Jeanet Amon kommt durch eine mit Stickern übersäte Haustür auf den Bürgersteig hinausgelaufen. Hastig zündet sie sich eine Zigarette an. Sie ist immer noch aufgeregt. Drinnen ist gerade der Bezirksbürgermeister von Mitte, Stephan von Dassel, zu Gast. Amon berichtet, dass der Politiker die Gefahr fürs Erste abgewendet hat. Sie müssen vorerst nicht zurück auf die Straße. „Die Schlüsselübergabe am Montag ist abgesagt. Wir können weiterkämpfen“, sagt sie.

Amon, blau gefärbte Haare, Pferdeschwanz, 44 Jahre alt, gehört zu den 50 Wohnungslosen, die in diesem Winter den Block in der Habersaathstraße in Mitte besetzt haben, gleich gegenüber vom Ausbildungszentrum des Bundesnachrichtendienstes. Die Geschichte stieß auf große Resonanz, weil die Kräfteverhältnisse in Berlin auf den Kopf gestellt schienen: Die Ärmsten der Stadt durchkreuzten vermeintlich die Pläne eines Investors, der die Häuser leer ziehen lassen will, um sie abzureißen. Außerdem erkämpften sie sich einen Platz im Herzen Berlins zurück, der keine Bürgersteigplatte ist und kein U-Bahn-Eingang, sondern ein Plattenbau in Premiumlage.

Jeanet Amon lebte zuvor unter der S-Bahn-Brücke hinterm Bahnhof Zoo und später auf dem Alexanderplatz. Im fast leer stehenden Plattenbau in der Habersaathstraße hat sie ein Anderthalb-Zimmer-Apartment im vierten Stock bekommen. „Schon ein gutes Gefühl“, sagt sie lachend mit Blick auf ihr altes Leben im Schlafsack, „dass mir nicht mehr die ganze Welt dauernd in mein Wohnzimmer und mein Schlafzimmer gucken kann.“

Nach Verhandlungen des Bezirksamtes duldete der Hausbesitzer sie und die anderen neuen Bewohner. Deshalb war Jeanet Amon auch so überrascht, als vor einer Woche die Hausverwaltung die Obdachlosen aufforderte, binnen fünf Tagen auszuziehen. Die Wohnungen sollten an Flüchtlinge aus der Ukraine gehen.

An diesem Morgen, es ist der Freitag vergangener Woche, ist es Bürgermeister von Dassel von den Grünen gelungen, nach Verhandlungen mit dem Hausbesitzer den Austausch der Zwischenmieter abzuwenden. Doch die Rettung, die er gerade drinnen den Bewohnern verkündet, wird vermutlich nur vorübergehend sein.

Die Häuser mit den Nummern 40 bis 48 in der Habersaathstraße sind zum Symbol geworden für die Missstände der Berliner Wohnungswirtschaft. Für die einen zeigt sich in diesem Fall der entfesselte Markt. Der blassgelbe Plattenbau, der 1984 als Schwesternwohnheim der Charité gebaut wurde und aus dessen Fenstern jetzt Transparente mit Aufschriften wie „Das Investitionsrisiko sind wir“ hängen, liegt gegenüber dem BND-Gebäude in Mitte – in einer der teuersten Gegenden der Stadt.

Für die anderen ist der Umgang mit dem Block in der Habersaathstraße bezeichnend für eine unbeholfene Politik, die mit ihren Auflagen, die Vermieter bändigen sollen, zu scheitern droht. Wie beim Mietendeckel, der vor einem Jahr vom Bundesverfassungsgericht gekippt wurde. Wie beim Vorkaufsrecht in Milieuschutzgebieten, das vom Bundesverwaltungsgericht eingeschränkt wurde.

Ein ähnliches Schicksal könnte Berlin auch beim 2013 per Gesetz eingeführten Verbot der Zweckentfremdung von Wohnungen erleben, um das es bei der Habersaathstraße und vielen anderen Fällen geht. Auf dem schon damals angespannten Wohnungsmarkt sollte die Umwandlung von Wohnraum in Büros oder Ferienwohnungen verhindert und geregelt werden. Auch Abriss und „spekulativen Leerstand“ sollen die Regeln verhindern.

