Herr Drosten, es ist fast auf den Tag zwei Jahre her, dass Sie erstmals im Tagesspiegel zu einer neuen Viruserkrankung zitiert wurden. Hätte Sie da jemand gefragt: „Wie werden wir in zwei Jahren über dieses Virus reden?“, was hätten Sie gesagt?

Ich kann Ihnen sagen, was ich damals gesagt habe: Das wird das Nachrichtenthema des Jahres, es wird 2020 kein anderes mehr geben. Das habe ich allerdings nur zu meiner Frau gesagt.

Was machte Sie damals schon so sicher? Am Anfang war ja noch nicht einmal klar, ob das neue Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird.

Mitte Januar zeichnete sich auf Basis der Daten schon ab, dass es ernst wird. Man wusste, dass die Fallzahlen in China rasch steigen, vor allem beim Krankenhauspersonal – was immer ein erster Indikator ist, ob ein Virus von Mensch zu Mensch gut übertragbar ist.

Allerdings waren Sie am Anfang auch nicht sicher, wie ansteckend Sars-CoV-2 ist. Sie haben es anfangs eher wie Sars-1 eingeschätzt, das 2003 einfach verschwand.

Meine Einschätzung war, dass das ein schwer pathogenes Virus ist, dass es sich wie Sars-1 in erster Linie tief in der Lunge vermehrt und daher nicht so ansteckend ist. Dann kam die Webasto-Kohorte, die ersten Infektionsfälle in Deutschland beim Münchner Autozulieferer, und es wurde schnell klar: Die Patienten haben fast alle einen milden Verlauf, einige asymptomatisch. Aber die Messung der Viruslast und RNA-Transkription bei diesen Patienten zeigte, dass das Virus sich aktiv im oberen Rachenraum vermehren kann. Das war eine Überraschung.

Sie haben kürzlich gesagt, die Evolutionsfähigkeit des Virus habe Sie „komplett überrascht“. Warum, Viren mutieren ja nun einmal, musste man damit nicht rechnen?

Zu sagen, dass Viren nun mal mutieren, ist ein Allgemeinplatz. Die entscheidende Frage ist, ob man davon eine quantitative Vorstellung hat. Und da ist es eben so, dass kein heute lebender Virologe Erfahrung dazu hat, wie sich ein völlig neues Virus im Menschen etabliert. Selbst bei den Influenza-Pandemien von 2009 oder 1968 kann man ja nicht von neuen, für Menschen gänzlich unbekannten Viren sprechen. Mit Sars-CoV-2 ist es anders, das ist ein völlig neues Virus für die Bevölkerung. Ein Plus von Übertragbarkeit von 30 oder 40 Prozent, wie es einzelne Sars-CoV-2-Varianten zeigen, das gibt es bei Influenza nicht. Diese außerordentlich starke Zunahme der Übertragbarkeit bei Alpha, Delta und Omikron spricht schlicht gegen bisherige Erfahrungen.

Wobei Omikron noch mal eine andere Dimension der Anpassung ist als Alpha und Delta.

Alpha und Delta waren Fitness-Sprünge. Das Virus hat sich dabei besser an den Menschen angepasst und seine Übertragbarkeit optimiert. Das war überraschend, weil das Virus im Frühjahr 2020 ja schon mit einer sehr guten Übertragbarkeit begonnen hatte, die sich 2020 kaum veränderte. Erst kurz vor Weihnachten 2020 kamen die Signale aus England, dass Alpha eine Fitness-Erhöhung zeigt. Omikron hingegen ist eine Immunflucht-Variante, die dem Schutz durch Impfung oder Infektion mit anderen Sars-CoV-2-Varianten ein Stück weit ausweicht. Das ist eine Reaktion auf die sich entwickelnde Bevölkerungsimmunität. Ich habe schon damit gerechnet, dass das irgendwann passiert, aber nicht so früh. Nun ist es schon Ende 2021 so gekommen.

Haben Sie eine Erklärung dafür, dass eine Immunflucht-Variante wie Omikron schon jetzt aufgetaucht ist?

