Und die stellt der Mann in der Mitte her, Michael Riedel eben. Er hat alle Tricks eines ausgebufften Motivationstrainers auf Lager, für vergessliche Kids Ersatzkopien der Noten zur Hand – und sogar eine Packung Taschentücher, die er dem Schlagzeuger über die Köpfe der anderen hinweg zuwerfen kann, als der plötzlich Nasenbluten bekommt.

Die jungen Leute kommen aus drei verschiedenen Schulen, sie proben für ein interaktives Konzert am 27. März in den Italienischen Höfen der Zitadelle Spandau. „Circle Sounds“ heißt das Projekt, das wie eine klassische Sinfonie aus vier Sätzen besteht: Erst wird es einen Soloauftritt des Weltklassegeigers Christian Tetzlaff geben, dann spielen Profis vom Deutschen Symphonie-Orchester das Septett von Maurice Ravel. Anschließend sind die Schülerinnen und Schüler dran – und schließlich entsteht zum Finale ein „Mitmachorchester“, an dem sich auch noch alle aus dem Publikum beteiligen können, die dazu Lust haben.

Als „Symphonic Mob“ wird so ein spontan zusammengemixtes Instrumentalensemble bezeichnet, die Idee dazu wurde beim Deutschen Symphonie-Orchester (DSO) entwickelt. Einmal pro Jahr veranstaltet das DSO seinen Mob in der Mall of Berlin, vor Corona jeweils mit Hunderten Mitwirkenden und dem Chefdirigenten Robin Ticciati als Dompteur der musikbegeisterten Massen. Ticciati wird jetzt auch bei den „Circle Sounds“ dabei sein. Im Idealfall, so die Hoffnung der Macher, wird dieses Event vielen jugendlichen Zuhörer:innen Lust machen, selbst aktiv zu musizieren.

Je früher Kinder mit klassischer Musik in Berührung kommen, desto besser, lautet eine pädagogische These. Denn wer Bach, Beethoven, Brahms und Co. kennenlernt, bevor sich Vorurteile gegenüber der vermeintlich verstaubten Kunstform gebildet haben, der ist bereit, Oper und Sinfoniekonzert als eine mögliche Form der angenehmen Freizeitgestaltung anzuerkennen. Auch wenn sie oder er zunächst weder ein Instrument lernen noch Veranstaltungen der so genannten „ernsten Musik“ besuchen mag. Später aber – nach der Pubertät oder auch erst als Eltern eigener Kinder – stoßen dann jene leichter zur Klassik-Gemeinde dazu, die in jungen Jahren schon einmal reingeschnuppert haben.

Unter dem Begriff „Education“ werden in englischsprachigen Ländern alle Aktivitäten zusammengefasst, bei denen es darum geht, neue Zielgruppen für die schönen Künste zu gewinnen. Und weil das cooler klingt als „Bildungsarbeit“, wurde das Wort hierzulande gerne adoptiert. Simon Rattle gilt als derjenige, der „Education“ in Deutschland populär gemacht hat. Gleich zu Beginn seiner Ära als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker initiierte der Brite ein Projekt, bei dem das Spitzenorchester zur Begleitband für tanzende Schüler:innen wurde. Ein Filmteam begleitete die Probenphase der ersten Choreografie und machte daraus den Kinohit „Rhythm is it“.

Die beiden Berliner „Education“-Pioniere gerieten dabei unverdienterweise fast in Vergessenheit. Dabei waren es die Berliner Symphoniker, die als erste „Konzerte für die ganze Familie“ anboten und schon in den 1970er Jahren in Grundschulen gingen, um dort ihre Instrumente vorzustellen. Ähnlich verdienstvolle Basiskulturarbeit leistete der Dirigent Andreas Peer Kähler mit seinem Kammerorchester „Unter den Linden“ seit 1990, sogar als privatwirtschaftliches Unternehmen. Erst weit nach der Jahrtausendwende wurden die Jugendprojekte dann langsam auch bei den großen Klassikinstitutionen zur Chefsache, entstanden dort eigene Education-Abteilungen. Mittlerweile ist deren Angebot allerdings so umfangreich, dass man sich manchmal fragt, wo all die Kinder herkommen sollen, die die staatlich finanzierten Häuser mit ihren Aktivitäten beglücken wollen.