Um Abriss und Leerstand geht es auch beim ehemaligen Schwesternwohnheim. Der Eigentümer, die Arcadia Estate, hat im Jahr 2018 den Abriss des Hauses beantragt. „106 preiswerte Mietwohnungen in der Habersaathstraße in Mitte sollen 91 Luxusapartments weichen“, berichtete damals der Tagesspiegel.

Der Bezirk lehnte den Antrag ab mit der politischen Begründung, dass solche einfachen, preiswerten Wohnungen wie jene in dem DDR-Plattenbau fehlen. Und rechtlich, weil die Verordnung des Landes Berlin zum Zweckentfremdungsverbotsgesetz vorsieht, dass die Miete der Ersatzwohnungen in einem Neubau nur 7,92 Euro pro Quadratmeter betragen darf. Mit Blick auf den Wohnungsmarkt in Berlin ist das ein logischer Schritt. Durchschnittlich sind in den vergangenen zehn Jahren Berlins Mieten um das Dreifache angestiegen.

Daniel Diekmann, hochgekrempelte Jeans, pinkfarbene Socken, Sonnenbrille, ist so was wie der Sprecher der Altmieter. Seit 2005 lebt er bereits im Haus, für 199 Euro kalt. Diekmann hat den Niedergang des Gebäudes miterlebt. Dass es überhaupt noch steht, ist zum Teil sein Verdienst.

In der Ära Sarrazin verkaufte das Land Berlin die Gebäude für zwei Millionen Euro an eine Gesellschaft namens R. Klust & Dr. Th. Bodemann – für weniger als 400 Euro pro Quadratmeter. Um mehr aus den Häusern rauszuholen, ließ Klust & Bodemann Dämmplatten an der Fassade anbringen, neue Fenster einbauen und eine Fotovoltaikanlage aufs Dach montieren. Diekmanns Miete erhöhte sich um mehr als ein Drittel.

2017 verkaufte Klust & Bodemann den Plattenbau-Block angeblich für 20 Millionen an die Arcadia Estate, den aktuellen Besitzer. Die Arcadia schickte Diekmann eine Verwertungskündigung, beigelegt war ein Abrissgutachten. Diekmann widersprach.

Mehr und mehr wurde er zum Mieter-Aktivisten. Seitdem erlebt er, was er als klassische Schikanen, um Mieter loszuwerden, empfindet. Einmal war sein Briefkasten aufgebrochen. „Ich fand meine Post oben auf dem Altpapier-Container“, sagt er. Ein anderes Mal hätten die Fenster in den leer stehenden Wohnungen mitten im Winter offen gestanden, sodass die übrigen Apartments so weit auskühlten, dass die Heizungen nicht dagegen ankamen. 2018 hätten ihm Unbekannte „Ausziehen oder brennen“ in den Staub der Windschutzscheibe seines Volvos geschrieben, sagt er. Zwei Wochen später sei der ausgebrannt.

Arcadia Estate bestreitet all diese Vorwürfe. Man halte strafbare Aktionen für „unsinnig“ und distanziere sich von derartigem Vorgehen, erklärte das Unternehmen im Februar in einem „Zeit“-Artikel. Und dass im Winter 2019/20 Fenster in leeren Wohnungen offen gestanden hätten, sei eventuell einer Unachtsamkeit der Hausverwaltung zuzuschreiben gewesen, die habe nach Bekanntwerden des Problems umgehend reagiert.

Viele andere Mieter hätten sich nach und nach rausdrängen und rauskaufen lassen, meint hingegen Diekmann. Als diesen Winter die Obdachlosen eingezogen sind, waren nur noch neun Mietparteien übrig. Besetzung ist ein etwas irreführender Begriff. Es handelt sich um eine politische Aktion, um auf Wohnungsmangel aufmerksam zu machen. Aktivisten der Initiative „Leerstand hab ich saath“ und des „Bündnisses gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“ sind dazu zu Obdachlosen-Treffpunkten gefahren, um für die Aktion zu werben. Bis heute engagiert sich die Initiative im Block.

Auch Diekmann kümmert sich um die neuen Nachbarn. „In den letzten vier Monaten hatte ich keinen Tag frei“, sagt er, inzwischen eine Mischung aus Hausmeister, Seelsorger und Pressesprecher.

