A n einem Winterabend im Februar habe ich in Berlin-Mitte Chaos verursacht. Ich wollte auf meinem Heimweg gerade mit dem Auto in die Reinhardtstraße einbiegen, als eine lange Blaulicht-Kolonne vorbeifuhr. Der erste Gedanke: ein Staatsbesuch. Ein alltägliches Bild in Berlins Zentrum. Aber hinter den Polizei-Autos folgten mindestens fünfzig hupende und warnblinkende Fahrzeuge. Viele geschmückt mit Deutschland-Fahnen oder selbstgebastelten Plakaten. „Corona-Diktatur beenden“ stand auf einem, „Gegen die Gift-Impfung“ auf einem anderen. Doch kein Staatsbesuch.

Irgendwann war der Korso vorbeigezogen. Zumindest dachte ich das. Ich bog ab, an der nächsten roten Ampel am Oranienburger Tor blieb ich stehen. So sind die Regeln, alle halten sich daran. Das sah der langhaarige Mann, der plötzlich auf meine Seitenscheibe schlug, anders. „Fahr weiter, du Penner, wir sind im Korso“, schrie er. Ich sagte, dass ich in keinem Korso sei und nur nach Hause fahren wollte. Es interessierte ihn nicht, er schrie mich weiter an.

Irgendwann wurde die Ampel grün, ich fuhr langsam an und sah im Rückspiegel, wie der Mann hektisch zurück zu seinem Transporter rannte. Der Langhaarige bog rechts ab. Mit ihm Dutzende weitere Autos, die offenbar zu dem hinteren Teil des Protest-Korsos gehörten. Dabei war der vordere Teil der Fahrzeug-Schlange geradeaus gefahren. Unbeabsichtigt hatte ich als an-der-Ampel-haltendes Störelement den Korso geteilt und dafür gesorgt, dass dutzende „Querdenker“ falsch abgebogen sind.

Es sind nicht die einzigen, die seit dem 28. März 2020 falsch abgebogen sind. Exakt vor einem Jahr fand auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz die erste Ausgabe der sogenannten „Hygienedemonstration“ statt. Der Name täuscht, schließlich ging es den Demonstrierenden nie um Hygiene, sondern vielmehr darum, die politischen Pandemie-Maßnahmen in Frage zu stellen – oder die Gefährlichkeit und sogar die Existenz des Virus zu leugnen. Einher geht damit automatisch das konsequente Ignorieren von Hygiene-Auflagen der Infektionsschutzverordnung.

Und so sind die Bilder des Frühlings 2020 im Großen und Ganzen dieselben im März 2021: Menschen, die sich weigern, eine Maske zu tragen, Abstand zu halten oder gegen Demonstrationsverbote verstoßen. Initiiert wurden die ersten „Hygienedemos“ von dem Trio Lenz, Sodenkamp, N’Diaye. Alle drei verstehen sich lange vor allem als linke Aktivisten: Anselm Lenz schreibt jahrelang für die „taz“, Hendrik Sodenkamp besetzt als Theatermann die „Volksbühne“, Batseba N’Diaye gehörte, wie die beiden anderen auch, zum Verein und Künstlerkollektiv „Haus Bartleby“. Im Frühling 2020 eint sie ihr großer Unmut über die neu erlassenen Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen, um die weitere Ausbreitung des Coronavirus zu verhindern. Sie gründen den Verein „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ und verlegen eine eigene Zeitung, die auf den wöchentlichen „Hygienedemos“ kostenlos verteilt wird.

Der März 2020 markiert den Beginn einer protestierenden „Querfront“, wie sie Deutschland in dieser Größenordnung wohl noch nie erlebte. Männer auf Campingstühlen, die eine Ausgabe des Grundgesetzes streicheln, neben verurteilten Holocaustleugnern, dazu langhaarige Hippies, die von extrem rechten Hooligans des BFC Dynamo eine Deutschland-Fahne in die Hand gedrückt bekommen, AfD-Politikern wie der Brandenburger Landtagsabgeordnete Lars Günther, mittelalte Frauen, die auf dem Bürgersteig der Rosa-Luxemburg-Straße ihre Yoga-Matten ausgerollt haben.

Oft frage ich die „Hygienedemonstranten“ zu Beginn nach ihrer politischen Position oder der Abgrenzung nach rechts. Die Antworten sind meist recht ähnlich: „Wir sind alle eine Menschheitsfamilie. Für uns gibt es kein rechts oder links, da wir alle für die gleiche Sache auf die Straße gehen.“ Medizinische und wissenschaftliche Fakten werden von den Demonstranten tausendfach ignoriert.

Anders als viele wahrhaben wollen, waren die Rechten von Anfang an präsent. AfD-Politiker wie der Berliner Flügel-Mann Gunnar Lindemann reden zwar zunächst nicht auf den Demos, stehen nicht im Fokus, werden aber trotzdem stillschweigend geduldet. Am 9. Mai eskaliert schließlich eine unangemeldete Corona-Demo auf dem Alexanderplatz. Es kommt zu gewalttätigen Übergriffen auf Polizeibeamte, die sich teilweise nur noch mit Pfefferspray verteidigen können. Federführend mischen bei den Alex-Ausschreitungen rechte Hooligans aus der Fan-Szene des BFC Dynamo mit. Ein Vorgeschmack darauf, was Berlin im Sommer erwarten sollte.

