Nach „Common Ground“ (2015) und „The Situation“ (2016) ist Yael Ronen mit „Slippery Slope“ vom Maxim Gorki Theater zum dritten Mal zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 1976 in Jerusalem in eine Theaterfamilie hineingeboren, lebt die Regisseurin heute in Berlin und Tel Aviv und ist für den hochtourigen Deeskalationshumor bekannt, mit dem sie sich Krisen und Konfliktherden zuwendet. Neben ihrer Berliner Stammbühne, dem Gorki Theater, inszenierte sie auch an den Münchner Kammerspielen, dem Schauspielhaus Graz oder dem Wiener Volkstheater.

Frau Ronen, Ihre Produktion „Slippery Slope“ ist eine Vollversammlung glühend heißer Eisen. Es geht um Machtmissbrauch, kulturelle Aneignung, Cancel Culture. Wie kamen Sie darauf, all diese brisanten Themen in einen Abend zu packen – und dann auch noch als Musical?

Dass ich ein Musical inszenieren würde, war interessanterweise das Erste, was ich wusste – lange bevor das Thema feststand. Die Zusammenarbeit mit dem Komponisten Shlomi Shaban war eigentlich schon für einen früheren Zeitpunkt geplant gewesen. Aber dann steckten wir plötzlich im Lockdown, und ich hatte eine Berufskrise, weil mich Grundsatzfragen zu Zukunft, Relevanz und Bedeutung des Theaters an sich überkamen. Vieles, was wir uns vorher überlegt hatten, machte keinen Sinn mehr: Die Welt hatte sich extrem verändert, und es sah nicht so aus, als wäre das bald wieder vorbei.

Auf den Bühnen fanden keine Vorstellungen statt, aber darüber, was hinter den Kulissen passiert, gab es umso intensivere Debatten: Fälle von Machtmissbrauch wurden publik, auch am Gorki.

Das Thema trieb mich natürlich um. Es war gerade in Berlin sehr präsent und betraf mich wegen des Gorki eben auch in besonderer Weise. Der Impuls, eine Geschichte über einen Künstler in der Midlife-Crisis zu schreiben, der gecancelt wird, kam allerdings von Shlomi.

Und Sie waren sofort begeistert?!

Im Gegenteil! Shlomi hat diese Geschichte in all ihren Konsequenzen ausgemalt, und ich dachte: Oh nein, will ich das wirklich? Das ist wie das Betreten eines Minenfeldes! Aber er meinte: Wenn das so große Widerstände in dir auslöst, scheint es ein gutes Thema zu sein. Und bei der Arbeit habe ich gemerkt, dass er recht hatte. Angst, Unsicherheit und Widerstand sind ein zuverlässiges Signal, dass ich mich in den betreffenden Stoff hineinstürzen sollte.

Wie sind Sie konkret damit umgegangen, dass Shermin Langhoff, der Intendantin des Gorki, selbst Machtmissbrauch vorgeworfen wird?

Ich bin ein Mensch, der nicht gern Petitionen unterzeichnet, weil es daran immer etwas gibt, das mir zu eng gefasst ist und die Komplexität der Lage nicht ausreichend widerspiegelt. Genauso, wie ich übrigens auch kein Fan von Interviews bin (lacht)! Sobald ich die letzte Frage beantwortet habe, tue ich so, als hätte es das Gespräch nie gegeben, und vermeide strikt, es noch einmal zu lesen! Die Kunst ist dagegen für mich das natürliche Umfeld, um mich zu äußern. Ihr Reichtum liegt ja darin, dass sie über diese einfachen Gegensätze – ja oder nein? Bist du dafür oder dagegen? – hinausgehen kann. Und damit ist jetzt gar nicht unbedingt der konkrete Fall gemeint. Es trifft auf alle Themen zu, die häufig auf zwei gegensätzliche Positionen reduziert werden, zwischen denen man aufgefordert wird, sich zu entscheiden: von der Corona-Diskussion bis zu Israel/Palästina.

Wie hat Shermin Langhoff auf „Slippery Slope“ reagiert?

Ich weiß, dass der Abend viel in ihr ausgelöst hat, sie ihn aber auch mit professionellen Augen sehen konnte, also als Kunstwerk anerkennen, das größere Zusammenhänge aufzeigt und ein komplexes Bild zeichnet. Ich will hier aber nicht in Shermins Namen sprechen und verkünden, was sie vermeintlich denkt.

Es gab Stimmen, die fanden, Ihr Abend relativiere die Machtmissbrauchsvorwürfe gegen die Intendantin – während andere es genau gegenteilig wahrnahmen. Können Sie das nachvollziehen?

Wenn viele Menschen dieselbe Aufführung besuchen und hinterher jeder etwas anderes gesehen hat, empfinde ich das grundsätzlich als Kompliment, weil es zeigt, dass es offenbar gelungen ist, die nötige Komplexität herzustellen. Ich kenne diesen Effekt schon seit „Dritte Generation“.

Das war Ihre erste Arbeit in Berlin, 2008 an der Schaubühne. In einer Gruppentherapiesitzung, die damals völlig neu war fürs Theater, hauten sich israelische, palästinensische und deutsche Schauspieler historische Traumata, Schuldfragen und Ressentiments um die Ohren.

