Kein Anschluss zwischen Berlin und Umland
Die fehlende Verkehrspolitik macht die Bürger wütend
Von Gerd Appenzeller

Eigentlich ist es ein Streit um Grundsatzfragen. Aber die Kontrahenten führen ihn mit jener Verbissenheit, die nur lokale Interessengruppe aufbringen. Auf den ersten Blick geht es um die Ruhe im idyllischen Hermsdorfer Waldseeviertel, im Reinickendorfer Grenzgebiet zur brandenburgischen Nachbargemeinde Glienicke. Überrollt vom morgendlichen und abendlichen Berufsverkehr fühlen sich die einen und wollen mit Straßensperren für Ruhe sorgen. Gegen eine neue Grenze da, wo 28 Jahre lang die Mauer stand, zieht die andere Bürgerinitiative ins publizistische Feld. Auf beiden Seiten wird verbissen agitiert und argumentiert; stehen wohlsituierte Bildungsbürger bereit, ihre Sache als die aus ihrer eigenen, engen Sicht einzig richtige durchzukämpfen.
Jetzt, nach den Schulferien, beginnt die entscheidende Phase. Dann soll eine offizielle Verkehrszählung die Basis für eine Entscheidung des Bezirksamtes pro oder kontra Sperrung zweier Straßen für den Autoverkehr schaffen. Legitimiert dazu wäre die Verwaltung bereits jetzt durch einen entsprechenden Beschluss der Bezirksverordneten vom 13. Mai, der ohne Gegenstimmen - bei Enthaltung der SPD - gefallen war.
Tatsächlich aber steht der Konflikt im Waldseeviertel für viel mehr - für ein Versagen der Regierungen von Brandenburg und Berlin. Beide ziehen seit mehr als 20 Jahren nicht die notwendigen Schlussfolgerungen aus der Entwicklung der Metropole und seines Umlandes. Ein Blick auf die Fakten genügt: Bis zum Fall der Mauer gab es im Norden der Stadt keine Verbindung zwischen Ost und West. Die S-Bahn endete in Frohnau. Die Bundesstraße 96 war zwischen Hermsdorf und Glienicke unterbrochen. Die West-Berliner orientierten sich Richtung Zentrum, die Brandenburger wegen des großen Stahlwerks nach Hennigsdorf oder Richtung Oranienburg. In den Brandenburger Gemeinden Glienicke, Birkenwerder, Hohen Neuendorf sowie den Gemeinden um Schildow und Schönfließ lebten 1990 insgesamt 29 998 Menschen - die aber nicht nach West-Berlin reisen durften und daher keine Straße verstopfen konnten.
Heute leben in der gleichen Raumschaft mehr als doppelt so viele Menschen wie vor 30 Jahren, es sind 62 026 - und fast alle orientieren sich beruflich oder schulisch Richtung Berlin. Das sind die Menschen, die jeden Morgen und jeden Abend in die Stadt und zurück pendeln - entweder mit einer S-Bahn, die zwischen Oranienburg und Frohnau weitgehend eingleisig und damit nur alle 20 Minuten verkehrt. Oder sie fahren eben auf der überlasteten Bundesstraße.
Was geschehen müsste, liegt also auf der Hand. Massiver Ausbau und Umstrukturierung der Tarife des ÖPNV, Schaffung von Park-and-Ride-Parkplätzen an den Brandenburger S-Bahnhöfen. Warum wird das, wenn überhaupt, nur schleppend umgesetzt? Vielleicht steht das Denken in Legislaturperioden zu stark im Vordergrund des Handelns. Vielleicht mangelt es gerade in den Umlandgemeinden am Willen, die Probleme anzupacken - die Auswirkungen machen sich ja fast nur in Berlin bemerkbar.
Unbestritten fehlt es auch am länderübergreifenden politischen Instrumentarium zur Koordinierung. Eine solche Einrichtung fordert zum Beispiel die Bürgerstiftung Zukunft Berlin seit Langem. Ein solcher Rat, gebildet aus den Exekutiven und Parlamenten beider Bundesländer, würde vielleicht auch die schon fast Jahrzehnte alten Planungen des inzwischen emeritierten Berliner TU-Professors Harald Bodenschatz über die Notwendigkeit eines Ausbaus des S-Bahnnetzes endlich zur Kenntnis nehmen.
Aber die Realität ist eine andere, sie ist nicht nur im Norden Berlins triste. Schon heute ist absehbar, dass der Bau eines durchgehenden zweiten S-Bahn-Gleises zwischen Frohnau und Oranienburg oder über Heiligensee nach Hennigsdorf erst bis 2035 kommt. Dann sind seit dem Fall der Mauer 45 lange Jahre vergangen.