Herr Rauch, Sie sind Chief Climate and Geo Scientist bei der Munich Re und verfolgen seit 30 Jahren die Veränderung des Klimas. Warum interessiert sich ein Rückversicherer für den Klimawandel?

Rückversicherer sind vom Klimawandel und seinen Risiken unmittelbar wirtschaftlich betroffen. Der Klimawandel ist ja nicht nur eine Erwärmung der Temperaturen, der Atmosphäre und der Ozeane, er verändertauch die Wahrscheinlichkeiten von wetterbedingten Naturgefahren. Die Schädendurch Naturereignisse landen in unseren Büchern, also bei einem privatwirtschaftlichen Risikoträger. Es gibt also beste geschäftliche Gründe, sich mit dem Thema zu befassen. Wir müssen verstehen: Was macht der Klimawandel mit den Risiken für die Welt und die Menschheit?

Warum hat die Munich Re diese Abteilung damals gegründet?
Die Wissenschaft hat in den 1970ern begonnen, sich eingehend mit den Folgen des Klimawandels auseinanderzusetzen, weil man damals gemerkt hat, dass das Wetter in verschiedenen Gegenden der Welt beginnt, sich zu verändern. Das war aber bereits der zweite oder dritte Anlauf, das Klima eingehender zu erforschen. Tatsächlich geht das physikalische Verständnis der Wirksamkeit von Treibhausgasen zurück bis ins 19. Jahrhundert.

Wie erfassen Sie die Veränderung des Klimas konkret?
Zahlen und Daten sind die wichtigste Grundlage für uns. Wir erfassen weltweit alle Schadeninformationen, gesamtwirtschaftliche Schäden, versicherte Schäden, aber auch Opferzahlen und dazu Details zu den jeweiligen Ereignissen. Wenn man so lange Zeitreihen hat, über Jahrzehnte hinweg und weltweit, dann kann man daraus Antworten auf Fragen ableiten wie: Gibt es spezielle Entwicklungen hin zu mehr Schäden, zu weniger Schäden? Gibt es disruptive Ereignisse? Das ist unsere Grundlage, um das Risiko aus Wetterereignissen zu bewerten.

Das heißt: Sie errechnen, welche Rücklagen die Munich Re, aber auch klassische Versicherungen bilden müssen, um für die Schäden aus Klimakatastrophen zu begleichen?
Das ist viel mehr als die Bildung von Rücklagen! Es geht darum, dass wir die Kapitalausstattung haben, um bei den veränderten Häufigkeiten und Intensitäten von extremen Wetterphänomenen handlungsfähig zu sein, vor allem gegenüber unseren Kunden. Das sind im Wesentlichen klassische Versicherungsgesellschaften, aber auch Industrieunternehmen und in manchen Fällen auch Staaten, also die öffentliche Hand, speziell in Entwicklungs- und Schwellenländern. Unser Ziel ist, auch in Regionen wie Florida oder Bangladesch Versicherungsschutz anbieten zu können, die von manchen als nicht versicherbar bezeichnet werden – weil sie so schwer zu kalkulieren sind.

Gibt es Zahlen, auf die Sie bei Ihrer Arbeit besonders schauen?
Um ein Risiko berechnen zu können, braucht man im Wesentlichen drei Komponenten:die Gefährdung, also die Wahrscheinlichkeit, dass ein Unwetter eintritt – ein Sturm, eine Überschwemmung oder ähnliches. Diese Gefährdung wird insbesondere durch den Klimawandel beeinflusst. Wir sehen eine größere Häufigkeit, aber auch eine größere Intensität von extremen Wetterlagen, und zwar in vielen Regionen der Welt: mehr Unwetter, schwerere Unwetter, Überschwemmungen, Niederschlagsereignisse, aber auch das Gegenteil, also Dürren.

Wie berechnen Sie daraus, wie hoch ein Risiko konkret ist?
Zum Risiko kommen die beiden anderen Komponenten: nämlich die Werte, ganz konkret in Euro- oder Dollarsummen. Und die Vulnerabilität beziehungsweise die Resilienz, also letztlich: der zu erwartende Schaden. Wenn Sie diese drei Bausteine zusammennehmen, können Sie das Risiko als eine Kombination der drei Faktoren errechnen.

Bei vielen Naturkatastrophen hört man das Argument, schwere Regenfälle, Dürrezeiten oder Waldbrände hätte es auch früher schon gegeben. Was antworten Sie als Statistiker?
Natürlich hat es Überschwemmungen, Hitzewellen und andere extreme Naturereignisse auch in der Vergangenheit gegeben. Entscheidend ist aber, ob sich die Wahrscheinlichkeit und Häufigkeit verändert hat über die Zeit. Und das hat sie! Das erheben wir mit den Schadensdaten, das ist unser Kerngeschäft.