Als der Tagesspiegel ihn im Winter zum ersten Mal traf, inspizierte er gerade die Wohnungen, die bezogen werden sollten. Er notierte, wo die Deckel von Verteilerkästen fehlten und wo Wasserhähne kaputt waren. Er führte durch den Keller, in dem gespendete Spülen und Matratzen gelagert waren. Diekmann spricht von einem „Housing first“-Projekt, einem Ansatz, bei dem Menschen, die auf der Straße leben, zuerst eine Wohnung und anschließend weitere Hilfen bekommen. Nichts, was aufhört, wenn es draußen nicht mehr friert. Deshalb ist er auch so verärgert, dass die Wohnungslosen rausgesetzt werden sollten. „Marginalisierte Gruppen gegeneinander auszuspielen, das geht ja gar nicht!“, sagt er.

Manche der Bewohner vermuten, dass es dabei ums Geld ging. Denn für die Obdachlosen bekomme der Eigentümer nur Betriebskosten, für die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine die Miete vom Staat überwiesen. Die Anwälte des Eigentümers und auch Bezirksbürgermeister von Dassel nennen eine anderen Grund: Der Betreiber einer „gewerblichen Unterkunft“ in dem Haus komme selbst aus der Ukraine, sagt er. „Er möchte alles tun, um seinen Landsleuten eine Unterkunft zu bieten.“ Der Bezirk lehnte ab, weil für die längerfristige Unterbringung der Kriegsflüchtlinge besondere Regeln und die Räume nicht als fester Wohnsitz gelten.

Die Anwälte des Eigentümers pochen auch auf die Vereinbarung mit dem Bezirk. Demnach sei allen Seiten klar gewesen, dass die Obdachlosen am Ende der Kältehilfesaison ausziehen müssten. Erst sei Ende März vereinbart gewesen, dann habe der Bezirk um Verlängerung bis Ende April gebeten. Nicht zu vergessen: Auch die Notunterkünfte der Berliner Kältehilfe von Senat und Hilfsorganisationen wurden seit Anfang April reduziert.

Stephan von Dassel ist jetzt auch aus dem Haus herausgekommen. „Ich glaube, die Gemüter haben sich ein wenig beruhigt“, sagt er. Dann setzt er sich auf die Bordsteinkante der Habersaathstraße, um seine Mails zu checken.

Wann müssen die Mieter raus? „Ich weiß es nicht“, sagt er. „Es geht wahrscheinlich eher um Monate als um Jahre.“ Der Bezirk wird den Abriss wohl genehmigen, dann könnte der Eigentümer neu bauen. In einem Schreiben des Bezirks an die Mieter ist von einer dauerhaften Lösung „für alle Beteiligten“ die Rede. „Auf Grundlage eines genehmigungsfähigen Bauantrags soll die Errichtung von wesentlich mehr Wohnraum auf dem Grundstück ermöglicht und so verhindert werden, dass das Gebäude ohne Auflagen abgerissen werden kann.“

Seit 2018 streiten sich beide Seiten. Dabei hat das Bezirksamt den Leerstand, der dem Eigentümer als Spekulation angelastet wird, erst verursacht. Und die Behörde hätte es seit Langem besser wissen können. Bereits im August 2019 entschied das Verwaltungsgericht in einem ähnlichen Fall aus dem Bezirk Charlottenburg. Die Richter urteilten, dass die Vorgabe, für Neubauwohnungen dürften maximal 7,92 Euro Miete nettokalt pro Quadratmeter verlangt werden, schlicht rechtswidrig ist. Im Urteil heißt es: Das Bezirksamt verkenne „die verfassungsrechtliche Grundlage“, wenn es Abrissgenehmigung „unter Verweis auf die geplante Miethöhe verweigert“. Die Bestimmung in der Verordnung zum Gesetz, die nur 7,92 Euro pro Quadratmeter zulässt, „ist nichtig, da sie mit höherrangigem Recht unvereinbar ist“.

Dabei geht es um eine seit Jahrzehnten gefestigte Rechtsprechung der höchsten Gerichte, wie es Juristen nennen. Obwohl die klar war, hat Berlin den Bezirken gewissermaßen ein rechtswidriges Werkzeug in die Hand gegeben, die das auch eifrig nutzen. Denn, so ist es im Urteil nachzulesen, die Vorschriften gegen Zweckentfremdung dürfen allein dazu dienen, dass der Wohnungsmarkt funktioniert und kein Wohnraum verloren geht. Einen Mietpreis darf der Staat mit diesem Werkzeug nicht vorgeben, das würde das Grundrecht Eigentum unverhältnismäßig einschränken. Sogar Eigentumswohnungen wären zulässig. Nur für den Bau von Luxuswohnungen kann der Abriss abgelehnt werden. Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf meinte, alles über 7,92 Euro pro Quadratmeter sei Luxus. Für die Gerichte geht es bei Luxus um Wohnungen, für die auf dem Wohnungsmarkt „keine Nachfrage mehr besteht“. Die sich nur Millionäre leisten können.