Sobald größere Teile einer Bevölkerung immun werden, gerät das Virus unter Druck. Es muss reagieren – durch eine Immunflucht-Variante. In Südafrika oder auch anderen Ländern im südlichen Afrika ist die Bevölkerung schon sehr stark durchinfiziert. In so einer Population haben dann Virusvarianten einen Selektionsvorteil, die diese Immunität umgehen können.

Was ist da noch zu erwarten an Veränderung? Gibt es ein Ende der Veränderungsfähigkeit von Sars-CoV-2?

Das Änderungspotenzial von Sars-CoV-2 ist grundsätzlich begrenzt. Das Virus kann nicht das Spike-Protein strukturell so stark verändern, dass es gar nicht mehr wiederzuerkennen ist. Also es gibt einen gewissen, begrenzten Mutationsraum, den das Virus benutzen kann. Aber das ist keine Halle, sondern eher ein Haus mit vielen Zimmern, und manchmal kann eine Mutation eine Tür zu einem neuen Raum öffnen, in dem das Virus dann neu experimentieren kann. So kommt es zu gewissen Mutationssprüngen. Bei Influenza passiert das alle fünf bis acht Jahre mal, und man muss dann die Impfstoffe anpassen. Und so ein Sprung ist jetzt mit Omikron passiert. Das wird in Zukunft weiter passieren, alle paar Jahre oder jetzt, zu Beginn der Pandemie, vielleicht auch öfter.

Wird es immer so weitergehen?

Für die weitere Zukunft erwarte ich, dass das zur Ruhe kommen wird – weil es bei allen vier zirkulierenden Erkältungs-Coronaviren auch passiert ist. Aber das ist eine evolutionsbiologische Antwort. Die relevante Frage, die alle interessiert, lautet ja: Wie lange geht diese Quälerei noch weiter mit der Pandemie? Und darauf kann ich viel besser antworten. Denn anders als der schwer abschätzbare Mutationsraum entwickelt sich die Bevölkerungsimmunität bei Erwachsenen in eine klare Richtung: Die Bevölkerung baut Immunität auf und behält die auch. Und in diesem Prozess sind wir drin. Es gibt ein paar Länder, die sind schon am Ende damit, etwa Südafrika oder Indien, wo es sehr viel Virus-Zirkulation gab, allerdings auch zum Preis sehr vieler Todesfälle.

Was bedeutet das für Deutschland? Können wir bald die Pandemie für beendet erklären und die endemische Phase ausrufen?

Wir sind jetzt in diesem Prozess. Aber wegen des hohen Anteils Älterer in der Bevölkerung müssen wir das in Deutschland über Impfungen machen. Über natürliche Infektionen würden viel zu viele Menschen sterben. Wir haben jetzt schon ein ganzes Stück dieses Weges geschafft über Impfungen. Den müssen wir jetzt zu Ende gehen, damit wir im Laufe des Jahres 2022 in die endemische Phase kommen und den pandemischen Zustand für beendet erklären können.

Was wäre hier ein konkretes, realistisches Szenario für 2022?

Im nächsten Winter rechne ich noch einmal mit einer starken Inzidenz-Erhöhung. Und wir werden wohl auch wieder Masken tragen müssen in Innenräumen, weil der Übertragungsschutz noch einmal ein wenig sinken wird und die Vulnerablen in der Bevölkerung geschützt werden müssen, besonders die alten Geimpften und die Ungeimpften jeden Alters. Wirklich ins Gewicht fallende Einschränkungen werden aber wahrscheinlich nicht mehr nötig sein. Wir werden nur weiter Rücksicht nehmen müssen auf den Teil der Bevölkerung, der im Risiko steht. Es wird also noch nicht so sein wie jetzt bei einer normalen Influenza-Saison. Denn die Bevölkerungsimmunität gegen Influenza basiert ja nicht nur auf der Impfung, sondern auf mehreren Infektionen, die ein Erwachsener im Leben meist schon durchgemacht hat. Da sind wir mit Sars-CoV-2 einfach noch nicht.