Am 1. August wird Berlins Mitte von maskenlosen Demonstranten aus der gesamten Bundesrepublik überflutet. Diese heißen längst nicht mehr „Hygienedemonstranten“, sondern bezeichnen sich selbst als „Querdenker“ angelehnt an die Stuttgarter Initiative „Querdenken 711“, die sich etwa parallel zum „Demokratischen Widerstand“ in Berlin gegründet hat. Ich stehe an diesem 1. August mindestens eine Stunde lang auf der Leipziger Straße und lasse mich beschimpfen. Niemand der Tausenden, die an mir vorbeiziehen, trägt eine Maske. Ich schon. Grund genug, mir mitzuteilen, wie „blöd“ und „unaufgeklärt“ ich sei. Viele „Querdenker“ verfolgen bereits zu diesem Zeitpunkt einen Missionsgedanken.

Oft reicht es ihnen nicht aus, selbst keine Maske zu tragen oder trotz Demonstrationsrecht gegen Abstandsauflagen zu verstoßen. Nein, es geht darum, die Mitmenschen zu belehren, sie zu missionieren, schließlich müssen die „Schlafschafe endlich mal aufwachen“. Diese völlig narzisstische Überlegenheit, sich stets im Recht zu fühlen, hat sich bei vielen Demonstranten im Laufe des Jahres verstärkt.

Von diesem 1. August, an dem die Berliner Polizei die Relativierer und Leugner der Pandemie weitestgehend gewähren ließ, bleibt vor allem ein Gefühl in Erinnerung: Einsamkeit. Als einziger mit Maske unter Tausenden fühlt man sich irgendwann verloren in der Masse.

Bestärkt durch die erste Großdemo Anfang August wiederholen die Querdenker ihr Schauspiel am 29. August. Nur kommen diesmal noch mehr Menschen, darunter unübersehbar Rechtsextreme. Reichsfahnen, Hunderte Anhänger der antisemitischen Verschwörungsideologie „QAnon“, Hooligans und lupenreine Neonazis bevölkern an diesem heißen Spätsommertag das Berliner Regierungsviertel. Tagsüber liefern sich Rechtsextreme Scharmützel mit der Polizei vor der russischen Botschaft, abends rennen plötzlich Hunderte ungehindert los, um das deutsche Parlament zu stürmen. Und auf der Straße des 17. Juni demonstrieren Tausende zwar friedlich, aber ohne Maske und Abstand.

Immer wieder erlebe ich im Laufe des Jahres Momente der Hoffnung. Seriöse Diskussionen mit Teilnehmenden der Demonstrationen, die legitime Gründe haben, auf die Straße zu gehen und sich selbst an den ganzen „Spinnern“ neben ihnen stören, wie mir ein Demonstrant in Frankfurt (Oder) erzählt.

Kurz vor dem Jahreswechsel spreche ich zwei „Querdenker“ auf dem Alexanderplatz an, die auf einem Plakat die Frage stellen, wo denn die überfüllten Krankenhäuser seien. Zu diesem Zeitpunkt sind vor allem die Kliniken in Teilen Brandenburgs und Sachsens überfüllt, Ärzte und Pfleger kämpfen an der Belastungsgrenze, in Bautzen kommt das Krematorium mit dem Verbrennen der Leichen nicht mehr hinterher. Ich frage die beiden, wie sich wohl ein Angehöriger eines Covid-Intensivpatienten fühlen würde beim Lesen ihres Plakats. Plötzlich werden die zwei „Querdenker“ sehr ruhig, kurz diskutieren sie miteinander und schließlich wird das Schild entfernt.

Es bleiben Hoffnungsschimmer, mehr nicht. Die Bewegung radikalisiert sich in der zweiten Jahreshälfte 2020 immer weiter. Im Oktober wird das Robert Koch-Institut mit einem Brandsatz angegriffen, in Mitte findet man neben einem explodierten Sprengsatz ein Bekennerschreiben, dass das sofortige Ende der Corona-Maßnahmen fordert.

Und auch für mich wird die Berichterstattung von den Demos immer schwieriger. Beleidigungen gegenüber Pressevertretern sind Standard, bei einer weiteren eskalierten Demonstration am 25. Oktober in Friedrichshain teilen mir zwei Männer mit, dass sie mich am liebsten „hängen“ sehen wollen. Zwei Monate später werden in mehreren Telegram-Gruppen mit Tausenden Mitgliedern ein Teil meiner Privatadresse und meine Telefonnummer veröffentlicht, für den Fall, dass man mir mal die „Meinung sagen wolle“.

Zurück nach Berlin. Der regelmäßige Autokorso um den Schlagersänger „Björn Banane“, der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) regelmäßig als „Schlampe“ bezeichnet, bildet in der Hauptstadt inzwischen die Speerspitze des Corona-Widerstands. Die „Querdenken“-Bewegung weicht längst in andere Städte wie Leipzig, Dresden oder zuletzt Kassel aus, um dort den Ordnungsbehörden dieselben Alpträume zu verschaffen, die Berlin bereits im August erlebt hat.

Anders als bei den Berliner August-Demos oder der Gewalteskalation von Leipzig im November werden Hooligans und Rechtsextreme nicht mehr zwingend gebraucht, um sich trotz Verboten und Auflagen den Weg freizukämpfen. In Kassel haben Familienväter und ältere Frauen in Regencapes die Polizeiketten durchbrochen. Die Beamten, die sonst mit Gewalt und Hasstiraden von Vermummten, Extremisten und Hooligans zu tun haben, sind immer noch nicht darauf vorbereitet. Ebenso wenig wie die Politik.

Am Sonntag wollen sie auch wieder in Berlin protestieren und von Wedding zum Rosa-Luxemburg-Platz in Mitte ziehen. Eine „Jubiläumsversammlung“ soll es sein für „ein Jahr Demokratiebewegung“. In den Berliner Krankenhäusern werden derweil wieder mehr Intensivbetten gebraucht, um das Leben von schwer an Covid-19 Erkrankten zu retten.