Und immer wenn Israelis die Show gesehen hatten, sagten sie: Das ist ein toller Abend – aber warum kommen wir Israelis am schlechtesten dabei weg? Dann kamen die Palästinenser und meinten: Absolut großartig – aber, come on, sind wir wirklich die Schlimmsten von allen? Und mit den Deutschen war es dasselbe. Ich finde das immer wieder toll, auch im Fall von „Slippery Slope“. Denn es erzählt wesentlich mehr über die Brille, durch die jede und jeder von uns auf die Welt blickt, als über die Botschaft des Abends selbst – wobei ich mir ohnehin unsicher bin, ob die Show überhaupt eine hat.

Hätten Sie denn eine Idee, wie das zurzeit viel diskutierte Modell Stadttheater wirklich reformiert und besser gegen Machtmissbrauch immunisiert werden könnte?

Es ist natürlich möglich, mit den Strukturen zu spielen, aber ich glaube, ein wirklicher Wandel wird nicht funktionieren, wenn wir ihn nur von einem Bereich her denken. Wir können nicht das Problem im Theater lösen, in der Sexualität oder in der Corona-Diskussion dann aber nicht – oder umgekehrt. Schwierig ist auch, wenn wir als Gesellschaft immer wieder zu denselben Mustern zurückkehren, etwa zu dem Dreieck aus Opfern, Tätern und Rettern; wenn wir uns immer wieder mit diesen Rollen identifizieren und das Drama jedes Mal neu re-enacten. Ich denke, die große Aufgabe besteht darin, souveräne Menschen zu erziehen, von klein auf. Also Menschen, die in der Lage sind, die Jas und Neins der anderen zu akzeptieren und klar ihre eigenen Jas und Neins zu artikulieren.

Eines Ihrer Markenzeichen ist seit jeher Ihr luzider Witz. Auch in „Slippery Slope“ muss man – dem Ernst sämtlicher Lagen zum Trotz, die verhandelt werden – ständig lachen. Welche Rolle spielt Humor?

(Lacht.) An der Frage merke ich, dass ich in Deutschland bin: Warum ist Humor wichtig? Keine Sorge, Leute, ich kann euch beruhigen: Ihr seid nicht dumm, wenn ihr lacht. Humor ist ein natürliches Ausdrucksmittel. Er betrachtet die Dinge nicht nur von innen, sondern auch ein bisschen von der Seite und bekommt deshalb den kosmischen Witz in den Blick, der wir letztlich alle sind. Denn gemessen am großen, großen Ganzen ist nicht einmal Leben und Tod ein wichtiges Thema – und schon gar kein ernsthaftes!

Ein Punkt, über den im Theaterbusiness zurzeit ebenfalls häufig diskutiert wird, sind Frauenrollen. Die kommen oft recht eindimensional daher – mitunter auch eindimensional positiv. Bei Ihnen ist das anders: Es gibt von der feministischen Aktivistin über das verblendete Missbrauchsopfer bis zur Chefredakteurin, die ihre Karriere einem schmutzigen Deal mit alten Patriarchen verdankt, alle erdenklichen Facetten.

Das hat sicher damit zu tun, dass ich häufig auf meinen inneren Patriarchen treffe, wenn ich schreibe.

Wie sieht der denn aus?

Wenn ich über Frauen und Frauenrollen nachdenke, stelle ich natürlich fest, dass ich bereits ein ganz anderes Leben führe als meine Mutter, und ich betrachte mich durchaus auch als Feministin. Aber ich sehe immer noch, wie viele Vorurteile ich habe und vor allem, wie tief sie in mir verwurzelt sind. Ich der Phase des feministischen Denkens, in der wir uns jetzt befinden, besteht die wichtigste Arbeit meiner Meinung nach darin, diese inneren Stimmen zu erkennen: die tief verankerten patriarchalen Glaubenssysteme, die herauszufordern wirklich schwer ist, weil wir ja noch keine Alternative zu ihnen kennen.

Können Sie eine Situation beschreiben, in der Sie sich von Ihrem inneren Patriarchen ausgebremst fühlten?

Hin und wieder mache ich mir zum Beispiel die Mühe, zu überprüfen, ob ich immer noch weniger verdiene als meine männlichen Kollegen. Und wenn ich dann feststelle, dass das der Fall ist, werde ich zuerst sehr wütend – und dann wird mir klar: Ja, aber ich habe auch keinerlei Aufwand betrieben, nach einer Gagenerhöhung zu fragen, und zwar seit vier Jahren nicht! Und warum ist das so? Weil bei mir anfängt der Bauch zu zittern, wenn ich das gleiche Geld verlange, das andere mit einem Fingerschnipsen herbeiverhandeln.

Das Gespräch führte Christine Wahl.

Tabus? Gibt es nicht. Szene aus Yael Ronens Inszenierung Slippery Slope vom Maxim Gorki Theater Berlin mit Lindy Larsson. Sie greift die Themen auf, die wehtun. Und über die viele lieber nicht sprechen würden. Foto: Ute Langkafel