Das Jahr 2020 könnte für Berlin nicht nur wegen der Coronakrise, sondern auch wegen des Mietendeckels zum Scheidepunkt werden. Erstmals seit dem Jahr 2013 wächst die Bevölkerung der Stadt nicht mehr – sie schrumpft. Der Lockdown und die gebremste Mobilität der Menschen sind sicher ein Grund dafür.

Der andere aber ist: Berlin hat schon heute weniger Wohnungen, als es Haushalte gibt – und deshalb verliert die Stadt Familien und Leistungsträger ans Umland. Die Stadt, die Bahnen, die Schulen sind voll. Das Pendeln schadet der Umwelt, und die Zersiedlung hinter der Stadtgrenze schreitet voran. Aber keine gemeinsame Regionalplanung hält dagegen. Auch die Alterung der Bevölkerung spielt eine Rolle. Diese Entwicklung fordert die Politik heraus – und bereitet uns Sorgen. Zwölf Punkte, die Berlins Not belegen.

1. Nicht mal eine Wohnung für jeden

Haushalt – verschärfte Wohnungsnot

Wie groß die Wohnungsnot ist, kann jeder erkennen im Straßenbild Berlins: an den langen Schlangen bei der Besichtigung jeder freien Wohnung. Und wohl jeder Berliner kennt die Klagen aus dem Freundeskreis, wenn die Familie wächst oder Partner sich trennen. Eine freie Wohnung zu finden, ist nahezu aussichtslos. Das Amt für Statistik erhärtet dies mit objektiven Zahlen. Denn es gibt nicht mal ausreichend Wohnungen für die in der Stadt lebenden Haushalte. Auf 1000 Haushalte kamen im Jahr 2018 nur 962 Wohnungen. Viele Haushalte teilen sich also Küche und Bad mit anderen. Und die Wohnungsnot hat sich in den letzten neun Jahren weiter aufgebaut: Im Jahr 2011 waren das Angebot an Wohnungen und die Nachfrage von Haushalten noch nahezu ausgeglichen.

2. Berlin verliert im Wettbewerb

mit Brandenburg

Wer keine Wohnung in Berlin findet und beispielsweise Nachwuchs bekommt, verlässt die Stadt. Viele Gemeinden im Umland sind durch Bahnverbindungen gut erreichbar. Und die brandenburgischen Gemeinden zeigt den Berliner Bezirken mit ihrer Baupolitik, wie es geht: Sie bieten günstigen Wohnraum und das in ausreichender Zahl. Dabei fehlte es auch in den Landkreisen jenseits der Stadtgrenze vor neun Jahren noch an Wohnungen.

Nur: Im Gegensatz zu Berlin reagierten die Gemeinden und schufen Bauland und neuen Wohnraum. Inzwischen bieten die Umlandgemeinden Berliner Familien Wohnraum im Überfluss, denn auf 1000 Haushalte entfielen im Jahr 2018 bereits 1015 Wohnungen – ein Zuwachs von 37 Wohnungen in den vergangenen neun Jahren.

Deshalb wächst das Umland von Berlin viel stärker als die Stadt selbst: Die Bevölkerung verdoppelte sich nahezu (plus 47,2 Prozent) in den letzten fünf Jahren durch eine Zunahme um 315 374 Personen. Berlin selbst wuchs zwar auch, aber um „nur“ fünf Prozent (+172 817 Personen).

3. Zersiedelung und Verkehrschaos –

die Umwelt verliert

Immer mehr Berufstätige ziehen aus Berlin ins Umland – und pendeln zur Arbeit. Der Verkehr verursacht rund ein Viertel der CO2-Emissionen Berlins. „Diese liegen nach einem Abwärtstrend in den letzten Jahren heute wieder auf dem Niveau des Jahres 2004“, meldete die Verkehrsverwaltung.

