Wer dieser Tage die Berliner Sonnenallee im Bezirk Neukölln, nahe des Columbiabads, entlangläuft, der sieht: Männer. Männer, die sich die Haare schneiden lassen. Männer, die im Café sitzen und Wasserpfeife rauchen. Männer, die vor dem Gemüseladen plaudern. Die wenigen Frauen, die man erblickt, erledigen zügig ihre Einkäufe, manchmal mit mehreren Kindern im Schlepptau. Andere sind Touristinnen, die auf Holzklappstühlen vor arabischen Fast-Food-Restaurants entspannen.

Immer wieder eskaliert die Gewalt in Berliner Schwimmbädern, an Silvester, aber auch andernorts. In Parks, nach Hochzeitsfeiern, auf Volksfesten. Oft sind Männer aus den großen städtischen Ballungsgebieten beteiligt. Jedes Mal wieder stellt sich die Frage: Warum passiert das?

Hitze, Enge, viele Menschen, die sich gestresst auf zu wenig Raum bewegen – das sind Erklärungen, warum Situationen schneller eskalieren können, warum Aggressionen hochkochen. Die Ursachen für Gewalt oder auch frauenverachtendes Verhalten liegen meist aber viel tiefer.

Zu den oberflächlichen Gründen, warum im Bezirk Neukölln immer wieder zu öffentlichen Prügeleien unter jungen Männern kommt, haben Farid und Ahmed (Namen geändert) ein paar Antworten. Die Teenager sitzen am Mittwoch im Außenbereich eines Imbisses in der Sonnenallee. Sie trinken Bubble Tea und genießen den ersten Ferientag.

„Viele Menschen, die hier leben, sind sehr aggressiv“, sagt der 14-jährige Farid. „Sie kommen aus Ländern mit viel Krieg. Sie haben Schreckliches erlebt“. Er selbst habe gelernt, dass man diesen Menschen lieber aus dem Weg gehen müsse. Sein ein Jahr älterer Bruder nickt. Die beiden Jungs stammen aus Syrien, leben seit etwa acht Jahren in Deutschland, sprechen perfekt deutsch.

Dass das Columbiabad jetzt geschlossen ist, das betrifft auch sie – beide gehen gerne dort schwimmen. Vor ein paar Tagen seien sie dort Zeugen einer Gruppenschlägerei geworden, erzählen sie. Auslöser sei gewesen, dass ein junger Mann einen anderen aus Versehen angerempelt habe. „Der hat sich provoziert gefühlt, dachte, das sei Absicht gewesen. Dann haben ihn Freunde unterstützt. Am Ende mussten mehrere ins Krankenhaus.“

Es war nicht die erste Schlägerei, die die beiden Jungen in ihrem Umfeld beobachtet hätten, wie sie sagen.

Vermeintliche Ehrverletzungen wiegen schwer

„Andere Gründe könnten sein, dass ein Mann die Freundin eines anderen anguckt oder etwas Schlechtes über die Familie sagt“, meint Farid. „Ja, das ist wirklich das Schlimmste, was man diesen Männern antun kann: Wenn du schlecht über die Mutter, Schwester oder ein anderes Familienmitglied redest“, ergänzt sein Bruder. Aus einem ähnlichen Grund hat der Fußballer Zinédine Zidane dem Italiener Marco Materazzi bei der Fußball-Weltmeisterschaft 2016 den berühmten Kopfstoß verpasst. Weil Materazzi sinngemäßg gesagt hatte, dass er statt des Trikots lieber Zidanes Schwester nehmen würde. Vermeintliche Ehrverletzungen wiegen schwer.

Ahmet Toprak ist Erziehungswissenschaftler an der Fachhochschule Dortmund. Er beschäftigt sich mit interkulturellem Konfliktmanagement und hat viele Projekte mit jugendlichen Gewalttätern geleitet. Er sagt: Weshalb viele Jugendliche und junge Männer aus der Türkei oder arabischen Ländern „Anpassungsschwierigkeiten“ in Deutschland hätten, sei auch auf die konservative, autoritäre Erziehung zurückzuführen.

Toprak betont, dass das nicht auf alle Menschen aus muslimischen Ländern zutreffe. Natürlich gebe es auch sehr viele liberal eingestellte Menschen. Bei seinen folgenden Aussagen bezieht er sich ausschließlich auf konservative, patriarchal geprägte Kreise wie beispielsweise Anhänger des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. In solchen Familien würden Jungen ganz klar anders erzogen als Mädchen. „Weshalb sie beispielsweise im deutschen Schulsystem oder in anderen Bereichen immer wieder in konflikthafte Situationen geraten“, sagt Toprak.

