Auf einem Bordstein im Schatten vor der Tafel Finsterwalde sitzen drei Rentnerinnen. Es ist 11 Uhr am Vormittag, schon seit zwei Stunden harren sie hier aus. Sie haben Sorge, leer auszugehen, wenn sie nicht zu den ersten gehören. Deshalb sind sie mit ihren Fahrrädern ins Industriegebiet gekommen, lange bevor der ehemalige Supermarkt in der südbrandenburgischen Kleinstadt öffnet. An drei Tagen in der Woche werden hier Lebensmittel zu stark vergünstigten Preisen an Bedürftige abgegeben. Die meisten sind Spenden von Supermärkten, bei vielen von ihnen ist das Mindesthaltbarkeitsdatum bereits überschritten.

Ihre Namen wollen die Frauen nicht nennen, loswerden aber vieles. „Was haben wir bloß verbrochen, wir haben doch jahrelang geschuftet?“, fragt eine von ihnen und die anderen nicken. „Jetzt steht man hier und muss betteln, da sollte der Staat sich was schämen.“ Die Frauen bekommen zwischen 500 Euro und 970 Euro Rente, abzüglich der Fixkosten bleibt einer der Frauen weniger als 200 Euro zum Leben. „Ich verstehe nicht, warum der Staat uns so hängen lässt. Die kleinen Leute lässt er immer hängen. Immer.“ Sie trägt Jeans und Jeansjacke, das blondierte Haar vorne kurz und hinten lang. Ihre Enttäuschung in Worte zu fassen, gelingt ihr kaum, sie wirkt verbittert, spricht von sozialer Ungerechtigkeit. 66 Jahre alt ist sie, zusammen mit ihrem Mann hat sie monatlich 1200 Euro Rente zur Verfügung. „Ich habe 200 Euro zum Leben, 150 gehen für Essen drauf.“ 35 Jahre habe sie gearbeitet, sieben Jahre die Mutter gepflegt. „Und jetzt steht man hier, das kann doch nicht sein.“

Bevor die Frauen einkaufen gehen, studieren sie sorgfältig die Prospekte der örtlichen Supermärkte, berichten sie. Gerade sei Butter bei Kaufland im Angebot. „1,88 Euro. Man durfte nur drei Stücke kaufen, aber ich bin später nochmal hin und keiner hat es gemerkt“, sagt die 71-Jährige mit der Kurzhaarfrisur und dem Tattoo, die jünger wirkt als sie ist. Sie habe lange im Ausland gearbeitet, in Österreich in einem Hotel. Gerade habe sie zum ersten Mal in ihrem Leben Wohngeld beantragt, weil es einfach nicht mehr gehe. „Ich bin immer irgendwie hingekommen, ohne große Sprünge zu machen. Wir sind Ossis, wir haben gelernt, mit wenig auszukommen. Aber jetzt ist alles teurer geworden, und trotzdem ist mein Antrag auf einen Zuschuss abgelehnt worden, weil meine Rente mit 970 Euro zu hoch ist.“

Schon vor der Inflation hatten die Frauen rechnen müssen. Die Frage nach dem letzten Urlaub geht in Gelächter unter. „Ich war noch nie im Urlaub, außer bei den Schwiegereltern“, sagt eine. „Was haben wir denn zur Zeit Honeckers verdient, 300 Mark. Da haben wir nur 71 Miete gezahlt. Aber genauso gehungert wie jetzt. Uns hat man nie gesehen.“ Sie fühlen sich benachteiligt, als Rentnerinnen, als arme Menschen. Sie schimpfen auf die Politiker:innen: „Die haben ihre Konten voll, die brauchen nicht zu überlegen, wen sie noch nach Geld für Essen fragen könnten.“

Die Inflation und die steigenden Energiepreise machen sich in Deutschland immer deutlicher bemerkbar: Im Mai war Butter 43 Prozent teurer als im Jahr zuvor, Heizöl kostete fast doppelt so viel wie vor zwölf Monaten. Während die Inflationsrate noch im Februar bei 5,1 Prozent lag, kletterte sie im Mai auf 7,9 Prozent. Und ein Ende scheint nicht in Sicht zu sein, zumindest stimmte Bundeskanzler Olaf Scholz die Bürger:innen erst kürzlich auf eine lang anhaltende Krise mit hohen Lebenshaltungskosten ein.