Vor eineinhalb Jahrzehnten stießen Autos viel mehr Abgase aus als die Flotte, die heute die Straßen verstopft. Aber es sind heute mehr Autos unterwegs, die Luft ist deshalb unverändert stark verschmutzt. Die Verkehrssysteme erreichen ihre Belastungsgrenze: „Seit dem Jahr 2009 stieg das Pendleraufkommen aus Brandenburg in die Hauptstadt Berlin um 26 Prozent“, so der Verkehrsverbund VBB. Mehr als 220 000 Menschen machen sich täglich auf dem Weg aus dem Umland nach Berlin und zurück. Und weil viele frühere Berliner im eigenen Häuschen leben wollen, frisst der Exodus Fläche und zersiedelt das Land.

Der Immobilienexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Voigtländer, beklagte schon vor drei Jahren bei der Vorstellung einer Studie: „Wir haben durch die neue Bautätigkeit eine verstärkte Zersiedelung.“ Und dort, wo Wohnungen nötig wären – in Berlin ebenso wie in Potsdam –, gibt es zu wenige.

4. Hauptstadt der Rentner –

kostet Wirtschaftskraft und Steuern

Junge Familien suchen das Weite, in Berlin bleibt, wer schon Wohnraum hat und auch sonst keinen Grund, fortzuziehen. Das sind vor allem Menschen im Rentenalter. „Die Zahl der älteren Personen (ab 65 Jahre) wird bis zum Jahr 2030 um knapp ein Viertel auf etwa 844 000 Menschen zunehmen“, heißt es beim Amt für Statistik – fast jeder vierte Berliner (22 Prozent). Noch kräftiger wächst die Zahl der Senioren: 80 Jahre oder älter werden in zehn Jahren rund 263 000 Berliner sein – ein Anstieg um 62 Prozent.

Für Berlin ist das keine gute Nachricht, denn vor allem die Erwerbsfähigen zwischen 18 und 65 Jahren sind es, die in den Beruf drängen, die Wirtschaft tragen und für die Steuern aufkommen. Aber ausgerechnet deren Anteil wird schrumpfen bis 2030: um vier Prozent auf 62 Prozent. Zwar wird es in knapp zehn Jahren auch mehr Kinder und Jugendliche in Berlin geben (plus 84 000). Dennoch steigt das Durchschnittsalter in der Stadt von zurzeit 42,9 auf 44,3 Jahre.

5. Mieten gedeckelt – Umbau

zu altengerechten Wohnungen gestoppt

Deutlich mehr Senioren werden in zehn Jahren in der Stadt leben, aber sie werden zu wenig altengerechte Wohnungen finden. Auch hier wächst der Mangel. Der Mietendeckel beendete zwar das Geschäft mit der Sanierung von Altbauten mit dem vorrangigen Ziel der Steigerung von Mieterträgen. Gestoppt hat es damit aber zugleich den Umbau des Bestandes in seniorengerechte Wohnungen – das heißt: ohne Schwellen, mit ebenerdigen Duschen und Aufzügen statt Treppen.

Private Unternehmer, aber auch Genossenschaften und sogar landeseigene Wohnungsunternehmen kündigten an, weniger Geld in ihre Bestände zu investieren, weil sie infolge des Mietendeckels weniger Mieteinnahmen und damit Mittel für Sanierungen haben werden.

Konzerne wie Vonovia nannten ausdrücklich den Stopp des altengerechten Umbaus von Wohnungen. Dabei hatte das Pestel-Institut im vergangenen Jahr gewarnt: „Ein Großteil der erforderlichen Senioren-Wohnungen wird durch den Umbau vorhandener Wohnungen entstehen müssen.“ Bundesweit müssten bereits bis 2030 rund drei Millionen altersgerechte Wohnungen zusätzlich gebaut werden. Sehr viele werden auch in Berlin fehlen. Wie viele, hat der Senat nicht einmal zu ermitteln versucht.

6. Familien finden keine Wohnungen mehr – gebaut wird vor allem für Singles und Paare

Weil Baugrund und Baupreise hoch sind, ist der Anteil kleiner Wohnungen bei neu gebauten Häusern exponentiell gestiegen. „Während 2012 noch fast jede zweite entstandene Wohnung fünf oder mehr Räume hatte, war es 2019 nur noch jede zehnte Wohnung“, schreibt das Amt für Statistik. Jede zweite „hinzugekommene Wohnung“ im Bestand habe im vergangenen Jahr einen oder höchstens zwei Räume gehabt. Vor acht Jahren sei nur gut jede fünfte (21,5 Prozent) Wohnung eine solche Single-Immobilie gewesen.