Da sei zum einen die stark hierarchische Familienstruktur. „Ein wichtiges Erziehungsziel ist der Respekt vor Autoritäten. Der Vater und die Mutter stehen ganz oben, danach folgen ältere Geschwister. Die Erfahrung geht stets vor. Ob die Person tatsächlich Recht hat, spielt eine untergeordnete Rolle“, erklärt der Wissenschaftler. Kulturgeschichtlich betrachtet beruhe das auch auf der Tradition des Ältestenrats, der früher in arabischen und türkischen Dörfern das Sagen hatte.

In der heutigen Zeit kollidiere dieses Verständnis oft mit dem deutschen Bildungssystem und dem Anspruch einer demokratischen Gesellschaft. Hier habe der Älteste nicht automatisch Recht, vielmehr werde jungen Menschen schon im Kindesalter beigebracht, dass sie Dinge kritisch hinterfragen und sich selbst eine eigene Meinung bilden sollten.

Im Alltag dieser „konservativ patriarchal erzogenen Jungen“ führten diese unterschiedlichen Erziehungsansätze immer wieder zu Konflikten, sagt Toprak.

„Ein häufiger Anlass für Streitereien oder gar Schlägereien ist oft ein falscher Blick in die Augen.“ Das „direkte Anstarren von Mann zu Mann“ werde oft als direkte Konfrontation angesehen. Eltern werteten den Blick auf Augenhöhe als Aufmüpfigkeit. „Den Blick nach unten zu richten, bedeutet hingegen: Ja ich habe verstanden. Ich akzeptiere, was du mir gerade gesagt hast.“

Viele Mädchen passen sich leichter an

Deutsche Lehrerinnen oder andere Fachkräfte dächten in solchen Situationen oft, dass ein Junge sie ignoriert und sie nicht anschaut, weil er das, was sie sagt, nicht respektiert. „Dabei möchte er genau das Gegenteil signalisieren. Das ist ein Dilemma“, sagt Toprak. Starrt eine Frau hingegen einen sehr konservativ erzogenen Mann an, sei der Mann oft überrascht. „Dann heißt es ganz schnell: Das ist keine anständige Frau“, sagt Toprak. Somit werde sie oft auch mit weniger Respekt behandelt.

Für den Erziehungswissenschaftler sind die jungen Männer Opfer des Patriarchats. „Den Mädchen, die wesentlich strenger erzogen werden, fällt es viel leichter, sich an mitteleuropäische Verhaltenskodexe anzupassen“, sagt er. Sie lernen schnell, sich an Regeln zu halten, müssen viel im Haushalt mithelfen und kümmerten sich viel um jüngere Geschwister.

Als „kleine Prinzen“ bezeichnet ein Erzieher aus einer Tempelhofer Kita Jungs aus arabischen oder türkischen Familien. „Mir und meinen Kolleginnen fällt schon auf, dass manche dieser Jungen es nicht gewohnt sind, irgendetwas aufzuräumen. Sie sind oft unselbstständiger als gleichaltrige Mädchen. Viele können sich zum Beispiel nicht alleine anziehen und müssen alles hinterhergetragen bekommen“, sagt der Pädagoge, der seinen Namen aus beruflichen Gründen nicht öffentlich nennen möchte.

Der Erzieher schätzt, dass er in einer sehr multikulturellen Kita arbeiten darf und lobt, dass in dieser Einrichtung die Integration auf allen Ebenen aufgrund der „guten Mischung“ sehr gut gelinge. Nur kämen bestimmte Jungen meist „unerzogen in die Kita“ und müssten dort vieles von den Erziehern lernen, was ihre Schwestern bereits viel früher könnten. Die Mädchen übernähmen viel eher die Mutterrolle und holten beispielsweise auch kleinere Geschwister ab. „Diese Jungs haben auch oft Konflikte mit anderen Kindern. Es wirkt so, als ob ihnen zu Hause keine Grenzen gesetzt werden, sie also alles machen können – ohne Rücksicht auf die anderen“, so der Erzieher.