Hinzu kommt der eklatante Musiklehrer:innenmangel, besonders an Berliner Grundschulen. Die wenigen Fachkräfte finden zwar tagtäglich neue Education-Angebote in ihren Postfächern vor, haben aber gar nicht die Kapazitäten, sie mit ihren Klassen wahrzunehmen. Hinzu kommt auch der Wettbewerb um die nachwachsenden Lehrkräfte. Für Hochschulabsolventen erscheint es oft attraktiver, in der Educationabteilung eines Orchesters oder Opernhauses anzuheuern, als an den Schulen zu unterrichten, oft gegen den Widerwillen eines Großteils des Klasse.

Gegen den Aufmerksamkeitskannibalismus auf dem Education-Markt setzt Michael Riedel seine „Circle Sounds“. Denn er vernetzt hier gleich vier verdienstvolle Initiativen miteinander. Da ist zum einen „Rhapsody in School“, ein Programm, das hochkarätige Künstler deutschlandweit in die Klassenzimmer schickt, da ist das vor sieben Jahren ins Leben gerufene Kammermusikprojekt des DSO, bei dem Orchesterprofis mit Schüler:innen proben, da ist die Abteilung „Musikvermittlung“ der Eisler-Hochschule, die innovative Konzertformen entwickelt, und schließlich, als Veranstalter, der Verein „Klassik in Spandau“, in dessen künstlerischem Beirat Riedel mitarbeitet. Hauptberuflich ist er übrigens selbst Musiklehrer, am Zehlendorfer Droste-Hülshoff-Gymnasium. Er betrachtet den Education-Komplex also aus beiden Perspektiven – und wünscht sich daher mehr Kooperation statt Konkurrenz.

„Deine Töne müssen ganz klar sein, knackig und präzise“, fordert Michael Riedel vom Trompeter und lässt ihn sein Solo im Marsch aus Bizets „Jeux d’enfants“ gleich mehrfach allein vorspielen. „Und jetzt nochmal alle zusammen, ab Buchstabe B!“ Weil die Holzbläser gerade in einem anderen Raum proben, singt Riedel die fehlenden Stimmen ein, während sich Streicher, Trompeten und Schlagwerk bemühen, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, der nicht martialisch-eckig ist, sondern elegant-federnd. Riedel hört jede Ungenauigkeit, feilt beharrlich an den Details, doch er bleibt dabei stets freundlich im Ton und strahlt so viel Begeisterung für die Sache aus, dass sich seine Energie auf das gesamte Orchester überträgt, bis zum hintersten Notenpult, wo eine besonders zierliche junge Frau am Kontrabass steht. Nach seinen bildreichen Erklärungen ist der Sound im Ensemble dann tatsächlich sofort hörbar besser, zumindest ein paar Takte lang. Kunst macht viel Arbeit. Ist aber wirklich schön.

„Circle Sounds“ findet am 27. 3. um 16 Uhr in der Zitadelle Spandau statt. Infos unter klassik-in-spandau.de.

Konzentriert bei der Sache. Im Sendesaal des RBB an der Masurenallee proben Jugendliche aus drei verschiedenen Schulen mit Musiklehrer Michael Riedel für das Konzert Circle Sounds, das am Sonntag in den Italienischen Höfen in der Zitadelle Spandau aufgeführt wird. Zum Finale dürfen auch Musikbegeisterte aus dem Publikum mitspielen. Foto: Stephan Röhl

Riedel. Foto: Matthias Lehmann