Die Frau hatte Mut, und davon nicht zu knapp: „Ich gestehe gerne, dass der Entschluss zum Absturz in die Tiefe eine große Überwindung kostet“, bekannte sie in ihren Lebenserinnerungen. „Es erzeugt ein gruseliges Gefühl, aber: Den Mutigen gehört die Welt.“ Und zu denen zählte Käthe Paulus ohne Zweifel, war sie doch in Deutschland die erste Frau und überhaupt eine der ersten gewesen, die sich ein paar Quadratmetern Stoff anvertraute und aus einem in großer Höhe schwebenden Ballon fallen ließ. Das war am 23. Juli 1893 in Elberfeld, das heute zu Wuppertal gehört – ihr erster Fallschirmabsprung von rund 150, die sie in ihrem Leben absolvieren sollte.

Einem Leben, das erstaunlicherweise noch nie verfilmt wurde, obwohl es alles hatte, um einen dramatischen abendfüllenden Film, sei es im Fernsehen oder im Kino, abzugeben. Straßen und Schulen sind nach ihr benannt worden, Bücher wurden über sie geschrieben, luftfahrthistorische als Würdigung ihrer Leistungen als Himmelsstürmerin und soeben erst ein Roman, der auch ihr allerdings nicht sehr vielfältiges Liebesleben nicht ausspart – hinreichend Grundmaterial also für anderthalb ebenso unterhaltsam-spannende wie belehrende Stunden.

Wobei beim Drehbuch aufs exakt Biografische nicht viel Rücksicht genommen werden müsste. Auch die Autorin Vanessa Giese, die mit der Romanbiografie „Die Frau, die den Himmel eroberte“ erstmals vom Sachbuch zur – wenn auch sachlich fundierten – Fiktion wechselte, bekannte, dass „die Antwort auf die Frage nach Paulus’ Charakter“ offen sei und das Wissen über ihr Leben viele Leerstellen aufweise. Zwar gebe es in der Universitätsbibliothek in Frankfurt am Main den von ihr gesichteten Nachlass, mit einigen autobiografischen, oft das Anekdotische in den Vordergrund stellenden Aufzeichnungen, dazu Korrespondenzen, Fotos, Ehrungen, Pressetexten, kaufmännischen Kalkulationen und auch dem Vertrag von 1915 mit dem Kriegsministerium in Berlin zur Herstellung von Fallschirmen. Aber die Informationen über ihre Ballonfahrten und Fallschirmabsprünge, ihre Rolle als Unternehmerin bleiben lückenhaft, ebenso die über ihre Arbeit als Lieferantin von Rüstungsgütern im Ersten Weltkrieg, seien doch wichtige Dokumente 1945 im Potsdamer Heeresarchiv verbrannt, wie Vanessa Giese schreibt. So sei ihre Geschichte „reine Fiktion“, doch entspreche sie „dem, was geschehen sein könnte“.

Da aber, wie die Autorin ihrer Heldin ebenfalls zugesteht, „die Daten ihres Lebens“ feststehen, spricht man wohl besser von einem Zwitter aus Fakten und Fantasie, wenngleich die Letztere dominiert. So ist wohl überliefert, dass die Pilotinnen Elly Beinhorn und Hanna Reitsch zu den wenigen Trauergästen gehörten, die den Sarg der am 26. Juli 1935 nach langer Krankheit in Berlin gestorbenen Käthe Paulus zum Friedhof der evangelischen Dankeskirche Wedding in der Reinickendorfer Blankestraße begleiteten. Die von Vanessa Giese gewählte, das Buch durchziehende Rahmenhandlung aber, in der die schon todkranke Luftfahrtpionierin Reitsch und einem Pfarrer ihr Leben erzählt, ist erfunden, ebenso beispielsweise die Schilderung einer Reise nach Wimbledon, um dort die sich gerade etablierenden Tennismeisterschaften gegen Honorar mit einer luftigen Attraktion zu bereichern.

Aber auch ohne diese Reise auf die britische Insel war das Leben für Käthe Paulus so ganz anders verlaufen, als es ihre Herkunft nahegelegt hätte. Geboren wurde sie am 22. Dezember 1868 in Zellhausen, einem Ortsteil der südhessischen Gemeinde Mainhausen. Nach dem frühen Tod ihres Vaters, der sich als Tagelöhner verdingt hatte, ließ sie sich zur Schneiderin ausbilden, lernte 1889 bei einem Kuraufenthalt in Wiesbaden den Ballonfahrer und Fallschirmspringer Hermann Lattemann kennen. Die beiden wurden ein Paar, eine Gemeinschaft, in der sie ihre fürs Herstellen von Ballons und Fallschirmen idealen Kenntnisse als Schneiderin einbringen konnten. Doch bald verfiel auch sie der Leidenschaft zu fliegen und sich mit einem Fallschirm in den Abgrund zu stürzen, und sie wurde wie ihr Partner Luftakrobatin.