Das heißt, wir alle werden und müssen uns früher oder später mit Sars-CoV-2 infizieren?

Ja, wir müssen in dieses Fahrwasser rein, es gibt keine Alternative. Es hat sich ja irgendwann die Idee formiert, dass man Sars-CoV-2 komplett unter Kontrolle halten könne und müsse. Aber das ist nicht realisierbar. Das bedeutet aber nicht, dass diejenigen recht hatten, die Sars-CoV-2 für harmlos halten und ungehemmt durch die Bevölkerung rauschen lassen wollen, die Durchseuchungsanhänger. Beides sind laienhafte Vorstellungen, die nicht tragfähig sind. Wir können nicht auf Dauer alle paar Monate über eine Booster-Impfung den Immunschutz der ganzen Bevölkerung erhalten. Das muss das Virus machen. Das Virus muss sich verbreiten, aber eben auf Basis eines in der breiten Bevölkerung verankerten Impfschutzes. Die abgeschwächte Infektion auf dem Boden der Impfung, das ist so etwas wie ein fahrender Zug, auf den man aufspringt. Irgendwann muss man da aber auch mal draufspringen, sonst kommt man nicht weiter. Die gute Nachricht ist: Im Moment fährt der Zug angenehm langsam, denn Omikron hat eine verringerte Krankheitsschwere.

Sie sehen Omikron also als Chance, in den endemischen Zustand zu kommen?

Es wäre eine Chance jetzt, breite Immunität vorausgesetzt. Zumal niemand ausschließen kann, dass der Zug auch wieder schneller wird und wir dann nicht mehr so leicht draufkommen, beispielsweise weil das Virus rekombiniert und eine Variante mit einer Immunflucht-Fähigkeit wie bei Omikron und gleichzeitig erhöhter Krankheitsschwere wie bei Delta entsteht.

Dass Omikron schon das Ende ist, oder zumindest nun ein Trend zu milderen Varianten bleibt, auf diese Hoffnung sollte man besser nicht setzen?

Bei dem Virus kann man sich darauf nicht verlassen. Aber man kann sich darauf verlassen, dass die Bevölkerungsimmunität sich immer weiter aufbaut. Wenn wir das hinbekommen, wäre selbst ein nochmals verändertes Virus keine Katastrophe mehr. Nur ist das Erhalten der Bevölkerungsimmunität nicht dasselbe wie das Aufbauen der Immunität. Das Aufbauen müssen wir in unserer alten Gesellschaft über Impfungen machen, das Erhalten muss das Virus erledigen. Natürlich unterstützt mit Booster-Impfungen, so wie bei Influenza auch.

Jetzt die Gretchenfrage: Brauchen wir eine Impfpflicht, um damit die nötige Bevölkerungsimmunität zu erreichen und zu erhalten?

Das muss die Politik entscheiden, ob sie das über die Impfpflicht machen will oder auf anderen Wegen. Die Ansprache der Bevölkerung war in anderen Ländern ganz anders als in Deutschland. Man kann auch motivieren und stimulieren. Als Virologe kann ich nur immer wieder betonen, wie wichtig es ist, dass wir die Impflücke möglichst komplett schließen, vor allem in den Altersgruppen, die gefährdet sind: Es wird nicht möglich sein, einen Übertragungsschutz der Gefährdeten über die Bevölkerungsimmunität zu erreichen, also was man gemeinhin als „Herdenimmunität“ bezeichnet: Ein Zustand, in dem das Virus sich nicht weiterverbreitet, sodass auch jene Teile der Bevölkerung geschützt sind, die nicht geimpft sind, wird bei diesem Virus nicht zu erreichen sein. Dafür gibt es wissenschaftliche Evidenz. Das beantwortet auch die Frage, ob alle, die noch nicht infiziert oder geimpft wurden, irgendwann dieses Virus kriegen werden. Ja, werden sie. Und sie haben dann das Ursprungsrisiko eines schweren Krankheitsverlaufs. Bei Omikron ist es zwar etwas reduziert, aber auch nur um etwa ein Viertel.