Inzwischen liegt der Fall vor dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg. Im Dezember sollte verhandelt werden, der Termin wurde abgesagt. Denn Berlin hat das Gesetz gegen Zweckentfremdung im Herbst novelliert. Deshalb geht es für das Gericht um die Frage, ob es das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegt. Oder ob es, wie das Verwaltungsgericht, einfach dem Eigentümer recht gibt.

Die bisherigen Signale der Richter waren offenbar so deutlich, dass auch das Bezirksamt Mitte nun einem Vergleich mit dem Eigentümer der Häuser in der Habersaathstraße zustimmen könnte. Der hatte vor dem Verwaltungsgericht geklagt. Das Verfahren ruht, bis der Charlottenburger Fall entschieden ist.

Bürgermeister Stephan von Dassel gesteht ein, dass der Vergleich des Bezirksamtes mit der Arcadia Estate bereits weit gediehen ist. Ein offener Punkt sei, dass noch Flächen für einen Spielplatz ausgewiesen werden müssten, was bei diesem Grundstück nicht einfach sei. „Ich bin kein Fan von einem Abriss, aber die rechtlichen Rahmenbedingungen sind so, dass wir ihn nur schwer verhindern können. Und nur mit einem Vergleich können wir den Eigentümer dazu bringen, 30 Prozent des neu entstandenen Wohnraums für 6,50 bis 8,50 Euro zu vermieten. Das ist eine erhebliche Zahl“, sagt er.

Der Bezirk könnte, so sieht der Vergleichsvorschlag es vor, dann sogar mitentscheiden, welche Mieter in die günstigeren Wohnungen kommen. Die Kehrseite: Der Eigentümer müsste für die anderen Wohnungen mehr verlangen. Sein Ziel ist es, nach mehr als drei Jahren endlich loslegen zu können.

Plötzlich bellen und knurren hinter von Dassel Hunde. Er springt auf. Die Männer und Frauen, die mit voller Kraft an den Halsbändern ziehen, zählen zu den neuen Bewohnern des Hauses. Mit skeptischem Blick setzt sich von Dassel zurück auf den Bordstein und checkt weiter Mails.

„Das sind Platten-Hunde“, sagt Daniel Diekmann, der noch immer neben dem Hauseingang steht. „Die sind Freiheit gewohnt. Wenn jetzt alle eingesperrt sind, haben sie natürlich auch manchmal Probleme.“ Auf die Besitzer deutend sagt er: „Die gehen jetzt Geld verdienen, machen so Kunststücke im Kreuzungsbereich.“ Diekmann wirkt gut gelaunt, weil die Mitbewohner bleiben dürfen. „Es sind viele neue Nachbarschaften entstanden. Es wird untereinander gekocht. Es ist eine ganz normale Mischung. Das bedeutet aber auch, dass ungefähr ein halbes Dutzend Leute wieder rausgeflogen ist.“

Was die Zeitvorstellung angeht, wann die Hausgemeinschaft ein Ende hat, ist er anderer Meinung als der Bürgermeister. „Bei der Kündigung der Langzeitmieter, die ja hier zwischen 15 und 38 Jahre wohnen, handelt es sich um eine zivilrechtliche Angelegenheit. So was dauert drei bis fünf Jahre“, erklärt er.

Eine zu lange Zeit, um den restlichen Wohnraum einfach leer stehen zu lassen, findet er. Diekmann spricht jetzt sehr laut. Von Dassel soll mithören. Diekmanns Kampf ist noch lange nicht zu Ende. Der Eigentümer hat anderes vor. Er bietet den wenigen Altmietern erst Umsetzwohnungen an und dann Räume im Neubau – zu ihrer bisherigen Miete von mehr als vier Euro pro Quadratmeter, befristet auf zehn Jahre. Oder sie erhalten eine Entschädigung. „Wir versuchen, das Machbare rauszuholen“, sagt von Dassel.