Im ersten Stock der Steglitzer Kopernikus-Schule lächelt Beate Maedebach, 61 Jahre alt, an diesem Montagmorgen tapfer. Es ist 7.55 Uhr, die Stockwerke und Treppenflure sind bevölkert von Kindern und Jugendlichen, die mit Masken in ihre Klassenräume laufen – um als erste Aufgabe Corona-Tests zu absolvieren.

Die zwiespältige Gemütslage der Sekundarschulleiterin hat nichts mit diesem Ritual zu tun, das längst Alltag für Schulen geworden ist. Sie ist vielmehr müde von den Debatten um Schulschließungen, die auch zwei Wochen nach dem Ende der Weihnachtsferien anhalten. Natürlich weiß sie, dass Omikron die Inzidenzen in die Höhe jagt. Aber das macht ihr keine Angst mehr.

Sie sagt: „Wir Schulen können uns organisieren.“ Pause. Dann: „Aber das emotionale Elend, in dem Kinder, Lehrende und Eltern feststecken, können wir als Schulleiter nicht allein heilen.“

Sie sagt, in der öffentlichen Debatte gehe es nur um Zahlen und Inzidenzen, so, als erwarte man sowieso, dass die Ansteckungen an den Schulen explodierten. Aber das sei bisher in Berlin nicht der Fall. Sie zählt auf: Nach Weihnachten seien elf Personen wegen Corona nicht in ihre Schule gekommen, fünf seien am ersten Tag positiv getestet worden – von 1100. Das sei nicht besorgniserregend, sondern für die Umstände „normal“.

Doch hinter dieser Fassade, hinter den Schulmauern und der Organisationsleistung hat sich ein Problem aufgetürmt, das womöglich viel gefährlicher ist als eine Viruswelle.

Die Schulleiterin sagt: „Was wir hier eigentlich emotional wuppen, wird außerhalb der Schule zu wenig gesehen.“ Beate Maedebach, wie andere Schulleitende dieser Stadt, klagt nicht über ihren Beruf, den sie liebt, sondern darüber, dass Schule reduziert werde auf eine Organisationseinheit, die in dieser Pandemie vor allem zu funktionieren habe.

Sie und ihre Schulleiterkolleg:innen sehen Krankenstände explodieren, immer mehr gereizte Lehrer:innen, zunehmend aggressive Eltern, banale Konflikte, die zu unerbittlichen Auseinandersetzungen führen; sie sehen auch eine Abnahme von Empathiefähigkeit und vor allem emotionale Leere und Verhaltensauffälligkeiten aller Beteiligten – Schüler:innen, Eltern, Lehrende.

Eine andere Schulleiterin berichtet: „Diese mentalen Belastungen in dieser Ansammlung habe ich noch nie gesehen.“ Ein Schulleiter bestätigt: „Ich gucke meine Leute an, und die sehen kaputt aus.“ Wiederum eine andere Schulleiterin stellt fest: „Jeder schaut auf sich.“

Schon vor der Pandemie waren Schulen und das ihnen zugrunde liegende Bildungssystem Dauerdiskussionsstoff. Seit Jahrzehnten ging es um unzureichende Digitalisierung, um die Starrheit des Systems, um Leistungsdefizite und natürlich um Baumängel sowie Personalnot. Und keines von diesen Problemen ist gelöst. Corona, sagen die meisten Schulleitenden, habe die Defizite nun nur nochmals überdeutlich gezeigt und potenziert.

Schon vor der Pandemie war der Ton zwischen Eltern und Lehrenden rauer geworden, jetzt bestätigen die Schulleiter:innen das, was auch Polizisten, Feuerwehrleute, Ärzt:innen oder Menschen im Handel beklagen: Respekt- und Kompromisslosigkeit nehmen zu.

Beate Maedebach ist Tochter eines Maurers und einer Schneiderin. Sie sagt, sie habe davon profitiert, „dass Arbeiterkinder an die Unis durften“. Sie ist Lehrerin geworden, um Kindern und Jugendlichen aus bildungsfernen Familien eine gute Schulbildung zu ermöglichen; vor allem aber, um ihnen zu helfen, selbstständig zu werden und an sich zu wachsen.

Die Schule ist für sie in erster Linie ein Ort für Beziehungsarbeit; es geht um die Fähigkeit, in Teams zu arbeiten. Das gelte für Schüler:innen wie Lehrende. Für Maedebach, die auch im Vorstand des Interessenverbands Berliner Schulleitungen ist, gibt es kein Geheimnis darum, wie eine gute Schule funktioniert: „Es geht immer um Kommunikation, darum, miteinander zu reden.“ Das aber müsse organisiert und gelebt werden.

Doch die Fähigkeit zur Selbstorganisation, zur Eigenständigkeit, die Berliner Schulen ja sogar per Schulgesetz besitzen, kommt durch Corona an ihre Grenzen. In der Pandemie kollidieren die durch Corona erzwungenen Maßnahmen und Vorgaben, ja Vorstellungen permanent mit der gelebten Realität der Schule. Beispielsweise hat die Kopernikus-Oberschule sechs leistungsdifferenzierte Fächer, was bedeutet, das verschiedene Lerngruppen mit unterschiedlichen Niveaustufen gebildet werden, um die einzelnen Schüler nach ihren Fähigkeiten zu fördern, es gibt Wahlpflichtunterricht und viele Arbeitsgemeinschaften.