Ein „Umzugskarussell“ von Senioren, die aus großen Wohnungen in kleine wechseln, gibt es nicht: Neu gebaute kleine Wohnungen sind oft so teuer wie große Wohnungen aus dem Bestand. Erst recht, seitdem der Berliner Mietendeckel deren Miethöhe begrenzt. Für Neubauten gilt der Deckel nicht.

Das verschärft die Wohnungsnot von Familien mit durchschnittlichen Haushaltseinkommen: Große, neu gebaute Wohnungen sind unerschwinglich, und weil die Mieten für große Wohnungen im Bestand gedeckelt sind, ziehen Alleinstehende oder ältere Paare selten aus ihren geräumigen und günstigen Altbauwohnungen aus. Denn preiswerte Alternativen mit weniger Zimmer sind selten.

7. Das Bevölkerungswachstum stagniert, in Berlin werden weniger Kinder geboren

Durch die starke Zuwanderung im vergangenen Jahrzehnt und weil die Mieten in Berlin wegen des guten Angebots an Wohnungen noch moderat waren, konnte die Stadt den Verlust an Einwohnern infolge von Todesfällen durch die vielen Geburten mehr als ausgleichen. Doch dieser Trend ist gebrochen. Das Amt für Statistik meldete bereits für das Jahr 2018 einen „sinkenden Geburtenüberschuss“: 40 203 Geburten stehen 35 900 Sterbefälle gegenüber.

Das „natürliche“ Wachstum der Bevölkerung (ohne Zuzug) beträgt also nur noch 4303 Berliner im Jahr. Weil der Zuzug aus anderen Regionen stockt, vermeldete das Amt für Statistik für das erste Halbjahr 2020 „erstmals seit 2013“ einen Bevölkerungsrückgang um mehr als 7000 Personen. Vor allem Deutsche zogen weg (minus 8114). Aus dem Ausland zogen nur 1075 Neu-Berliner her.

8. Soziale Wohnungspolitik ist teuer

Bei der Bekämpfung der Wohnungsnot setzt der Senat auf den Bau von Wohnungen durch die sechs landeseigenen Unternehmen. Die Begünstigung des kommunalen Wohnungsbaus begründete Senator Sebastian Scheel (Linke) wie schon seine Vorgängerin im Amt damit, dass es nicht an Wohnungen fehle, wohl aber an bezahlbaren Wohnungen.

Das stimmt nicht ganz, denn laut Amt für Statistik gibt es in Berlin nicht mal eine Wohnung je Haushalt. Richtig ist aber, dass Grundstücke und Baupreise in der Stadt so hoch sind, dass Wohnraum nicht für eine rechnerische Miete von weniger als elf Euro je Quadratmeter erstellt werden kann. Weil diese Miete für viele zu hoch wäre, subventioniert das Land die eigenen Unternehmen – und verpflichtet sie, ihre Wohnungen günstig zu vermieten. Das ist eine teure Strategie.

9. Wohneigentum unerwünscht –

zulasten der Mischung

Dass die Förderung des Wohneigentums in der Verfassung Berlins (Artikel 28) verankert ist, geriet in der scharfen Debatte um Mietendeckel und Enteignung von Wohnungskonzernen in Vergessenheit. Dabei könnte das Land junge Familien beim Erwerb von Wohneigentum unterstützen. So würde dem Trend zum Fortzug von Berufstätigen und dem Verlust ihrer Steuerkraft entgegengewirkt. Es fehle nicht an Angeboten für Käufer von Eigentumswohnungen, erklärte der Senat wiederholt. Doch die Opposition widerspricht: Polizeibeamte, Krankenpfleger und andere „Schwellenhaushalte“ würden kaufen, wenn sie nur könnten.