Und wenn sich bei neuen Varianten die Krankheitsschwere weiter reduziert?

Das ist nicht gänzlich auszuschließen, und dann gäbe es auch Argumente zu sagen, dass sich nicht alle impfen lassen müssen, weil das bevölkerungsweite Erkrankungs- und Sterberisiko dann gering wäre. Dann wäre es irgendwann im Bereich der Eigenverantwortung. Da sind wir aber derzeit nicht. Also wenn jemand im Moment meint, das Infektions- und Erkrankungsrisiko könne er ja wohl für sich selbst verantworten, dann muss man sagen: Nein, das geht nicht, weil noch so viele krank werden, dass das über die Bettenkonkurrenz auch andere Kranke betrifft. Weil Betten knapp sind, ist es eben nicht nur die Eigenverantwortung. Und da muss die Politik dann handeln und regulieren.

Neben der Eigenverantwortung steht die Selbstbestimmung über den eigenen Körper. In die wird mit einer Impfpflicht auf jeden Fall eingegriffen.

Wie gesagt, die Antwort auf die Frage nach der Impfpflicht muss die Politik finden. Ich kann den Menschen im Hinblick auf die Risikobewertung der Impfung nur immer wieder nahelegen: Es ist Impfung versus Virus, nicht Impfung versus keine Impfung. Das ist die Risikoabwägung. Und da kann ich als Virologe sagen, dass man bei der Impfung einfach besser wegkommt.

Welche Impfstoffe kommen denn für eine Impfpflicht infrage? Manche Menschen fürchten etwa die mRNA-Impfstoffe.

Man hört immer wieder das Argument, es gebe so wenig Erfahrungen mit mRNA-Impfstoffen. Aber das ist angesichts von inzwischen Milliarden mRNA-Impfungen wirklich Unsinn. Im Gegenteil. Die mRNA- und auch Vektor-basierten Impfstoffe wie von Astrazeneca haben einen wichtigen Vorteil gegenüber Totimpfstoffen oder rein Protein-basierten Vakzinen: Sie aktivieren die zelluläre Immunreaktion viel besser und leisten damit einen ganz wichtigen Beitrag für den Schutz vor schwerer Covid-Erkrankung und auch vor Immunflucht- Varianten wie Omikron. Diese zelluläre Komponente der Immunität wird von den mRNA-Vakzinen viel besser stimuliert. Das heißt, mit mRNA- und Vektor-Impfstoffen kommen wir der natürlichen Immunität am nächsten. Den Protein- und Totimpfstoffen fehlt diese Fähigkeit einfach.

Werden wir in der Prävention von Pandemien in Zukunft besser sein?

Zur Pandemie-Prävention ist es leicht, ganz allgemeine Dinge zu sagen. Klar ist etwa, dass, wenn wir immer stärker in ursprüngliche natürliche Lebensräume eindringen, wir zwangsläufig auch in Kontakt mit neuen Tierarten kommen. Und dann können Viren überspringen. Natürlich müsste man also eigentlich in weiten Teilen Afrikas ständig alle möglichen Hotspots testen. Aber das ist nicht machbar und es gibt keinerlei belastbaren Hinweis darauf, dass ein solches Konzept je zum Erfolg geführt hätte. Zudem ist die Umsetzung fast beliebig teuer. Und ich sage das, obwohl ich in diesem Bereich forsche und es im Interesse meines Labors wäre zu sagen: Das ist das Allerwichtigste, da muss man jetzt investieren! Aber tatsächlich muss man sich fragen, wie sinnvoll das wäre. Ich denke, Früherkennung wird auch zukünftig mit dem Erkennen von symptomatischen, übertragbaren Erkrankungen beim Menschen beginnen.

Haben Sie Ideen für pragmatischere Konzepte?

