Jetzt muss es schnell gehen. In dem 40-Liter-Topf beginnt eine angedickte Tomatensauce mit Paneer-Käse zu blubbern, auf der Heizplatte backen knusprige Papadams, ein Wecker klingelt. Suleman Thaker hackt einen Bund Koriander und streut ihn über den dampfenden Basmatireis. Ein Gericht nach dem anderen muss fertig werden: Valutana Curry, Tilwale Aloo, Malvani Murgh, Namen wie Fernreisen, doch es ist weit und breit niemand, der die aufwendig zubereiteten, über Stunden geschmorten indischen Spezialitäten essen würde.

Das „Tiffin“ ist das beste Restaurant in Berlin, das noch nie ein Gast von innen gesehen hat. Hier gibt es keine Tische, keine Stühle, keine Kellner:innen, keinen Gastraum. Nur eine Küche im Keller eines Fabrikgebäudes in Kreuzberg. Ghost Restaurant nennt man dieses Geschäftsmodell. Es könnte eine große Zukunft haben. Schon weil es zwei Probleme löst, die die Gastro-Branche plagen: Personalnot und Platzmangel.

Wie viele Ghost Restaurants es in Berlin genau gibt, weiß nicht mal der Branchenverband Dehoga so genau. Viele kommen, einige verschwinden wieder, ohne dass es groß auffällt. Es ist ein schneller, flüchtiger Markt.

Und ein großes Versprechen: Sie könnten schon bald die Gastronomie in den Metropolen der Welt prägen.

Bestellt wird bei Tiffin auf der Webseite. Jeden Sonntag veröffentlichen Suleman Thaker und sein Partner Sachin Obaid das Menü für die kommende Woche. Nach Vorkasse per Kreditkarte oder Online-Bezahldienst werden die Gerichte am folgenden Wochenende ausgeliefert. Freitag, Samstag, Sonntag, zwischen 18 und 19 Uhr oder zwischen 19 und 20 Uhr. Dann herrscht drei Tage Hochbetrieb in der Küche.

Thaker steht am Freitag seit 6 Uhr morgens am Herd. Seine Küchenhilfe ist krank, erzählt er, als er drei Kellen Ghar Ki Dal aus gelben Linsen in einen der braunen Becher gibt, die abgezählt in Dreierreihen auf der Edelstahl-Arbeitsfläche warten, die Deckel mit Edding beschriftet. Das Telefon klingelt. Thaker klemmt es sich zwischen Ohr und Schulter. „I take care of it, don’t worry, no problem.“ Er schaut auf einen ausgedruckten Zettel, der an einem Rohr klebt. Dort stehen die Bestellungen für den Abend.

Regen prasselt gegen die Fenster, indischer Hip-Hop knattert aus den Boxen, schwarze Wärmetaschen stapeln sich in dem Regal an der Wand. Ein Spüler reinigt Töpfe, der Mitarbeiter aus dem Büro packt Becher mit Reispudding mit Safran und Pistazien in Papiertüten. „Desserts kommen zuerst dran, sie müssen ja nicht warm gehalten werden“, erklärt Thaker auf Englisch, Küchensprache ist Urdo.

Komplexer ist die Logistik bei den warmen Gerichten. Die werden morgens gekocht, kühlen dann ab, werden kurz vor Auslieferung noch mal erhitzt, damit sie warm bei den Kunden ankommen. Auf einem Schreibtisch liegen ausgedruckte Stadtpläne mit Adresse, Entfernung, Fahrzeit und nummerierten Pins für die Mitarbeiter des externen Fahrdienstes. Die kommen in zwei Schichten ab 17 Uhr im Viertelstundenrhythmus und holen die gepackten Taschen ab. Die schnellste Route ist im Navi vorgespeichert.