Ahmet Toprak sagt: „Man sieht den Jungen so viel nach, weil Eltern in ihrer traditionellen Sichtweise davon ausgehen, dass die Männer es später im Leben viel schwerer haben werden, weil sie später die gesamte Verantwortung für die Familie zu tragen haben“. Deshalb lasse man den Männern mehr Freiräume, auch weil sie später üblicherweise zum Militärdienst mussten. „Man dachte, dass sie spätestens dann erzogen werden“, sagt der Erziehungswissenschaftler. Aber auch Mütter stützten das System und somit das Patriarchat, indem sie diese Verhaltensweisen förderten. „Darauf weisen unsere Untersuchungen hin, die wir seit Ende der 90er Jahre bis heute machen.“

Oft fehlen alternative männliche Vorbilder

Ein weiterer Grund, weshalb in patriarchal geprägten Männergruppen Konflikte manchmal schneller eskalieren, ist, dass es oft darum geht, eine Rangordnung herzustellen. Denn viele dieser Freundeskreise sind hierarchisch organisiert. Entsprechend müssen Männer öfters ihren Freunden zur Seite stehen, wenn diese in Konflikte geraten. Schwäche wird selten gezeigt, sagen auch die beiden Jugendlichen vor dem Imbiss an der Sonnenallee, die sich von Gewalttaten distanzieren.

„Niemanden wird explizit beigebracht, dass er andere Menschen schlagen soll“, sagt Ahmet. Aber wenn es zu Ehrverletzungen komme, beispielsweise, wenn jemand seine Familie beleidigt habe, dann informiere er seinen großen Bruder. „Aber dann wird nur geredet, dann geht mein Bruder zu der anderen Familie und klärt das über Gespräche. Das ist der normale Weg“, sagt er.

Auch das ist, was Ahmet Toprak meint, wenn er sagt, dass die Männer sehr viel Verantwortung übernehmen müssten.

Ein anderer Sozialarbeiter, der sich zu dem Thema nicht öffentlich äußern kann, weil er so schnell keine Genehmigung von seinen Vorgesetzten bekommen konnte, weist darauf hin, dass junge muslimische Männer aus Neukölln oder anderen Bezirken auch vielen Vorurteilen ausgesetzt seien. Auch deshalb würden sie sich mitunter in ihre traditionell geprägte Rolle zurückziehen. „Ihnen fehlen oft männliche Vorbilder, Väter oder Verwandte, die einen anderen Weg eingeschlagen haben.“ Zu selten gebe es im Umfeld dieser Jugendlichen Männer, die sich über einen Beruf, ein Hobby oder Kunstform definierten anstatt über protziges Machtgehabe.

Gegenden wie die Sonnenallee könnten auch eine gewisse Sicherheit bieten. Menschen könnten sich in ihrer Muttersprache austauschen und treffen auf andere, die ähnliche Lebenserfahrungen gemacht haben. Anderseits kommen sie so mit wenig anderen Lebenswelten in Kontakt – und verändern so nicht ihre Sicht auf Rollenbilder. Sobald sie ihren geschützten Raum verlassen, sind sie oft auch Rassismus ausgesetzt. Schon Klassenfahrten nach Brandenburg können für sie gefährlich enden. Erst kürzlich wurde eine Schülergruppe aus Berlin-Kreuzberg in Heidesee (Kreis Dahme-Spreewald) ausländerfeindlich beschimpft.

Wer sich mit den Schicksalen der Menschen aus der Sonnenallee beschäftigt, stellt außerdem schnell fest, dass die meisten Männer oder Frauen dort andere Probleme haben, als sich beispielsweise über ein besonderes Hobby oder einen prestigeträchtigen Job zu definieren. Die meisten Menschen, die erst mit Anfang 20, 30 oder noch später nach Deutschland eingereist sind, hatten nicht die Möglichkeit, Deutsch auf Muttersprachenniveau zu lernen – wie etwa Ahmed und Farid.

Es fehlt an Geld für Jugendarbeit

Abgesehen davon ist die Dichte an Sozialleistungsempfängern ist in der Neuköllner Gegend so hoch wie fast nirgends in Berlin. Ein Mann erzählt leicht ironisch, dass sich die Gespräche in den Cafés oder beim Friseur oft nur um drei Themen drehten: „Da ist der Krieg in der Heimat. Dann geht es viel um die Beantragung von Transferleistungen. Oder die Männer reden über Frauen.“

Nach Silvesterkrawallen und zahlreichen anderen Tumulten wollte der Bezirk eigentlich mehr für die Jugendarbeit tun. Angekommen sei fast nichts, sagen Sozialarbeiter. Und von dem wenigen Geld, was es gibt, wird jetzt ein wesentlicher Teil gestrichen. Wie berichtet drohen den Neuköllner Jugendclubs eklatante Sparmaßnahmen oder gar Schließungen.

Ahmed und Farid, die beiden Jungs vor dem Imbiss in der Sonnenallee, freuen sich, wenn nächste Woche zumindest das Schwimmbad wieder aufmacht.