Die CDU will solchen Berlinern daher die Grunderwerbssteuern bis zu einem Kaufpreis von 300 000 Euro erlassen sowie ein „Familiendarlehen“ der landeseigenen Förderbank IBB gewähren. Die FDP schlägt ein „Mietkauf“-Programm für Haushalte mit Anspruch auf einen „Wohnberechtigungsschein“ vor. Sogar Sozialleistungsempfänger könnten dann in landeseigenen Quartieren eine Wohnung kaufen und statt Miete eine monatliche Kaufpreisrate bezahlen.

10. Aus Mietobjekt wird Wohneigentum – für die wenigen mit viel Kapital

Der wegen seiner teils radikalen stadtpolitischen Auffassungen umstrittene Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, Florian Schmidt (Grüne), hatte schon vor Einführung des Mietendeckels gewarnt: Hauseigentümer würden wegen der teils gesenkten Mieten künftig verstärkt Mietwohnungen in Eigentumsobjekte umwandeln und verkaufen.

Die Zahlen führender Online-Portale zur Vermittlung von Wohnobjekten sprechen für diese Annahme: Laut Immobilienscout hat sich das Gesamtangebot an Mietwohnungen in Berlin innerhalb eines Jahres um 41,5 Prozent verringert. Bei Wohnungen mit gedeckelten Mieten (gebaut vor dem Jahr 2014) sank das Angebot sogar um fast 60 Prozent.

Gleichzeitig stieg das Angebot an Eigentumswohnungen um 13,2 Prozent. Noch stärker wuchs das Angebot von Wohnungen, die vor 2014 gebaut wurden und deren Mieten durch den Deckel begrenzt werden: um 23 Prozent. Diese Entwicklung ist bundesweit einmalig.

11. Aufträge im Wohnungsbau

brechen ein – noch weniger Neubau

Noch brummt das Geschäft mit dem Neubau von Wohnungen, der Umsatz steigt. Doch der Absturz zeichnet sich bereits ab. Bei den Firmen gehen immer weniger Aufträge ein. Knapp ein Drittel weniger Aufträge als im Vorjahresmonat waren es im August. Und das ist der Trend im ganzen Jahr bisher: Minus 30 Prozent.

Der Bauindustrieverband Ost, der die meisten Firmen in den Ostländern und Berlin vertritt, schreibt: „Wir führen den Einbruch auf die andauernde große Verunsicherung von Investoren in der Hauptstadt zurück“. Der Mietendeckel stoppe Investitionen in den Bestand, weil Kosten für Modernisierungen und seniorengerechte Umbauten kaum noch durch höhere Mieten finanziert werden dürfen.

Dafür spricht, dass in anderen Regionen und deutschlandweit mehr (und nicht weniger) Aufträge im Wohnungsbau eingehen (plus 5,7 Prozent). Nur in Berlin gibt es weniger Aufträge, und nur in Berlin begrenzt der Mietendeckel die Umlagen so stark. Auch für den September meldet der Verband einen „Nachfrageeinbruch“ bei eingehenden Aufträgen im Wohnungsbau um knapp 28 Prozent.

12. Die Politik hält nicht Schritt

mit der Entwicklung der Hauptstadtregion

Weder Geldflüsse von Investoren noch Wohnungssuchende oder Pendlerströme halten sich an Landesgrenzen. Doch die Politik hält mit der Realität der wachsenden Metropolenregion nicht Schritt. Die „Gemeinsame Landesplanung Berlin-Brandenburg“ kommt auch Jahre nach ihrem Start kaum über Befragungen hinaus: Die Gemeinden sollen den „Landesentwicklungsplan Hauptstadtregion Berlin-Brandenburg“ bewerten. Der Plan soll den Siedlungsbau regulieren und der Zersiedelung vorbeugen. Das ist zu wenig für eine Wachstumsregion mit der größten deutschen Stadt als Kraftzentrum. Weltweit erkennen Unternehmer wie Elon Musk oder Investoren wie Black Rock die Chancen in der Region und ergreifen sie. Ohne politische Steuerung und einem Schulterschluss beider Landesregierungen droht ein regelloses Wachstum mit Risiken für die Umwelt, die Menschen und die Wohnquartiere.