Erinnern wir uns an die erste Sars-Epidemie 2002 und 2003. Hier gab es ein punktuelles Versäumnis. Es gab damals schon relativ viel Arbeit in Richtung Impfstoffe. Und diese Projekte sind alle liegen geblieben, als die Epidemie vorbei war. Einen etwas längeren Atem in der Nachbearbeitung einer solchen, offensichtlich für den Menschen gefährlichen neuen Infektionskrankheit hätte man brauchen können. Dann hätte man zu Beginn dieser Epidemie schon Impfstoffe gegen das erste Sars-Virus gehabt und die Herstellung und Zulassung von allerersten Impfstoffen gegen Sars-CoV-2 wäre noch viel schneller gegangen.

Das ist sicher nicht das Einzige?

In vielen Ländern wird es eine Pandemie-Nachbearbeitung geben müssen. Viel hat mit dem Problem der Datendurchgängigkeit zu tun. Und das ist sehr unterschiedlich ausgeprägt. Da ist etwa die Situation in Deutschland anders als in Dänemark und England. Wir müssen den beiden Ländern, und auch Israel, irgendwann einfach mal ein ganz großes Dankeschön aussprechen, dass wir unsere ganze Pandemie-Politik an deren Daten orientieren konnten.

Datendurchgängigkeit in Deutschland – dagegen erscheint die konkrete Erforschung eines Krankheitserregers fast simpel. Was sind die wichtigsten Fragen, die Sie noch an das Virus haben?

In der Grundlagenforschung laufen so viele Dinge gleichzeitig, die für mich jetzt interessant sind. Aber das ist teilweise schon sehr speziell. Wir vermuten zum Beispiel, dass Sars-CoV-2 nicht nur über den bekannten ACE-2-Rezeptor in die Zellen gelangt, sondern dass bei der Infektion noch ein weiteres Rezeptormolekül als Türöffner im Spiel ist.

Und in der angewandten Forschung?

Da ist die Antwort klar: Wir brauchen eine LebendImpfung – klassisch mit einem abgeschwächten Virus oder eine moderne Variante davon. Die müsste man in die Nase geben und so dann Schleimhaut-Immunität auslösen. Das wäre ein viel besserer Übertragungsschutz, es wäre der nächste Meilenstein. In der Forschung ist das alles schon da. Es laufen auch schon klinische Studien der Phase 1 und 2, die sind aber zunehmend schwieriger durchzuführen. So etwas müsste man ja eigentlich erst mal an Leuten testen, die einerseits noch ungeimpft sind und noch nicht infiziert waren, andererseits aber Impfungen gegenüber positiv eingestellt sind – und bei so etwas mitmachen. Und davon gibt es inzwischen nur noch sehr wenige.

Hätte man die Pandemie verhindern können?

Also, bei der schnellen Verbreitungsgeschwindigkeit, nun ja … Ich denke, es ist einigermaßen berechtigt, davon auszugehen, dass diese Pandemie in Wuhan als menschliche Übertragungskette entstanden ist. Hätte man in China den Lockdown zwei Wochen früher gemacht, hätte man das vielleicht noch unter Kontrolle bekommen können. Da hätte aber auch viel Glück mitspielen müssen. Eigentlich glaube ich nicht, dass diese Pandemie aufzuhalten gewesen wäre. Und dass man in China überhaupt diesen Schritt gemacht hat, diesen Lockdown, dass man diese Kühnheit besessen hat, zu überblicken, was da gerade kommt, ich kann dem nur applaudieren. Aus damaliger Perspektive war das extrem früh und vorausblickend. Da gibt es keine Kritik zu üben. Man hat damit auf jeden Fall für die Welt Wochen an Zeit gewonnen. Das ist kein politisches Statement, nur eine technische Einschätzung.

Was waren aus Ihrer Sicht in Deutschland und international die größten politischen Fehler in der Pandemie bisher?

