Im achten Jahr des akuten Lehrermangels müssen Berlins Schulen mit einer weiteren Verschlechterung ihrer Personalqualität rechnen. Nach Informationen des Tagesspiegels haben rund 700 ausgebildete Lehrkräfte zum Sommer gekündigt. „Es gibt viele Schulen, die keine einzige regulär ausgebildete Lehrkraft mehr finden“, berichtete am Dienstag Sven Zimmerschied, Co-Vorsitzender der Berliner Vereinigung der Sekundarschulleitungen.

Die Personalnot trifft auf Kollegien, die ohnehin schon qualitativ ausgedünnt sind: Wenn man die von der Bildungsbehörde Jahr für Jahr bezifferten neu eingestellten Quereinsteiger addiert, ergibt sich eine Zahl von rund 7000 unter den etwa 33 000 Berliner Lehrkräfte. Eine präzisere Zahl gibt es nicht, da die Bildungsverwaltung – anders als andere Kultusministerien – eine „Extrazählung ehemaliger Quereinsteigender“ ablehnt.

Zuletzt scheiterte der FDP-Bildungsexperte Paul Fresdorf mit seinem Versuch, Licht ins Dunkel der Statistik zu bringen: Er hatte nach dem Anteil der Quereinsteiger unter den aktuellen Lehrkräften gefragt. Die Antwort der Bildungsverwaltung liegt dem Tagesspiegel exklusiv vor.

Demnach werden alle Quereinsteiger, die seit 2013 ein berufsbegleitendes Referendariat absolviert haben, als Lehrkräfte mit „abgeschlossenem lehramtsbezogenen Studium“ bezeichnet. Eine Unterscheidung zu den Pädagogen mit regulärem Lehramtsstudium wird nicht geliefert. Daher bekam Fresdorf die Auskunft, dass es in Berlin nur acht Prozent Quereinsteiger gibt – also nur die, die sich aktuell noch in der Ausbildung befinden.

Das sei eine „Täuschung“, kommentierte Fresdorf den Vorgang. Der stellvertretende Vorsitzende des Gesamtpersonalrats, Dieter Haase, sagte dem Tagesspiegel, es sei nicht neu, dass die Bildungsbehörde versuche, „die gravierende Unterausstattung durch nicht nachvollziehbare wechselnde Begrifflichkeiten und Zahlenspielereien zu verschleiern“.

Tatsächlich ist es schwierig, die seit Jahren beklagte „Entprofessionalisierung“ der Berliner Lehrerschaft statistisch genau zu fassen. Zwar gibt Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) jeden Sommer die Zahl der Quereinsteiger bekannt. Nicht enthalten sind darin aber die Quereinsteiger, die bereits zum Frühjahr für das zweite Schulhalbjahr eingestellt wurden. Zudem reichen seit 2018 die Quereinsteiger nicht mehr aus: Es gibt nicht mehr genug Bewerber mit einem Studienfach, das man einem Schulfach „zuordnen“ könnte. Daher wurden seither jährlich rund 900 so genannte Seiteneinsteiger oder „Lehrer ohne volle Lehrbefähigung“ (LovL) eingestellt: Der Anteil regulärer Lehrer ist also eigentlich noch geringer, als wenn man „nur“ die Quereinsteiger betrachtet.

Das ist aber noch nicht alles: Da es weder mit Seiten- und noch mit Quereinsteigern gelingt, alle Stellen zu besetzen, dürfen Schulleiter einige Stellen umwidmen und sie etwa mit Logopäden besetzen. Das ist zwar besser als nichts, deckt aber nicht den Bedarf an ausgebildeten Lehrern. Dies ist umso schwerwiegender, als Berlins Schüler schon seit Jahren unter dem Mangel an Fachpersonal leiden. Angesichts der sehr schlechten Leistungen in Mathematik und Deutsch am unteren Ende der Bundesländerskala hatte denn auch die Berliner Expertenkommission unter Leitung des Kieler Professors Olaf Köller dringend geraten, in bestimmten Klassenstufen nur noch Fachlehrer einzusetzen. Daran ist nicht zu denken – vor allem nicht an den Sekundarschulen und Grundschulen in Brennpunkten, die – mangels Bewerbern – nachweislich die meisten Quereinsteiger einstellen müssen.