„Wenn wir ein normales Restaurant wären, bräuchten wir an einem Abend wie heute ein Lokal mit 120 Plätzen“, sagt Suleman Thaker. „Und drei Köche mehr.“ Im Tiffin schafft er das Pensum notfalls auch alleine. Das Arbeiten sei entspannter als in einem Restaurant. Und die Abende sind frei. Wenn bei den Kolleg:innen die ersten Bons in die Küche flattern, kann Thaker Feierabend machen. Ausgedacht hat er sich das System mit seinem Partner Sachin Obaid. Der ergänzt: „Wir versuchen, das Restaurant wie eine Tech-Company zu entwickeln: Effizienz maximieren, Handgriffe minimieren.“

Das Bestellgeschäft rund ums Essen hat einen riesigen Satz in der Coronakrise gemacht. Der Essens-Lieferdienst Lieferando verdoppelte seinen Umsatz im ersten Halbjahr 2020. Und das obwohl mit Wolt ein mächtiger Konkurrent auf den deutschen Markt drängte. Ein Kulturwandel findet gerade statt: Die bestellfaulen Deutschen kommen langsam auf den Geschmack. In England macht die Branche längst doppelt so viel Umsatz. In den USA hat allein Uber Eats 10 000 virtuelle Restaurants auf der eigenen Plattform.

In Deutschland ist die Entwicklung noch am Anfang. Zu den Vorreitern zählt das Berliner Start-up Vertical Food. Die 2017 gegründete und laut eigener Aussage erste virtuelle Restaurantkette Deutschlands betreibt neun Marken. Pizza und Pasta, Bowls und Hummus, Sommerrollen und Hotdogs – alles aus derselben Küche, von denselben Köch:innen, geliefert von denselben Fahrer:innen, aber jeweils individuell unter einem anderen Restaurantnamen vermarktet, verpackt und verrechnet. Bei Vertical ist im Frühjahr Unilever Food Solutions & Langnese Deutschland eingestiegen. Das Ziel: bis zu 50 weitere Ghost Kitchens in Deutschland aufzubauen.

Das Tiffin war eher ein Unfall. So erzählt es jedenfalls Sachin Obaid einen Tag zuvor. Donnerstag ist „prep day“. Da werden die Kühlschränke mit Waren gefüllt, Gewürzmischungen hergestellt, Pickles eingelegt, neue Gerichte ausprobiert. Jede Woche kommt ein neues hinzu. In einem roten Ordner sind mittlerweile 68 in Klarsichtfolie abgeheftet. „Unsere Bibel“, sagt Thaker und taucht ein Thermometer in einen Wok mit heißem Öl. Er wirft ein paar Curryblätter hinein. Es britzelt leise.

Obaid spricht schnell und viel, Thaker leise und wenig. Unterschiedlicher könnten die beiden Macher kaum sein.

Obaid, 39, grauer Kapuzenpulli und Basecap, stammt aus Kerala ganz im Süden Indiens. Er wächst in Saudi-Arabien auf, sein Vater arbeitet in der Ölbranche, später zieht die Familie in die USA. Nach dem Studium geht er nach New York, wo er zehn Jahre bei einer Investmentbank arbeitet. Dann folgt er seiner Frau nach England, wo er in Cambridge noch mal studiert und in die Tech-Branche einsteigt. Und viel reist. Wo immer er ist, trifft er Köche und postet Fotos mit ihnen auf Instagram.

Zu dieser Zeit wird es für Suleman Thaker, 30, enges schwarzes T-Shirt, kräftige Oberarme, immer brenzliger in seiner Heimatstadt Karatschi. Er ist Ismailit, das Zeichen des Propheten Ali trägt er als Tattoo auf dem Handgelenk. Die religiöse Minderheit wird in Pakistan verfolgt, er selbst wird bedroht. Seine Familie drängt ihn, zu gehen. 2015 ist das, ausgerechnet.

Zwei eiskalte Winterwochen steht er vergeblich vor dem Lageso in Wedding an, ein halbes Jahr später bekommt er seinen Asylbescheid. Über Facebook erfährt er, dass ein Restaurant einen Spüler sucht. Thaker, der zuvor in einem Hotel gearbeitet hat, greift zu.