Aber woher weiß man: Daran ist jetzt konkret der Klimawandel schuld?
Es gibt inzwischen in der wissenschaftlichen Forschung einen eigenen Bereich der Klimaforschung, die Attributionsforschung, darin ist auch die deutsche Wissenschaft führend weltweit. Diese Forschung ermöglicht es, statistische Aussagen zu einzelnen Ereignissen zu treffen. Zum Beispiel zur Katastrophe im Ahrtal 2021 in Deutschland. Die Frage lautet: Hätte dieses Ereignis ohne den Klimawandel ebenso stattgefunden? In gleicher Intensität?

Und?
Die Attributionsforschung sagt, der Klimawandel, also die Erwärmung von Atmosphären und Ozeanen, hat die Ahrtal-Katastrophe wahrscheinlicher gemacht. Sie wäre irgendwann vielleicht auch ohne Klimawandel passiert, aber durch den Klimawandel sind solche Katastrophen statistisch wahrscheinlicher geworden. Und das ist der große Unterschied! Wir müssen als Folge des Klimawandels mit häufigeren und intensiveren Ereignissen rechnen und uns entsprechend anpassen.

Wie passt man sich denn an? Städte wie Köln haben über die Jahrhunderte gelernt, mit dem Hochwasser zu leben. Ist das nicht ein Beispiel, dass es vielleicht doch möglich ist, sich auf extreme Wetterphänomene vorzubereiten?
Köln und das Rheinland sind ein sehr gutes Beispiel für erfolgreiche Anpassungsmaßnahmen. Die Menschen leben mit dem Wissen, dass sie historisch immer wieder von Überschwemmungen betroffen waren. Und sie passen sich an, indem sie beispielsweise keine Wertgegenstände im Keller lagern und die Keller mit Fliesen ausstatten, um nach dem Hochwasser alles mit dem Schlauch ausspülen zu können.

Aber neben diesen Flussüberschwemmungen am Rhein, an der Donau und an den großen Flüssen, gibt es eben auch Gebiete, die durch Sturzfluten oder lokale Überschwemmungsereignisse wie im Ahrtal betroffen sind. Und diese sind deutlich schwerer zu identifizieren, weil man die Gefährdung anders als an einem großen Fluss eben nicht mit dem bloßen Auge sieht.

Wie erkennen Sie, was eine gefährdete Region ist und was nicht?
Die Munich Re verfügt über Daten, mit denen kann man jeden Standort in Deutschland bewerten, mit Blick auf Unwetter-Risiken. Es gibt einen Score-Wert, der die Gefährdung angibt. Und zwar nicht nur für heute, sondern es gibt auch die Möglichkeit, Klimaszenarien zu errechnen. Dann können SiePrognosen ableiten: Wie ist mein Grundstück in 20, 30, 40 Jahren bezüglich Überschwemmung gefährdet, abhängig von den weiteren Emissionen von Treibhausgasen?

Ist das nicht recht abstrakt?
Nein, das ist leider überhaupt nicht abstrakt. Als diejenigen, die den Schaden übernehmen, beobachten wir sehr genau, dass wir in vielen Teilen Deutschlands, aber auch weltweit, mit extremen Wetterereignissen konfrontiert sind, die es historisch in der Erfahrung von ein, zwei, drei Generationen gar nicht gab. Wir müssen den Fokus auch auf das sogenannte „Unerwartete“ legen.Das Argument, „das hat es noch nie gegeben, also muss ich mich nicht darum kümmern“ ist nicht mehr möglich.

Wir erleben weltweit, dass sich extreme Wetterlagen häufen, die in der Vergangenheit nicht oder sehr, sehr selten waren. Aber wir werden dem Klimawandel langfristig nur etwas entgegensetzen können und ihn abmildern können, wenn wir Emissionen vermeiden oder wenigstens reduzieren.

Fahren Sie denn manchmal durchs Land, sehen ein Neubaugebiet und denken: Wie kommt man bloß auf die Idee, dort zu bauen? Einfach weil Sie als jemand, der das Risiko genau kennt, wissen, wie gefährlich das wäre?
Wir fahren zwar nicht durchs Land, aber wir analysieren Daten, die beispielsweise von den Wasserwirtschaftsämtern kommen, wir ergänzen Daten wie Topografie und Besiedlungszahlen.

Aber ja, natürlich beobachten wir, dass nach wie vor in Gebieten gebaut wird, die heute schon überschwemmungsgefährdet sind und die im Zuge des Klimawandels immer überschwemmungsgefährdeter werden. Das finde ich schwer verständlich und frustrierend.Und als jemand, der sich mit dieser Thematik seit vielen Jahren befasst, frage ich mich: Warum ist das so?

Und: Warum ist das so?
Eine einfache Antwort kann ich nicht geben. Der wichtigste Punkt wäre meiner Einschätzung nach, dass diejenigen, die sich für solche Neubauanlagen interessieren, sich nicht informieren. Wo bauen sie? Oft ist es Unkenntnis oder Intransparenz, die von denjenigen, die etwas zu verkaufen haben, vielleicht auch ein Stück weit genutzt wird. Die Frage lautet am Ende ja auch: Wer trägt diese Schäden? Natürlich ist das die Aufgabe der Versicherungswirtschaft! Aber man muss auch den Dingen ins Auge schauen: Zunehmende Risiken bedeuten auch teurere Risikoprämien.

