In keiner deutschen Stadt steht derzeit eine vergleichbar bedeutende Fläche zur Neugestaltung zur Verfügung wie am Molkenmarkt in Berlin. Denn hier, zwischen dem Roten Rathaus und dem Alten Stadthaus, liegen die Ursprünge der Hauptstadt Deutschlands: Hier befand sich über Jahrhunderte eine dicht bebaute Kernstadt, dann, von 1969 bis 2019, verlief hier die sechsspurige Grunerstraße.

Die städtebauliche Transformation haben aber nicht allein der Zweite Weltkrieg und die DDR-Planer vollbracht; viel mehr beseitigten die Nationalsozialisten schon 1936 die alte Bebauung, um Platz für ein „Gauforum“ zu schaffen. Und auch dem nächsten Gau gilt es mit besseren Vorschlägen entgegenzuwirken!

Seit 1999 arbeitet der Berliner Senat an der Wiedergewinnung des Molkenmarkts. Naturgemäß wird angekündigt, es entstünde am historischen Ort ein lebendiges neues Viertel. Pure Behauptung! Dass ein solches entstehen soll, ist nicht nur für mich, einem im konservativen – bewahrenden – Sinne entwerfenden Städtebauer selbstverständlich. Auch von meinem Kollegen, dem Architekten Eike Becker, habe ich ähnliches gelesen. Was mich freut, denn diese gemeinsame Grundhaltung ist gleichermaßen zukunftsgerichtet und innovativ.

Als Gesellschaft dürfen wir nicht aufhören, uns zu entwickeln. Die Lösungen liegen immer in der Zukunft, die Rezepte dazu in der Vergangenheit. Wir brauchen Aktivität, Aufgeschlossenheit, Engagement für unseren Fortschritt. Der ist essenziell und as Lernen aus dem Vergangenen – Tradition ist die Triebfeder von Innovation – treibt unsere Neugierde auf das Zukünftige an.

Gut 450 Wohnungen an einer der meistbefahrenen Straßen Berlins – denn die Grunerstraße verschwindet ja nicht, sondern wird verschlankt und nach Norden verschwenkt. Der Verkehr wird bleiben. Was legt die betrübliche Aussicht nahe, dass die Senatspläne Wunschdenken sind und bleiben werden? Die wenigen Häuserblöcke, um die es geht, werden zur verlegten neuen Grunerstraße hin um 30 Meter beschnitten – die neuen Fluchtlinien folgen allein den Bedürfnissen des Autoverkehrs.

Weiter werden alle ehemals mittelalterlichen Parzellen neu geschnitten und, in Konsequenz, kann trotz hervorragender Dokumentationen kein einziger Leitbau, keine einzige Leitfassade vorgesehen werden, kein Stück Authentizität zurückgebracht werden, um das zukünftige Viertel in seiner Geschichte zu verankern.

Dabei hat sich die überwiegende Mehrheit der Berliner bereits zwei Mal – einmal im Rahmen der Bürgerbeteiligung „Alte Mitte, neue Liebe“ vor einigen Jahren, ein andermal in der aktuellen Forsa-Umfrage der Stiftung Mitte Berlin – für die Rekonstruktion quartierprägender Leitbauten im Molkenmarktquartier ausgesprochen. In diesem wichtigen Punkt ignoriert der Senat den Bürgerwillen. Mittenmang(el)!

Niedrige Mieten kennzeichnen noch kein erfolgreiches Quartier

Um das Bündel städtebaulicher Fehler zu komplettieren, sollen die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften hier Block- statt Parzellenstädtebau realisieren: Eine Baugrube, eine Tiefgarage, eine Haustechnik, ein Treppenhaus pro Blockseite mit Laubengangerschließung. Aber angeblich besteht kein Grund zur Sorge, dass die Baublöcke monoton wirken könnten, schließlich sollen ihre Fassaden alle 19 Meter den Farbton wechseln!