Es dauert nicht lange, da ist er zum Restaurantleiter im „Khwan“ aufgestiegen, einem populären Thai-Barbecue auf dem RAW-Gelände. Bald wird er sogar Partner. Was dem Laden fehle, findet er, seien Inhalte für die Social-Media-Kanäle. Er bucht die Agentur Took Took. Die betreibt Sachin Obaid, den es mittlerweile nach Berlin verschlagen hat.

Mitte November 2020, nieselregengrauer Lockdown, gehen die beiden in Friedrichshain spazieren. Obaid hatte einen guten Namen für ein Restaurant im Kopf, Thaker die passenden Rezepte dazu. Und gutes indisches Essen ist sowieso eine der großen Leerstellen in Berlin. Drei Wochen später ist die Webseite gebastelt, die den Bestellvorgang abwickelt, die Logistik für einen Lieferservice auf die Beine gestellt und die ersten Gerichte in der untergemieteten Küche eines Imbisses auf der Kreuzberger Oranienstraße sind zubereitet.

Im Januar, vier Wochen nach der Eröffnung, muss man sich ranhalten, um beim Tiffin noch etwas zu bekommen. Schon Anfang der Woche sind die Gerichte ausverkauft. Zum Höhepunkt im April haben sie 600 Bestellungen im Wert von durchschnittlich 40 Euro pro Wochenende. Über den Daumen kalkulieren Gastronomen 30 Prozent des Umsatzes für Gemeinkosten wie Miete, Strom und Wasser und weitere 30 für das Personal. Bei beiden Posten kann ein Ghost Restaurant kräftig sparen. Nur der Wareneinsatz ist wie in einem normalen Restaurant.

„Das Essen sprach für sich“, sagt Obaid. Er findet, in Europa gibt es kein besseres indisches Essen als bei ihnen. Großbritannien ausgenommen. Vor allem aber sprachen viele in Berlin über das Essen. Und das passiert nicht automatisch. „Klar, wir haben viele Leute angeschrieben, das Essen zu probieren“, sagt der Performance-Marketing-Experte.

Per Meurling hat den Anfang gemacht. Mit 123 000 Followern ist er der mit Abstand wichtigste Food-Influencer in Berlin. Newsletter wie „CeeCee“ folgten, Zeitungen, Magazine. „Am Anfang bestellten vor allem Expats, die meisten wohl aus England. Das war für die wie eine Reise nach Hause.“ Mit Gerichten wie dem scharfen südindischen Tintenfischcurry oder der geschmorten Lammschulter beeindruckten sie bald den dem forschen Würzen zugeneigten Tim Raue. Eine Achterbahn sei das Essen, so der Sternekoch anerkennend.

Was verändert so eine Empfehlung? Eine Menge, sagt Obaid. Aber wichtiger als die Reichweite sei eine andere Botschaft. „Asiatisches Essen, finden immer noch viele, müsse billig sein, billiger als europäisches Essen. Viele sehen nicht, dass da eine Menge Arbeit reingeht. Wenn Tim Raue sagt, das ist gut, dann hilft das, unsere Preise zu rechtfertigen.“

Das Tiffin ist nicht günstig, jedenfalls nicht für Berliner Standards. Ein Hauptgang kostet um die 15 Euro, Beilagen wie Reis oder Chapati-Fladenbrot noch mal extra. Dafür ist das Fleisch bio, die Zutaten weitgehend aus der Region und die Lieferung als CO2-neutral zertifiziert.

Tim Raue hat die Deutschen als Kunden gebracht. Und die Inder? Obaid macht eine Pause. Schwieriges Thema. „Die leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung, was ihr Essen angeht.“ Jahrelang gab es nichts, was ansatzweise so schmeckte wie zu Hause. Frustriert nach vielen Versuchen ließen sie die Finger davon. Langsam tauchen nun indische Namen unter den Bestellern auf.