„Hier oben bin ich mir am nächsten“ – mit diesem Bekenntnis beginnt auch der Roman, der seine Heldin als Freiheitssuchende beschreibt. „Hier oben jedoch, im klaren Himmel, bin ich frei von den Ausdünstungen und frei von der Begrenztheit.“ Aber vor allem war Käthe Paulus, die reale wie die fiktive, eine geschickte Geschäftsfrau mit dem Gespür für werbewirksame Aktionen. Auch nach dem Unfalltod ihres Partners 1894 und dem Tod des gemeinsamen Sohnes ein Jahr später führte sie das Show-Geschäft, das die Ballonfahrerei anfangs noch war, mit waghalsigen, die Sensationslust der zahlenden Massen kitzelnden Aufstiegen und Absprüngen fort. Und sie entwickelte den Fallschirm weiter, eine zuvor recht unsichere, zum tödlichen Verheddern von Leinen und Stoff neigende Erfindung. Von ihr aber wurde er kunstvoll gefaltet, gepackt und in eine Hülle gesteckt, so dass er sich zuverlässig öffnete. Käthe Paulus gilt daher als Erfinderin des Paketfallschirms.

Ihren Entwurf meldete sie 1915 beim Kaiserlichen Patentamt an, war bereits drei Jahre zuvor aus dem Hessischen nach Berlin übergesiedelt, versuchte sich auf dem hiesigen Flugplatz Johannisthal auch als Pilotin von Motorflugzeugen, allerdings mit wenig Erfolg. Und sie gründete in Reinickendorf eine Firma zur Herstellung von Ballons und Fallschirmen, letztere vom Militär erst skeptisch gesehen, dann aber während des Ersten Weltkriegs in großen Mengen gekauft. Für die Kampfpiloten brauchte man die Schirme nicht, bei denen waren diese Rettungsmittel verpönt. Die in Ballons nahe der Front aufsteigenden Beobachter aber waren Angriffen durch Flak und feindliche Flugzeuge schutzlos ausgesetzt, Fallschirme waren hier überlebenswichtig.

Käthe Paulus konnte mit dem Militär einen lukrativen Vertrag abschließen und beschäftige bis zu 40 Frauen, wie sie in ihren Erinnerungen schilderte: „So habe ich bis Kriegsende etwa 7000 Fallschirme geliefert. Welche Arbeit hierzu gehörte, geht daraus hervor, dass ich wöchentlich etwa 125 Fallschirme lieferte, je Woche etwa 20 000 Meter Stoff zuschneiden musste; denn diese Arbeit selbst auszuführen, ließ ich mir, angesichts ihrer Wichtigkeit, nicht nehmen.“ Bei Kriegsende war damit Schluss, und da Käthe Paulus voller Vertrauen auf den Sieg ihr Geld in nun wertlose Kriegsanleihen gesteckt hatte, verarmte sie und geriet, einst ein gefeierter Star der Lüfte, in Vergessenheit.

Das hat sich gebessert, auch wenn Käthe Paulus heute nicht so bekannt ist wie Elly Beinhorn oder Hanna Reitsch. Seit 1970 ist ihre letzte Ruhestätte auf dem Reinickendorfer Dankes-Friedhof ein Ehrengrab des Landes Berlin. Auch gibt es an ihrem Wohnhaus in der Reinickendorfer Gotthardstraße 105 eine Gedenktafel. Im Jahre 2000 erhielt in der Neubausiedlung Landstadt Gatow, unweit des früheren Flugplatzes, die Käthe-Paulus-Zeile ihren Namen, fünf Jahre später folgte in Moabit die Katharina-Paulus-Straße. Sie befindet sich auf dem Geländes des ehemaligen Universum Landes-Ausstellungs-Parks (Ulap), auf dem auch die im Krieg verloren gegangene Deutsche Luftfahrtsammlung gezeigt wurde.

Die letzte Ehrung erfolgte 2011, als die Schönefelder Gemeindevertretung auf Vorschlag der Flughafengesellschaft eine ganze Reihe von Straßennamen für das BER-Gelände beschloss. Sie sollten an deutsche Flugpioniere und eben eine -pionierin erinnern, denn auch die Käthe-Paulus-Allee war darunter, Passagiere haben dort allerdings nichts zu suchen: Die Straße liegt im Sicherheitsbereich.

Vanessa Giese:

Die Frau, die den

Himmel eroberte.

Insel Verlag, Berlin. 198 Seiten, 24 Euro.