Armut hat in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht. 13,8 Millionen Menschen sind von ihr betroffen und ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung macht inzwischen 16,6 Prozent aus. Das geht aus dem Paritätischen Armutsbericht 2022 hervor. Nie hätten mehr Kinder und Alte in Armut leben müssen, nie sei die Armutsquote so rasant gestiegen wie in den Jahren 2020 und 2021, erklärte Ulrich Schneider, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands, bei der Vorstellung des Berichts. Und nun scheint sich durch den Ukraine-Krieg, die Inflation, durch Lieferengpässe und Corona eine weitere Verschärfung abzuzeichnen. Einen so starken Anstieg der Verbraucherpreise wie jetzt hat es zuletzt nach der Wiedervereinigung gegeben.

Das bundesweite Durchschnittseinkommen liegt bei 23 706 Euro. Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf im Elbe-Elster-Kreis, in dem Finsterwalde liegt, und der als einer der ärmsten Landkreise Deutschlands gilt, liegt bloß bei 20 214 Euro. Hier betreffen die ansteigenden Preise die Menschen besonders stark. Während sich die Warenkörbe deutscher Haushalte insgesamt in den vergangenen zwölf Monaten im Schnitt um 7,9 Prozent verteuerten, mussten Familien mit niedrigem Einkommen für ihre typischen Einkäufe 8,9 Prozent mehr zahlen. Den Grund dafür erklärt der Bericht des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in seinem Inflationsmonitor für den Monat Mai: „Der Preisanstieg bei Wohnenergie belastet Haushalte mit geringeren Einkommen überproportional und auch die Verteuerung der Nahrungsmittel schlägt sich stärker nieder.“ Denn die Alltagsgüter, die sie vor allem kauften, seien kaum zu ersetzen.

Der IMK-Analyse zufolge könnte sich die Entwicklung in den kommenden Monaten weiter verschärfen, bisher wurden noch nicht alle Preissteigerungen an die Privathaushalte weitergegeben. Vor allem die Gaspreise sind für viele Menschen in Deutschland ein mächtiger Schlag ins Kontor. Knapp jeder vierte Haushalt ist von sogenannter Energiearmut betroffen. Das ergab eine Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW). Im vergangenen Jahr lag die Quote noch bei 14,5 Prozent. Als energiearm gilt ein Haushalt, der mehr als zehn Prozent seines Nettoeinkommens für Energie aufwenden muss.

Dass die Zeiten andere geworden sind, zeigt sich in Finsterwalde besonders deutlich an der immer größeren Anzahl von Menschen, die versuchen, sich bei der Tafel einzudecken. Sie können sich selbst Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten. Außerdem wächst die Zahl der Geflüchteten aus der Ukraine bei der Essensausgabe. Kerstin Nelkert arbeitet seit 20 Jahren bei der Tafel und zeigt nun ihr akribisch geführtes Buch. In der vergangenen Woche waren es 90 Familien, die hier waren, um stark vergünstigte Lebensmittel zu kaufen. Noch im März waren es nur 36.