Zur „Verschleierung“ des Mangels trägt auch bei, dass die Seiteneinsteiger oder „LovL“ inzwischen nicht mehr zahlenmäßig ausgewiesen werden. Zwar hatte sich Scheeres 2018 noch dazu bekannt, dass es einen „Gap“ gebe – eine Lücke, weil die „klassischen“ Quereinsteiger nicht mehr reichten. Im Jahr 2020 bereits wurde die Zahl dieser „befristet Eingestellten“ nicht mehr genannt, wobei Scheeres sich hinter der Statistik der Kultusministerkonferenz verschanzte. Das aber ergab wenig Sinn, weil es bundesweit überhaupt nicht derart üblich ist, „LovLs“ einzustellen. Daher sieht Dieter Haase vom Gesamtpersonalrat auch hier eine „Verschleierung“ gegeben.

Zur fehlenden Transparenz gehört zudem, dass die besonders große Not der Grundschulen durch die Zahlen der Bildungsbehörde kaum beleuchtet wird: Noch 2018 gab es Tabellen, die belegten, dass nur rund 15 Prozent der neu eingestellten Grundschulpädagogen für diese Schulform ausgebildet waren. Der Rest waren Quereinsteiger, Seiteneinsteiger oder Oberschullehrer, also Lehrkräfte, die nie gelernt hatten, Kinder zu alphabetisieren. Inzwischen dürfte der Anteil der Pädagogen ohne volle Grundschulausbildung weit über den rund 20 Prozent liegen, die schulformübergreifend gelten.

Die Berliner Not ist nahezu einzigartig. Lediglich Sachsen hat ähnlich am Bedarf vorbeigeplant, wie der frühere Berliner Bildungs-Staatssekretär Mark Rackles (SPD) 2020 vorgerechnet hatte. Sachsen war da schon wegen des Mangels an Lehrernachwuchs zur Verbeamtung seiner Lehrkräfte übergegangen.

Selbst wenn auch Berlin seine Lehrkräfte wieder verbeamtet, womit nach den Wahlen gerechnet wird, dürfte es noch einige Zeit brauchen, bis der Qualitätsverlust ausgeglichen wird, der durch die massenhafte Abwanderung ausgebildeter Lehrkräfte erlitten wurde. „Auch die aktuelle Abwanderung von abermals rund 700 Kräften deutet darauf, dass die ausgebildeten Lehrer Sicherheit wollen – gerade in Zeiten von Corona“, sagte ein Schulleiter am Dienstag, der abermals Pädagogen ans Umland verloren hat.

Zudem wollen viele Lehrer nicht mehr warten, weil nur bis zu einer bestimmten Altersgrenze verbeamtet werden darf. Für Tausende Lehrer dürfte es bald zu spät sein, für andere ist es bereits zu spät, weshalb die Linke und die GEW nach wie vor gegen eine Verbeamtung sind, die die Ungleichbehandlung in den Lehrerzimmern verstetigen würde. Um das Problem zu dämpfen, liegt daher ein Vorschlag auf dem Tisch, eine Verbeamtung bis zum 52. Lebensjahr zuzulassen: „Dazu wird das Abgeordnetenhaus nur bereit sein, wenn die Not in vollem Umfang deutlich wird und die Verschleierung der Zahlen aufhört“, sagte ein genervter Elternvertreter auf Anfrage.

Quer und von der Seite. Wie viele Lehrkräfte beginnen ihren Dienst in Berlin, ohne dafür ausgebildet zu sein? Opposition und Personalrat sagen, die SPD-Bildungsverwaltung rechne sich mit „Täuschung“ und „Verschleierung“ die Zahlen schön. Foto: Jörg Carstensen/dpa