Elli und Susi rollen den roten Teppich aus. Paul filmt. Action. Synchron laufen sie auf ihn zu, stoßen ungelenk gegen den Teppichwulst. Die Angestellten der Backwarenfiliale Graner drehen ein TikTok-Video, später schreiben sie dazu: „Wir rollen für die Auszubildenden den roten Teppich aus.“ Und: „Wir suchen Auszubildende“. In der letzten Sekunde des Videos senkt Elli die Arme und wendet sich zum Gehen. Der One-Take ist vorbei, doch eigentlich hat niemand Zeit dafür: Die Brötchen verbrennen im Ofen, der erste Kunde schaut schon durch die Glasfront.

Öffnungszeiten mussten sie kürzen

Während Partygänger vor dem KitKat-Club warten, ist im Marktcafé Pankow von Susanne Graner ab vier Uhr morgens Schichtbeginn. Susanne Graner, 41, blonder Pagenschnitt, „Chefin, wenn die Eltern nicht da sind“, sagt sie. Graners Mutter machte sich 2013 selbstständig. Heute führen sie vier der Schäfers-Filialen. Doch wie lange noch? Öffnungszeiten mussten sie bereits kürzen, eine Filiale kurzzeitig schließen. Durchschnittlich bleiben Gastro-Stellen 168 Tage lang unbesetzt. Probleme wie bei den Graners häufen sich in Berlin. Die Lösung sollen Anwerbeversuche mit TikTok-Videos sein. Kann das den Fachkräftemangel in Berlin und deutschlandweit lindern? Wie sehen das eine Jugendberufsberaterin aus Reinickendorf, ein Karrierecoach und ein Recruiter der Deutschen Bahn?

Nur 27 Prozent wollen eine Ausbildung machen

An Nachwuchs mangelt es in Deutschland überall: Im September beginnt das neue Lehrjahr. Ende Juni waren noch 35.708 Stellen in Handwerksausbildungen unbesetzt. Und diese Entwicklung macht auch vor der Hauptstadt nicht halt – minus sechs Prozent duale Berufsausbildungen innerhalb von zehn Jahren. In Brandenburg waren es sogar minus acht Prozent. Andrea Preuße ist seit 30 Jahren Berufsberaterin. Von der Jugendarbeitsagentur wird sie in Schulen geschickt, um dort den Heranwachsenden bei der Orientierung zu helfen. Ab Klasse Sieben erklärt und berät sie an Oberschulen, das Ziel: „Wir wollen aktiv junge Menschen in Ausbildungsberufe bekommen.”

Trotz der kreativen Bemühungen der Unternehmen sind Ausbildungen nach wie vor unattraktiv. Eine Studie von 2022 zeigt: 42 Prozent der befragten 16- bis 22-Jährigen gaben an, studieren zu wollen. Nur 27 Prozent zogen eine Ausbildung in Betracht.

Berufsberaterin Preuße findet: Berufliche Realität und Vorstellung klaffen oft weit auseinander. Bei Heranwachsenden sei das geprägt durch TikTok, Instagram und Serien. Bei den Eltern vom Wunschdenken. Oftmals seien es die Eltern, die für ihr Kind ein Studium und Abitur planten, erzählt die Berufsberaterin Preuße. „Dabei haben manche Kinder vielleicht gar nicht dieses Leistungsvermögen.“ Gerade dann biete sich eine Ausbildung an. Zum Beispiel, wenn man gern Medizin studieren würde: Erst einmal Pflege lernen, den Alltag im Krankenhaus erleben, anschließend die gesammelten Wartesemester aufwenden und das Studium beginnen – ohne Einser-Abi.

Stattdessen trifft Preuße auf Kinder, die Architekten werden wollen, dabei sind in ganz Berlin aktuell nur zwei Stellen auf Honorarbasis ausgeschrieben. Auf Jungs, die zu Mercedes oder BMW wollen, aber sich nicht für Mechanik interessieren. Oder welche, die mit Bitcoin reich werden wollen, sich aber nicht für die Bankkaufmannlehre interessieren. „Diese Anstrengungsbereitschaft, am Anfang erst einmal kleinere Brötchen zu backen, die begegnet mir immer weniger in den letzten Jahren”, seufzt die Berufsberaterin.

In Pankow ist es inzwischen 4:32. In der Backwarenfiliale sind sie seit einer halben Stunde am Werk, räumen Auslage ein, wenden Brötchenrohlinge in Kernmischungen. Sesam, Kürbis-Sonnenblumenkern. Einen Tag später posten sie auf TikTok ein Video: „Frühsport mit Elli und Susi“, in dem sie Brotkisten heben, Step Aerobic mit Dinkelbrot. „Ihr könnt eure Mitgliedschaft jederzeit bei uns abschließen.” Dass niemand mehr den Job machen will, verletzt sie. In der Luft mischt sich Hefegeruch mit Hoffnungslosigkeit: „Wenn ich keine Leute finde, muss ich schließen“, sagt Graner.

Vielleicht hat es auch etwas damit zu tun, dass Backware nicht gleich Bäckerei ist. Denn seit einigen Jahren rollen die Brote geldsparend aus der Großbäckerei Lehrte, bei Hannover, an. 269 Kilometer, bevor es in den Ofen geht. „Das wird inzwischen überall so gemacht“, behauptet Graner. Sie lacht über die Frage, ob jemand aus ihrer Familie eine Bäckerausbildung hat – natürlich nicht. Die Tapete in Backsteinoptik und die künstlichen Holzfenster wecken romantische Bäckereivorstellungen. Die Realität: 19.000 m² Fertigungsfläche, Alumnium-Großküche, Massenware. Und kompetente Mitarbeiter, die „Großkettenware so verkaufen, als wenn es Bäckerhandwerk wäre“, sagt Graner.