Nelkert steht der Schweiß auf der Stirn. Es ist heiß heute in Südbrandenburg und sie ist seit sieben Uhr morgens im Dienst. Organisieren, Delegieren, Auspacken, Beutel und Kartons befüllen, schwere Kisten schleppen. Früher hat sie das vier Vormittage in der Woche auf 450 Euro-Basis gemacht, seit kurzem arbeitet sie nur noch an dreien. „Den Donnerstag mussten wir vor ein paar Monaten streichen, wir schaffen es einfach nicht mehr, weder personell noch mit den Spenden, die uns zur Verfügung stehen.“ Dadurch, dass immer mehr Leute kommen, wurden die Einsätze der meist älteren Helfer:innen nicht selten zu Acht-Stunden-Schichten. Außerdem fehle es schlicht und ergreifend an Essen: Teils kalkulieren die Supermärkte enger, teils sind die Waren selbst dort knapp und Regale bleiben leer. Nelkert zeigt auf die noch gut bestückte Auslage. „Hätten wir gestern Betrieb gehabt, wären die Leute heute leer ausgegangen.“

Die Tafeln seien ein Seismograph für die gesellschaftliche Situation, meint Pfarrer Markus Herrbruck, der der von der Evangelischen Kirchengemeinde Finsterwalde gegründeten Tafel seit mehr als 20 Jahren vorsteht. „Die Leute reagieren auf solche Veränderungen sehr sensibel, wenn sich etwas zusammenbraut, merken wir das bei der Tafel sofort. Das Angebot wird weniger bei steigender Nachfrage.“ In Finsterwalde sei die Situation ähnlich wie in vielen Südbrandenburger Städten, die nicht mehr im Speckgürtel Berlins liegen. „Das Sozialgefüge ist durcheinander gekommen durch die zweite abgewanderte Jugendgeneration. Es bleiben vor allem die hier, die schon in zweiter oder dritter Generation auf Leistungen angewiesen sind.“

Dass so viele Menschen aus der Ukraine kommen, provoziere teilweise Unmut, berichtet Nelkert. Ein gewisses Misstrauen sei da. „Ach, Donnerstag wohl nur noch für Ukrainer, höre ich manchmal. Das ist natürlich Quatsch.“ Doch dass sich seit Beginn des Kriegs etwas verändert hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Statt zweimal dürfen die Kunden nur noch einmal in der Woche kommen. Wurst, Käse und andere Grundnahrungsmittel sind zur Mangelware geworden.

Die Tafel öffnet um 11.30 Uhr, doch bereits ab acht Uhr trudeln die ersten ein und warten vor der Tür darauf, dass es losgeht. Teilweise haben sie Klappstühle dabei, viele von ihnen sind älter als 60.

Vom Entlastungspaket der Bundesregierung, mit dem die finanziellen Mehrbelastungen der Bevölkerung abgefedert werden sollen, profitierenRentner:innen nicht, weil sie nicht einkommenssteuerpflichtig sind. Eine Tatsache, die der Armuts- und Reichtumsforscher Christoph Butterwegge kritisiert. „Wenn sich Lebensumstände verändern, ist der Sozialstaat verpflichtet zu reagieren.“ Er vermisst eine passgenaue Unterstützung. „Es sollten vor allem jene Personen unterstützt werden, die von der Teuerungswelle stark betroffen sind.“

Viele Menschen, die einen Anspruch auf Sozialleistungen haben, nehmen diese gar nicht wahr. „Aus wissenschaftlichen Untersuchungen geht hervor, dass bei Hartz IV nur eine von zwei Personen, die einen Anspruch haben, auch Hartz IV beantragt. Bei der Grundsicherung im Alter ist es sogar nur eine von drei Personen.“ Das bestätigt auch die ehrenamtliche Helferin Gisela Kohtz beim gemeinsamen Mittagessen in den Räumen der Tafel. „Ich kenne viele, die nicht kommen, weil sie sich schämen." Sie selbst sei nur nicht betroffen, weil sie 20 Jahre im Westen gewesen sei und drei Jobs parallel gestemmt habe: „Zwölf-Stunden-Schichten im Krankenhaus als Krankenschwester, abends Karten abreißen im Kino und am Wochenende Straße kehren. Ich war alleinerziehend, anders wäre es nicht gegangen.“ 47 Jahre habe sie gearbeitet und sei keinen Tag krank gewesen. „Und jetzt bleibe ich auch gesund, mein Sohn ist Dialysepatient, dem muss ich noch eine Niere geben.“