England hat den großen Fehler in der ersten Welle gemacht, nicht auf die Wissenschaft zu hören und den Lockdown zu spät zu machen. Zwei Wochen hätten damals einen Riesenunterschied gemacht, hätten Zehntausenden das Leben gerettet. Das war in Deutschland nicht so. In Deutschland wurde ein Fehler im November 2020 gemacht, mit dem damals sehr halbherzigen Vorgehen. Es wurde nicht konsequent gehandelt und über mehrere Wochen hingenommen, dass die Infektionsraten konstant hoch blieben. Man hat gewartet und gewartet über mehrere Ministerpräsidentenkonferenzen. Letztlich hat die Weihnachtspause das Problem entschärft. Der zweite schwere Fehler war im vergangenen Herbst, als man verkannt hat, dass eine neue Welle kommen wird, die Delta-Welle, und dass man dagegen etwas tun muss. Es wurde kommuniziert, man müsste jetzt nur noch die Altersheime schützen und es würde keine Winterwelle kommen, weil man ja geimpft hat – während die Wissenschaft mit Nachdruck davor gewarnt hatte, wirklich lange genug vorher.

Andere stellen der deutschen Corona-Politik ein vergleichsweise vernichtendes Zeugnis aus.

Tatsächlich hat es Deutschland eigentlich meist gut gemacht. Wenige Länder hatten bei vergleichbarer Bevölkerungsgröße, demografischer und sozioökonomischer Struktur so wenige Tote. Im Vergleich dazu etwa das häufig vorgebrachte Beispiel Schweden: Dort gab es sehr viele Tote und immensen wirtschaftlichen Schaden. Und schon im Herbst 2020 hat die Regierung dort eingestanden, dass ihr Ansatz gescheitert ist. Und er wäre noch krachender gescheitert, wenn sich die Bevölkerung dort nicht so gebildet, kooperativ, selbstmotiviert, eigenverantwortlich und zusammenhaltend verhalten hätte.

Ist Letzteres rückblickend nicht auch in Deutschland so gewesen? In den Daten sieht man ja, dass es oft schon Effekte gab, bevor Maßnahmen überhaupt greifen konnten.

Wir bewegen uns da auf einem Spektrum. Da gibt es auf der einen Seite die skandinavischen Länder. Mein ganz persönlicher Eindruck ist, dass dort der soziale, gesellschaftliche Zusammenhalt stark ist. Das ist – wie gesagt aus meiner Sicht – bei uns schon ein Stück weit anders. Dabei spielt sicher auch der höhere Wohlstand und die soziale Fürsorge eine Rolle, denken Sie nur an die umfangreiche Kinderbetreuung. In einer Ausnahmesituation wie jetzt macht es dann eben einen Unterschied, ob man als Einzelperson weitgehend auf sich gestellt ist oder ob es ein breites soziales, gesellschaftliches Netz gibt. Und es gibt ein anderes Ende des Spektrums, etwa in manchen Ländern in Osteuropa, wo niemand der Regierung irgendetwas glaubt. In Deutschland liegen wir auf dem Spektrum wohl irgendwo zwischen diesen Enden.

Ein breites Spektrum gab es in Deutschland auch bei den Wortmeldungen von Wissenschaftlern …

Es wird immer eine Vielfalt der Stimmen geben. Vielfalt ist gut. Was eben nicht gut ist, ist, wenn einzelnen Personen eine Bühne geboten wird, bei denen mit auch nur ein bisschen Qualitätskontrolle identifizierbar wäre, dass sie nicht aus relevanten Bereichen kommen, mitunter auch ganz außerhalb der Medizin, und beim eigentlichen Thema keine Expertise besitzen.

Nennen Sie mal ein paar Namen.