Ihre Kundschaft kennen sie genau, auch wenn sie sie nie sehen. Denn anders als Restaurants, die mit Lieferservicen wie Lieferando oder Wolt arbeiten, wickeln sie den Bestellvorgang selbst ab. „Wir wissen, wo die Leute bestellen. Dass die mit Abstand meisten Kunden in Prenzlauer Berg wohnen, dann in Mitte, Friedrichshain, Neukölln, Charlottenburg. Aus Zehlendorf wiederum kommen die größten Mengen.“

Sie wissen auch, wie viele Kunden zurückkommen. Zwischen 45 und 50 Prozent, sagt Obaid. Über 100 Leute hätten mehr als zehn Mal bestellt, einige davon mehr als 20 Mal. Das wäre praktisch jedes zweite Wochenende seit der Eröffnung. „Es gibt eine Frau, die jeden Sonntag bestellt. Als sie das einmal nicht tat, haben wir uns bei ihr gemeldet. Sie fühlte sich nicht wohl, dann haben wir ihr geschickt, was sie sonst immer isst.“

„Jetzt kommt die Action“, unterbricht Thaker. Obaid zückt sein Handy und filmt, wie es zischt und dampft, als die Senfkörner in das heiße Fett im Wok kommen. Ein scharfer Geruch steigt auf. „Die Temperatur muss genau richtig sein, sonst verbrennen die Gewürze“, erklärt Thaker. „Never enough content“, findet Obaid. Seine Kunden kann er nicht persönlich begrüßen, dafür ist er umso regelmäßiger auf ihren Social-Media-Kanälen zu Gast.

Lieferdienste waren lange etwas für pragmatische Esser. Die Pizza für den Fußballabend. Seit dem Lockdown gibt es auch bessere Qualität, weil viele Restaurants gezwungen waren, neue Geschäftsfelder zu erschließen. Damit wuchs auch die Bereitschaft der Kunden, mehr Geld auszugeben. Allerdings nicht immer.

Im Sommer ist es plötzlich vorbei mit den Vorbestellungen im Tiffin. Die Restaurants öffneten wieder, alle wollten draußen sitzen, kaum ein Mensch bestellte mehr Essen nach Hause. Schon gar nicht mit Vorlauf.

Für die meisten jungen Gastronomen wäre so ein Umsatzeinbruch dramatisch, fürs Tiffin ist es ein überschaubares Problem. Sie beschäftigen ja nur einen Spüler, eine Küchenhilfe und eine Bürokraft, haben keine große Gewerbefläche gemietet und müssen keine Kredite für Einrichtung und Ausstattung abbezahlen. Sie müssen nicht einmal beim Einkauf in Vorleistung gehen, weil das Essen vorab bezahlt wird. Und kaum wurde das Wetter kühler, stiegen die Bestellungen wieder. Auch ohne Lockdown.

Das Phänomen Ghost Restaurant kennt mittlerweile einige Formen. Manche, wie das Beets & Roots in Mitte und Charlottenburg, funktionieren hybrid. Sie sind konzipiert für das Außer-Haus-Geschäft, haben aber einen Gastraum. Andere Start-ups mieten sich in Restaurants ein, wo in der Küche parallel zum regulären Betrieb im Auftrag Essen zum Liefern zubereitet wird. Uber und Wolt experimentieren mit Food Courts, sodass man an einem Ort verschiedenes Essen bestellen kann. Es herrscht Gründerfieber.

„Wir bekommen gerade ständig Anfragen von Venture-Kapital-Leuten. Amerikanische Firmen drängen im Augenblick auf den deutschen Markt“, erzählt Obaid. „Wir wollen aber nicht in diese Richtung wachsen. Jedenfalls jetzt nicht.“

Er fragt sich vielmehr: Wie kann man die Marke weiterentwickeln? Vielleicht eigene Produkte wie Currypasten oder Gewürzmischungen vertreiben. Ein anderer Plan wäre, ein Mittagessen anzubieten. Ähnlich wie die Dabawallas, so heißen die Lieferfahrer in Indien, die in Mumbai werktags 200 000 Portionen hausgemachtes Essen an Büroarbeiter ausliefern. Die mehrstöckigen Blechbehälter, die sie dafür verwenden, heißen übrigens Tiffins.