Die Bundesregierung habe bei den Entlastungspaketen wenig Sensibilität für soziale Probleme mancher Bevölkerungsgruppen gezeigt, sagt Butterwegge. „Alte Menschen sind kälteempfindlicher und mehr als Erwerbstätige zuhause, weshalb sie höhere Heizkosten haben. Trotzdem gibt es für sie keine Entlastung.“ Genau wie die Pandemie treffe die Inflation vor allem die finanziell ohnehin schon Benachteiligten. „Es ist nicht möglich, den Gürtel enger zu schnallen, wenn er ohnehin schon auf den Hüftknochen schabt.“

Auch Detlef Klausch steht schon zwei Stunden bevor es losgeht am Eingang der Tafel Finsterwalde. Nicht, weil er Angst hat, nichts mehr zu bekommen, sondern weil es keine andere Busverbindung gibt. Das störe ihn aber nicht. Der Töpfermeister bekommt 408 Euro Rente im Monat, davon bleiben ihm 208 Euro zum Leben. Er hat ein eigenes Haus, er hat es selbst gebaut. Das ist sein Glück. Durch die Pflege seiner Eltern schied er frühzeitig aus dem Berufsleben aus. „Dass ich mal bei der Tafel landen würde, um mich zu ernähren, das hätte ich auch nicht gedacht. Aber ich komme klar, ich bin da auf keinen böse.“ Die Tafel bezeichnet er als Geschenk Gottes. „Wer hier meckert, den kann ich nicht verstehen.“

Es ist 11.20 Uhr, inzwischen hat sich eine lange Schlange vor dem Gebäude gebildet. Das Publikum ist bunt gemischt, man kennt sich, man plaudert. Einige kommen seit Jahren, andere sind neu. „Wenn ihr alle lieb seid, fangen wir an, weil es so heiß ist“, ruft jemand aus dem Innenraum. Drinnen liegt der Geruch von Schweiß und Brot in der Luft.

Die 49-jährige Peggy Krüger ist heute zum ersten Mal als Kundin bei der Tafel. Früher hat sie selbst ehrenamtlich hier ausgeholfen. Die gelernte Kfz-Mechanikerin ist Hartz-IV-Aufstockerin, arbeitet in Teilzeit in einer Tankstelle. „Ich würde gerne mehr arbeiten, aber das ist im Schichtdienst kaum möglich.“ Diesen Monat wusste sie sich nicht anders zu helfen, als herzukommen: eine Stromkostennachzahlung von 700 Euro, Nebenkosten 80 Euro, das Stück Butter 2 Euro.

Einen Anspruch auf die Tafel gibt es in Deutschland nicht, doch immer mehr Leute scheinen auf sie angewiesen zu sein. Ein Armutszeugnis für ein Land wie Deutschland, sagt Christoph Butterwegge. Dass sich an der Situation bald etwas ändern wird, hält er für unwahrscheinlich. „Die inflationären Tendenzen werden sich eher verstärken und verfestigen.“ Die Reichen würden dadurch reicher, die Armen ärmer und zahlreicher. „Die Gesellschaft driftet auseinander und Solidarität geht verloren.“

Um 12.30 Uhr ist Schluss mit der Lebensmittelausgabe, beim Hinausgehen sehen die meisten Leute heute zufrieden aus. „Es war leer“, erklärt Kerstin Nelkert. „Und deshalb von allem genug da. Sonst geht die Schlange bis um die Ecke“, sagt sie und zeigt auf den Parkplatz. „Wahrscheinlich war es vielen zu heiß.“ Anstrengend sei der Tag gewesen. „Keine Zeit zum Luft holen. Aber es nutzt ja nichts. Umso früher sind wir fertig.“ Montag um sieben Uhr geht es weiter.

Gesellschaftlicher Seismograph. „Wenn sich etwas zusammenbraut, merken wir das sofort. Das Angebot wird weniger bei steigender Nachfrage“, sagt Pfarrer Markus Herrbruck. Foto: picture alliance/dpa