Vier Polizeimeldungen aus den vergangenen Tagen: In der Kantstraße öffnet der Fahrgast eines Taxis unachtsam die Tür – eine korrekt auf dem Schutzstreifen fahrende Radfahrerin kracht dagegen und wird schwer verletzt. Im Märkischen Viertel steigt ein Autofahrer aus – und erwischt mit der Tür eine E-Bike-Fahrerin, die schwer verletzt wird. Wenige Tage davor ein gleichartiger Unfall mit einem Transporter in Schmargendorf. Und ein weiterer auf dem Kurfürstendamm, wo der Autofahrer, der unachtsam die Tür über die für den Radverkehr freigegebene Busspur aufgerissen hat, das schwer verletzte Opfer liegen lässt und verschwindet.

Unfälle wie diese sind buchstäblich Alltag in Berlin. Wie sehr, hat die Unfallforschung der Versicherer (UdV) jetzt erstmals anhand polizeilicher Unfalldaten ermittelt. Das Ergebnis für die Jahre 2018 bis 2020 sind 1447 aktenkundige Unfälle, also 1,3 am Tag. Damit machen diese Kollisionen 8,3 Prozent aller Radverkehrsunfälle mit mindestens zwei Beteiligten und Personenschaden aus. Und oft enden sie mit besonders üblen Verletzungen: Wenn das Gesicht gegen den stählernen Türrahmen prallt, hilft kein Helm. Auch in den vier genannten Fällen berichtete die Polizei jeweils von schweren Kopfverletzungen der verunglückten Radfahrerinnen.

„Dooring“ wird diese Unfallart mangels eines griffigen deutschen Begriffs genannt. In 315 Fällen passierte der Crash an einer rechten Tür. Diese Gefahr ergibt sich vor allem an alten Hochbord-Radwegen, wohin die rechts sitzenden – oft noch weniger als der Fahrer aufs Verkehrsgeschehen konzentrierten – Autoinsassen ihre Türen öffnen. Geradezu prädestiniert sind auch die in den Nachwendejahren angelegten Radfahrstreifen, die oft just im Dooring-Bereich markiert wurden und schmaler sind als laut Regelwerken vorgesehen. Neue Radspuren müssen breiter sein, nämlich mindestens 2,30 Meter laut Verkehrsverwaltung, von begründeten Ausnahmen abgesehen. Hinzu kommen laut Radverkehrsplan 75 Zentimeter Seitenabstand zu parkenden Autos. Aber prinzipiell zählen zum Gefahrenbereich alle Straßen, an deren Rändern Autos halten und parken und nicht durch Poller oder Schwellen auf Abstand zum Radverkehr gehalten werden.

Untersuchungen in anderen Ländern ergaben ähnliche Unfallquoten durch Dooring, wie die UdV sie jetzt für Berlin ermittelt hat. Studien aus den USA und Großbritannien zufolge vergewisserten sich zwischen 35 und 60 Prozent der Autofahrer vor dem Öffnen der Türen nicht, dass sie niemanden gefährden.

Von den 1447 betrachteten Berliner Unfällen geschah kein einziger im Gegenverkehr, was in schmalen Straßen durchaus denkbar wäre. Offensichtlich existiert das Problem nur bei Annäherung von hinten – aber dort sogar in Fahrradstraßen, wie UdV-Leiter Siegfried Brockmann beobachtet hat. Bei einem Ortstermin in der als Fahrradstraße geplanten Handjerystraße in Friedenau stellte er fest: Die Fahrbahn zwischen den parkenden Autos ist so schmal, dass Radfahrer den Seitenabstand fast auf null verringern müssen, sobald ihnen ein Auto entgegenkommt. „Wenn man den Fahrradverkehr bewusst in dieser Straße konzentriert, wäre es konsequent, den gesamten Autoverkehr herauszunehmen – oder wenigstens das Parken auf einer Seite zu verbieten.“ Letzteres gilt allerdings nicht nur für Fahrradstraßen, sondern fast fürs gesamte Nebennetz mit seinen meist schmalen Fahrbahnen. Die vier Meter Mindestbreite, die der Berliner Radverkehrsplan für Fahrradstraßen vorsieht, werden in kaum einer Fahrradstraße eingehalten, in der beidseitig Autos parken.

Sensoren, die die Insassen am unachtsamen Aufreißen der Türen hindern sollen, haben bisher nur wenige Automodelle. Der ADAC hat im vergangenen Jahr Systeme von Audi und Mercedes getestet – und für prinzipiell gut befunden. Wenn der Audi einen nahenden Radfahrer oder E-Scooter erkannte, verzögerte er das Öffnen der Tür um knapp eine Sekunde und aktivierte ein Warnlicht im Außenspiegel. Der Mercedes schlug bei Gefahr optisch und akustisch Alarm. Wenn allerdings ein dahinter geparktes Auto die Sensoren behinderte, warnten sie erst spät. So spät, dass ein Radfahrer kaum noch reagieren könnte. Davon abgesehen endet bei vielen Dooring-Unfällen auch der Ausweichversuch böse – schlimmstenfalls unter einem nachfolgenden Auto.

Die bisher übliche Prävention sind Kampagnen, die für den sogenannten Holländischen Griff werben, also fürs Öffnen der linken Türen mit der rechten Hand. Wer sich das angewöhnt, schaut fast automatisch nach hinten.

Noch sicherer wäre es allerdings, wenn Radfahrer gar nicht erst im Öffnungsbereich der Türen vorbeifahren würden. Laut mehreren Gerichtsurteilen, etwa vom Berliner Landgericht, müssen sie sogar ausreichend Abstand halten, um im Fall eines Unfalls keine Mitschuld zu bekommen. Etwa ein Meter müsste es sein – aber nur wenige Radfahrer trauen sich das, weil sie dann von nachfolgenden Autofahrern erfahrungsgemäß massiv bedrängt oder erst recht knapp überholt werden. Dabei gilt fürs Überholen neuerdings ein verbindlicher Mindestabstand: 1,50 Meter schreibt die Straßenverkehrsordnung jetzt vor. Nur halten sich die Wenigsten daran. Die Gefahr droht also auf beiden Seiten.

Gefahrenzone Autotür. Zwischen 2018 und 2020 wurden in Berlin 1447 Dooring-Unfälle aktenkundig durchschnittlich 1,3 pro Tag. Keiner davon geschah im Gegenverkehr. Das Problem besteht offensichtlich nur bei Annährung des Radlers von hinten. Foto: imago images/photothek