Stimmt der Eindruck, dass das Bewusstsein für den Klimawandel in Deutschland auch deswegen so begrenzt ist, weil das Land bislang noch nicht so stark von den Konsequenzen betroffen war, gerade im Vergleich mit Ländern wie Australien oder Bangladesch?
Deutschland – und generell Mitteleuropa – ist, was Extremwetter angeht, im weltweiten Vergleich in einer sehr, sehr komfortablen Situation ist, zumindest relativ gesehen. Wir kennen nicht diese schweren tropischen Wirbelstürme, Hurrikane, Taifune, wie sie in anderen Teilen der Welt auftreten, das ist meteorologisch nicht möglich. Wir sind auch bei Tornados, schweren Gewitterereignissen, deutlich weniger betroffen als viele andere Regionen der Welt. Das drückt sich übrigens auch in den Versicherungsprämien für diese Unwetter aus.

Inwiefern?
Wenn Sie heute in Deutschland Ihr Haus gegen Stürme und Überschwemmungen versichern wollen, dann liegen Sie so in der Größenordnung 200 Euro, vielleicht 300 Euro pro Jahr. In anderen Teil der Welt ist das schon ganz anders: Ein wirkliches Extrembeispiel sind die USA. In Florida, einer Region mit einer sehr hohen Gefährdung bezüglich tropischer Wirbelstürme, kostet ein Vielfaches der Prämien hierzulande, also durchaus 5000 bis 8000 Dollar pro Jahr für die gleiche Versicherungsleistung. Und das liegt an der deutlich höheren Sturmgefährdung – und an der leichteren Bauweise. Wir bauen in Mitteleuropa sehr massiv und haben strenge Bauvorschriften.

Ist es denn denkbar, dass manche Gegenden der Welt nicht mehr versicherbar sind?
Die Frage ist eher: Wer kann und will sich solche Versicherungsprämien in gefährdeten Regionen noch leisten? Die Folgen des Klimawandels haben heute schon eine soziale Dimension.

Dass die Klimatransformation Geld kostet, dürfte den Meisten klar sein. Dass aber auch das Leben mit dem Klimawandel teuer wird, weil die Schäden massiv ansteigen, dürfte vielen nicht bewusst sein, oder?
Ja, wir müssen mit dem Klimawandel leben. Die Möglichkeiten, die wir haben, die Folgen der Erwärmung kurzfristig abzudämpfen, sind begrenzt. Selbst wenn wir heute die Emissionen sehr steil reduzieren, dauert es Jahrzehnte, bis das einen Effekt hat. Trotzdem sollten und müssen wir das machen, aus gesellschaftlichen, ökonomischen und auch aus humanitären Gründen.

Wichtig ist: Wir müssen uns anpassen. Wir müssen aber gleichzeitig Emissionen herunterfahren und mit unserer Bauweise und der Auswahl von Bauland den steigenden Wahrscheinlichkeiten von extremen Unwetterereignissen Rechnung tragen. Sich nur auf eine der beiden Handlungsrichtungen zurückzuziehen, ist keine Option, um langfristig große ökonomische Schäden zu vermeiden.

Können Sie das an einem Beispiel erläutern?
Im Ahrtal 2021 lagen die gesamtwirtschaftlichen Schäden bei etwa 40 Milliarden Euro. Die Versicherungswirtschaft hatte davon 8 bis 9 Milliarden zu finanzieren. Aber die Differenz muss ja auch von jemandem bezahlt werden. Und das sind dann diejenigen, die keine Versicherung hatten und keine staatlichen Leistungen erhalten haben. Daran sieht man, dass die Vermeidung von Emissionen und die Anpassung an den Klimawandel auch soziale Fragestellungen sein werden.

Im Ahrtal werden die Orte weitgehend wieder so aufgebaut, wie sie vor der Katastrophe waren. Wie blicken Sie darauf?
Menschlich kann ich das völlig nachvollziehen. Wenn man diese Frage aber rational angeht, aus der reinen, nüchternen Risikomanagementperspektive, dann ist es nicht sehr sinnvoll, genau dort aufzubauen, wo man diese großen Schäden hat. Weil so ein Ereignis wieder zu erwarten ist.

Auch wenn man keine Vorhersage machen kann, ob das in diesem Jahr, oder vielleicht erst in 100 Jahren sein wird, sollte einem bewusst geworden sein, dass dieser Standort hoch gefährdet ist.

Was ist die Alternative?
Ich glaube, dass wir uns in Zukunft rationaler und immer intensiver mit einer Frage auseinandersetzen müssen, die wir heute schon in anderen Teilen der Welt in der Diskussion sehen: nämlich die Frage nach dem Wiederaufbau an einem anderen Ort. Das wird sicherlich schmerzhaft werden und zu sehr grundsätzlichen Themen führen. Zum Beispiel der Frage, wie man Heimat definiert. Aber das wird Teil werden müssen bei der Abwägung der Risiken.