Nein, das tut nichts zur Sache. Es ist Aufgabe der Medien, vorher zu prüfen, wem man eine Bühne bietet. Aber es ist auch ein Problem innerhalb der Wissenschaft: Wenn jemand gegen wissenschaftliche Standards verstößt, etwa Daten fälscht, dann bekommt diese Person ernsthafte Probleme. Dafür gibt es Regeln und Sanktionsmöglichkeiten, gemäß Richtlinien, die wissenschaftliches Fehlverhalten definieren. In denen steht aber, soweit mir bekannt, kaum etwas zur Kommunikation von Wissenschaftlern mit der Öffentlichkeit. Da gibt es bislang keine definierten oder gängigen Standards. Ich wünsche mir, dass innerhalb der Wissenschaft eine Diskussion angestoßen wird, wie solche Standards für die Wissenschaftskommunikation definiert werden können und für die Wissenschaftler verbindlich werden. Auch in der Wissenschaftskommunikation gibt es Fehlverhalten. Dabei geht es mir ausdrücklich nicht darum, jemanden zu zensieren. Wissenschaftler müssen aber auch erkennbar differenzieren zwischen unüberprüften Meinungsäußerungen und Ausführungen, die für sich in Anspruch nehmen, auf validen wissenschaftlichen Fakten zu beruhen.

Werden wir jemals wieder so leben wie vor der Pandemie?

Ja, absolut. Da bin ich mir komplett sicher. Ich glaube aber, ein paar Sachen werden bleiben. Wir werden noch ein paar Jahre lang Masken in bestimmten Situationen tragen müssen. Das wird weiter nerven. Das wird aber auch immer weniger werden. Und es wird auch ein paar Benefits geben: In Deutschland wird die Pandemie etwa die Digitalisierung voranbringen, das Homeoffice wird normaler werden und wir müssen nicht mehr wegen jedem Meeting irgendwo hinfliegen. Und natürlich hat das Virus die Medizin vorangebracht. Die mRNA-Technologie ist ein Riesendurchbruch, auch für Krebs und für andere Infektionskrankheiten, denken wir allein mal an Influenza. Das haben wir so noch gar nicht erfasst.

Wenn wir uns für heute in zwei Jahren wieder verabreden würden …

Können wir machen.

... worüber werden wir uns dann unterhalten?

Dann werden wir über die Lebend-Vakzine, die ich schon erwähnte, sprechen. Worüber wir auf keinen Fall sprechen werden, ist Sars-CoV-3. Das ist nämlich nicht mehr möglich. Wir haben jetzt so viel Populations-Immunität, dass Varianten von Sars, die noch einmal neu aus der Natur kommen, keine Chance mehr haben, sich im Menschen zu etablieren und zu verbreiten. Andere Coronaviren dagegen schon, etwa das Mers-Virus. Das gab es schon vor der Pandemie und es ist kein bisschen harmloser geworden, im Gegenteil. Wir konnten inzwischen zeigen, dass das jetzt zirkulierende Virus übertragbarer oder virulenter geworden ist. Es hat gesteigerte Replikations-Eigenschaften gegenüber dem Virus, das zwischen 2012 und 2014 zirkulierte. Es hat sich weiterentwickelt. Ganz konkret wird meine Gruppe weiter Coronavirus-Forschung machen. Aber wir werden wieder stärker an Mers arbeiten. Es ist also ziemlich sicher, dass wir in zwei Jahren über Mers reden werden. Und wir werden auf jeden Fall über Long Covid sprechen.

Das Gespräch führten Richard Friebe und Sascha Karberg.

ZUR PERSON

VON DER EMS ...

Cristian Drosten wurde 1972 in Lingen (Ems) geboren. Er wuchs auf einem Bauernhof auf.

ÜBER DEN RHEIN ...

Er studierte Medizin in Frankfurt. 2002/03 war er, noch vor Abschluss seiner Doktorarbeit, Mitentdecker des ersten Sars-Virus. 2007 wurde er Leiter des Virologie-Instituts der Uni Bonn.

... AN DIE SPREE

2017 ging Drosten als Professor und Institutsleiter für Virologie an die Charité in Berlin. 2020 entwickelte er den ersten Corona-Test mit. Er beriet die Politik in der Pandemie. Sein „Corona-Podcast“ beim NDR erhielt einen Online-Grimmepreis. rif

Wissensgesellschafter. Der Charité-Virologe ist Mitglied des Expertenrats, der die Bundesregierung in der Pandemie berät, und auch im Corona-Gremium der Leopoldina-Akademie. Foto: Sascha Karberg/Tagesspiegel