Es ist zu bezweifeln, dass auf dieser Grundlage ein lebendiges, nachhaltiges Quartier zwischen Rathaus und Stadthaus längs der weiterhin monströsen Autotrasse entstehen wird. Aber die Berliner Politik ist sich hier ganz sicher: Wenn nur die neuen schlichten kleinen Wohnungen für sechs bis zehn Euro pro Quadratmeter vermietet werden, sei der Erfolg des Quartiers nicht mehr aufzuhalten.

Da der neue Molkenmarkt frühestens in den späten 2030er-Jahren fertig wird, sollte Berlin es sich noch einmal überlegen: Wie haben es andere Städte gemacht? Wie sind zentrale Stadträume anderenorts repariert worden – in Potsdam am Neuen Markt, in Lübeck im Gründerviertel, in Dresden am Neumarkt, in Frankfurt am Main zwischen Dom und Römer – und in den Niederlanden, in denen (auch durch mein Büro) New Towns geplant wurden, die urban sehr erfolgreich sind?

Basis lebendiger Neustädte wie zum Beispiel Vleuterweide bei Utrecht oder Brandevoort südlich von Eindhoven sind Stadtgrundrisse, die attraktive und darum aktive Stadträume vorsehen und ermöglichen. Die abwechslungsreich entworfenen individuellen Fassaden der schmalen, die Stadträume rahmenden Häuser wurden nach stadtbaukünstlerischen Regeln zu Stadtbildern zusammengefügt. Der Autoverkehr wurde bei Bevorzugung des Fahrrades reglementiert und Handel und Dienstleistungen an Kreuzungen und den attraktiven Plätzen konzentriert.

Ich schließe mich Eike Beckers Zweifel an der vorrangigen Beauftragung landeseigener Gesellschaften an dieser zentralen, identitätsstiftenden Stelle Berlins an.

Tatsächlich führt solch eine zur Bedienungsanleitung verkommene Vision bloß zur Realisierung einer banalen Siedlung, in einer Mitte, in der Stadt zu erwarten wäre. Bei allem Respekt für die Baugeschichte der Moderne – das disneyhafte Nikolaiviertel und der unwirkliche Alexanderplatz als städtebauliche Kuriosa taugen bloß, um Berliner Städtetouristen hier herzubewegen, aber nicht die Herzen seiner Bürger.

Ein städtebaulicher Erfolg ist meines Erachtens weder Zufall noch eine zwangsläufige Folge günstiger Mieten – ein urbanes Quartier ist um die öffentlichen Räume und Angebote herum zu konzipieren und wurzelt in den Traditionen der europäischen Stadt und den älteren lokalen Schichten.

Parzellen an engagierte Bauträger vergeben

Eike Becker schlägt eine internationale Bauausstellung mit Kuratorium und Beirat vor, der das Quartier von der Architektenauswahl „bis zur Fertigstellung kuratiert und prägend begleiten wird“. Einer solchen oder anderer zeitraubender, für beteiligte Planerbüros volkswirtschaftlich desaströser Wettbewerbe möchte ich diese Idee gegenüberstellen: Wie wäre es, wenn man – als eine Art Investitionsprogramm bei lahmender Bauproduktion – engagierte Bauträger einlüde, je eine Parzelle mit einem Architekten ihrer Wahl zu planen und zu bebauen? Dies müsste mit strikten Vorgaben hinsichtlich des Anteils geförderter Mietwohnungen verbunden sein; 40 Prozent, wie gerade in den Niederlanden beschlossen. Individuelle Baubeiträge in der Tradition des bauenden Bürgers wären möglich, die ein wahrhaft zeitgenössisches Viertel entstehen ließen.

Abwechslungsreicher kann man sich das kaum ausmalen, wenn man sich vorstellt, zu welchen Beiträgen die Baubranche als Verursacher von 40 Prozent des globalen CO₂-Ausstoßes bei der Bewältigung ihrer Zukunftsaufgaben bereit wäre, um sich zu profilieren für die daraufhin anstehenden Aufgaben der Nachverdichtung der Metropole.

So könnte der anstehende Prozess im nächsten Jahr derart programmiert werden, dass auch in der Berliner Mitte eine kleinteilige und vielfältige Bebauung in „sehr guter Architektur“ entsteht – so wie es der aktuelle Koalitionsvertrag es sich seine Berliner Bürger wünschen lässt.