„Authentizität ist das Wichtigste auf Social Media“, empfiehlt Kevin Fröde, Recruiting-Chef der Deutschen Bahn in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Mit der Deutschen Bahn hat er auch schon Social-Media-Erfahrung gemacht. DB_Karriere heißt der Account, fast 46.000 Follower. Frödes Tipp: Die Mitarbeitenden selbst auftreten lassen, keine eingekauften Bilder, den Arbeitsalltag ungeschönt zeigen. Nahbar sein.

Das ist die Schäfers-Filiale in Pankow bereits. Auf TikTok gibt es ein Video, das viral gegangen ist: mehr als 3,5 Millionen Klicks: Faruk, Auszubildender, wie er zu spät kommt. Seine Unpünktlichkeit macht ihn zum Star. Näher am Alltag geht es kaum, denn heute ist er wieder zu spät: Graners Telefon klingelt, 6:24 Uhr. Eine andere Filiale ist dran. Faruk sei noch nicht da, in sechs Minuten beginnt die Schicht. Graner wählt seine Nummer, sein Handy ist aus. Das kennen sie schon. „Die Kollegin ist allein, wenn er nicht kommt – das schafft die nicht.“ Hier in Pankow sind sie zwischen vier und halb sieben morgens zu zweit, dann kommt Paul dazu, vierzig Minuten bevor er offiziell bezahlt wird.

Auszeichnung als „Mega Azubi“

Paul Pfannmöller ist das Erfolgsprodukt der Schäfers-Filiale Graner. Er erhielt den zweiten Platz des Wettbewerbs „Mega Azubi“ 2020, seit Juni ist er auch Filialleiter, nebenbei macht er seinen Handelsfachwirt. Trotzdem kommt er gern um vier Uhr morgens und schiebt Brötchen in den Ofen. Ein ähnliches Gefühl vermittelt auch der TikTok Account, obwohl er von Susanne Graner nebenbei bedient wird, während sie die Filiale leitet und Kunden bedient.

Bei der Deutschen Bahn arbeiten viele Leute am Account von DB_Karriere. „Natürlich müssen wir andere Geschütze auffahren“, sagt Rekrutierer Fröde, schließlich hätten sie jährlich 5500 Ausbildungsstellen zu besetzen, 400 davon in Berlin. Er vergisst nicht zu erwähnen, dass es auch aktuell noch freie Ausbildungsplätze gibt. Denn auch bei der DB gibt es Jobs mit wenigen Bewerbern. Ausschlusskriterium sind für viele offenbar Schichtarbeit und frühe Arbeitszeiten.

Hilft TikTok bei der Suche? „Herkommen wollen immer viele“, sagt Susanne Graner. TikTok sei nur der erste Kontaktpunkt, Heranwachsende realisierten dadurch überhaupt erst, dass die Backwaren-Filiale in Pankow existiert, meint Tobias Jost. Unter dem Namen „Karriereguru“ gibt er jungen Menschen auf Social Media Berufstipps, 660.000 TikTok-Follower.

Sein Tipp: Auf TikTok könne man die Marke stärken, Bewusstsein schaffen, neue Leute erreichen. Instagram werde genutzt, um eingehender zu informieren. Berufsportale wie LinkedIn oder Xing eigneten sich, um Stellen auszuschreiben.

Graner und ihr Team haben genug Follower, bald 14.000. Trotzdem keine Auszubildenden. Sie versuchen es ironisch zu nehmen, drehen ein Video: „5 Gründe, warum keiner mehr unseren Job machen will“. Ein Nutzer kommentiert: „Ihr habt die schlechte Bezahlung vergessen.“ 121 Likes. Jemand anderes schreibt “6-Tage-Woche + massig Überstunden“. 29 Likes. Graner antwortet: „Kommt auf die Verhandlung an“: Maximal 18 Euro die Stunde zahlen sie. „Wir sind halt kein cooles Start-up in Berlin-Mitte“.

Karriereberater Jost meint: „Obstkorb, Weiterbildung, fünf Euro mehr Gehalt im Monat – jucken keinen.” Benefits seien inzwischen normal. Was Menschen suchten, sei eine Inspiration, ein Unternehmen, für das man arbeiten und mit dem man sich identifizieren wolle.

Die Deutsche Bahn erkennt darin auch einen Vorteil für sich. „Wir leisten einen wichtigen Beitrag zur Mobilitätswende, zum Klimaschutz“, sagt Recruiter Fröde. Das sei interessant, für alle, die etwas Sinnstiftendes suchen. Die aktuelle Jugendstudie zeigt aber: Auf Auto, Flugzeug oder Fleisch verzichten – wollen die meisten nicht. Nicht einmal die Hälfte engagiert sich aktiv. So empfindet das auch Berufsberaterin Preuße: „Womit ich inzwischen immer meine Orientierungsstunden beginne, ist das Thema Geld.“ Da würden die Augen leuchten, wenn sie erzählt, dass der bestbezahlte Ausbildungsberuf die Gesundheitspflege sei, 980 Euro brutto im ersten Monat. Aber auch da: Frühschicht, wenig Wertschätzung.

Bei Schäfers in Pankow greift Susanne Graner um 6.59 Uhr nochmal zum Handy, spricht auf Faruks Mailbox: „Aufstehen, Hopp, Hopp.“ Früher hätte man so jemanden verwarnt, dann gekündigt. Doch sie brauchen Faruk. Weil er mit 732 Euro monatlichem Ausbildungsgehalt günstig ist. Aber auch, weil er der Liebling ihrer Follower ist.