Die Frage nach der Entstehung der modernen Welt bewegte um 1900 die Sozialwissenschaften. 1904 veröffentlichte Max Weber den ersten Teil seiner epochalen Studie „Die protestantische Ethik und der ,Geist’ des Kapitalismus“ im „Archiv“. Troeltsch antwortete mit dem Vortrag auf dem Historikertag 1906, „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“.

In den 1912 in einer zweibändigen Buchausgabe erschienenen „Soziallehren“ – einem bis heute in der angelsächsischen Welt einflussreichen Werk – ließ sich Troeltsch, so Friedrich Wilhelm Graf in seiner neuen Biografie, „stärker als bisher von marxistischen Einsichten inspirieren – was ihn im eigenen Fache abermals isolierte“.

Dieses Fach war die protestantische Theologie, die sich ganz in den Dienst des obrigkeitlichen Nationalstaats gestellt hatte. Die Frage nach der „Kulturbedeutung“ insbesondere der Reformation war eine, die von außen an das Fach herangetragen wurde; Troeltsch suchte sie mit der Modernitätsfähigkeit der christlichen Religion(en) zu beantworten.

Max Weber wird immer wieder zitiert, Ernst Troeltsch kaum noch. Der Münchner Theologe Graf, Gesamtherausgeber der auf 27 Bände angelegten „Kritischen Gesamtausgabe“ der Schriften Troeltschs, widmet dem Fachkollegen eine längst überfällige Biografie unter dem Titel „Theologe im Welthorizont“.

Staatssekretär im preußischen Wissenschaftsministerium

Ein kurzes Aufflackern des Interesses richtete sich 2015 auf die Neuausgabe der „Spectator-Briefe“, in denen Troeltsch nach dem Ersten Weltkrieg – er avancierte 1920 zum Staatssekretär im preußischen Wissenschaftsministerium – mit scharfem Blick die Zustände in der jungen Republik beschrieb.

Ernst Troeltsch entstammte dem protestantischen Bildungsbürgertum und nahm einen üblichen, freilich durch Begabung stark verkürzten Berufsweg zum Akademiker. Berits als 27-Jähriger erhielt er eine Professur für Theologie in Bonn, zwei Jahre darauf in Heidelberg. In diesem „Weltdorf“, das Graf in allen Einzelheiten zeichnet, fand sich ein Kreis von Denkern über alle Fachgrenzen hinweg, der an den drängenden Problemen einer rigoros sich Bahn brechenden Moderne begrifflich arbeitete.

Graf gelingt es, neben den geistigen Höhenflügen auch den Alltag des universitären Daseins anschaulich zu machen, in dem Troeltsch, zu repräsentativen Ämtern berufen, mit staunenswerter Energie wirbelte. Zahllos die Feiern und Ehrungen, zu denen er als Prorektor Reden hielt, hierhin und dorthin im badischen Großherzogtum eilend und gern auch beim Fürsten am Tisch.

Mit seinem eigenen Fach hatte Troeltsch zunehmend Schwierigkeiten, weil er sich von der Selbstzufriedenheit der dogmatischen Theologie verabschiedete. Kritiker hatte er auf allen Seiten; sogar die Jüngeren sahen in ihm „nur den Repräsentanten eines bürgerlichen Kulturprotestantismus, der (…) die Substanz existenziell ernsthaften Glaubens ins normativ Unverbindliche aufgelöst habe“, wie Graf formuliert – und so im Urteil der Gegner erhellt, was Troeltschs Position ausmacht.

Veritable Schlammschlacht rund um die Berufung

Graf charakterisiert ihnals einen „frommen Mystiker, der sich an den kognitiven Dissonanzen zwischen überkommenem Glauben und moderner Wissenschaft abarbeitete“ und „unter seiner elementaren Widersprüchlichkeit litt“.

Weit über den akademischen Bereich hinaus genoss Troeltsch hohes Ansehen. Die Politik lernte er bereits als Abgeordneter in der badischen Ständeversammlung kennen. Eine veritable Schlammschlacht wurde seine Berufung nach Berlin, wo ihm eine eigens geschneiderte Professur für „Religions-, Social- und Geschichtsphilosophie“ übertragen wurde.

Da gelingt Graf quasi nebenbei eine Studie in kaiserzeitlicher Wissenschaftspolitik, ergänzt um ein aufschlussreiches Kapitel zur „Gelehrtenökonomie“ der Gehälter und Honorare. Überhaupt enthält Grafs Buch vorzügliche, ungemein lebendige Schilderungen des akademischen Lebens und seiner Wechselwirkung mit Politik und Gesellschaft, so in den Passagen zum Ersten Weltkrieg und den Windungen und Wandlungen der deutschen Professorenschaft.

Vom Nationalliberalen zum Vernunftdemokraten

Im Laufe des Krieges wandelte sich Troeltsch vom Nationalliberalen zum Vernunftdemokraten – und verlor mehr und mehr seine bis dahin unerschütterliche Zuversicht, nicht aber seine durchaus amtskirchenferne Frömmigkeit.

Sein Tod am 1. Februar 1923 erschütterte die Öffentlichkeit. Zum Begräbnis fanden sich alle Großen des Geisteslebens ein; zahllos waren die Nachrufe. Der Nachruhm freilich hielt nicht lange. Grafs meisterliche Biografie holt Troeltsch verdientermaßen zurück in den unabgeschlossenen Diskurs um Herkunft und Bedeutung der Moderne.