Diese Vielfalt und das klassen- sowie fächerübergreifende Lernen sind eine wichtige Säule der Schulidee. Es gehe hier, sagt Maedebach, um „soziales Lernen“, das heißt, dass es sehr viel mehr Kontakte gibt als in normalen Klassen. „Wenn es dann aber pauschal heißt, reduziert eure Kontakte, ignoriert das den Kern unseres pädagogischen Konzepts.“

Die Pandemie höhlt vor allem das aus, was vielen als sekundär galt, das soziale Konstrukt Schule. Dabei sei, sagt Maedebach, Schule gerade jetzt als sozialer Ort gefragt, als Hort von Menschlichkeit und Miteinander. Corona wiederum zeige nicht nur alle alten Probleme von Schule wie im Brennglas, sondern multipliziere die persönlichen Befindlichkeiten zu wachsenden, mentalen Dramen.

Beate Maedebach sieht in ihrem Büro immer häufiger „vollständig verzweifelte“ Lehrer:innen, die selbst Familien und schulpflichtige Kinder oder im Kitaalter haben „und damit die doppelte Belastung mit sich tragen“. Eltern werden dünnhäutiger, verteidigen ihre Kinder blind und ohne Verständnis für die Situation des anderen. Es wird rasch Anzeige erstattet oder der Anwalt gerufen. Auch das gab es schon vor der Pandemie, doch auch diese Fälle nehmen zu. Maedebach sagt, dass der Verantwortungsbereich der Schulen und damit der Lehrenden sich ohnehin seit Jahren immer weiter ausdehne, sie nennt es „Entgrenzung“.

Wenn ein Kind um 23 Uhr im Klassenchat beleidigt werde und der Vater sofort Alarm schlage, anrufe oder maile, könne sich Schule gar nicht mehr entziehen, sondern müsse sich verhalten, Position beziehen, vermitteln. Alles das weite die Arbeit nicht nur in die Abendstunden, sondern auch ins Wochenende aus, weil solche niedrigschwelligen Konflikte permanent vorkommen und eskalieren.

Ein paar Kilometer von Maedebachs Schule entfernt sitzt Andreas Steiner, 46 Jahre alt, in seinem Büro des Fichtenberg-Gymnasiums. Auch er, sagt der Schulleiter per Videoschalte, habe grundsätzlich kein großes Problem mit dem Organisieren des Schulalltags mit Corona. Auch er ist für ein „unbedingtes Offenhalten“ der Schulen. Und doch hat auch er das Gefühl, er werde seinen eigenen Ansprüchen nicht mehr gerecht.

Gerade im ersten Jahr der Pandemie, als vieles noch unsicherer war, sieht sich Steiner an Schüler:innen und Eltern vorbeilaufen und denken: „Die erwarten ja von mir, dass ich ihnen ein Wegweiser bin, dass ich Lösungen habe.“ Oft hat er sie nicht. Soll er nun einen Lehrer, der keine Maske tragen muss, ständig in Quarantäne schicken, weil er als Kontaktperson womöglich gefährdeter ist? Darf er das überhaupt? Und so nimmt Steiner viele dieser ungelösten Dinge mit nach Hause und bis hinein in seine Träume.

Auch sein Aufgabenbereich hat sich geweitet. Da die Fichte, wie die Schule genannt wird, seit Jahren eine riesige Baustelle ist, ist Steiner immer auch ein Baustellenleiter, der sich um viele einzelne Baudetails kümmern muss. In der Pandemie ist er, wie er sagt, aber auch zum „Gesundheitsleiter“ und „Kontaktverfolger“ geworden. Morgens bereiten der Hausmeister, eine Verwaltungsleiterin und er die 800 Tests für die Schule vor. Wenn dann die ersten positiven Tests reinkommen, muss er Eltern anrufen oder Kontakte nachverfolgen und das Gesundheitsamt informieren. Ein Sekretariat hat er zurzeit nicht. Die Quarantäne selbst aussprechen darf er wiederum nicht, sondern das Gesundheitsamt schickt ihm ein Formular, in das er die Daten einträgt und es dann doch selbst verschickt.

Was ihm aber den Schlaf raube, sei die steigende Zahl an auffälligen Kindern und Jugendlichen; manche haben wegen des Homeschoolings eine Sozialphobie entwickelt, andere, die etwa zum wiederholten Male in Quarantäne mussten, aber vor dem Abitur stehen, sind verzweifelt und haben Ängste. Steinert sagt: „Wir haben in allen Klassenstufen Kinder, bei denen etwas aufploppt, womit wir nicht gerechnet hätten.“

Die in die Höhe schießenden Krankenstände hat er auch. Er sagt, dass viele Lehrer:innen vor der Pandemie zum Ende des Schuljahres ausgelaugt seien, „jetzt war es im Herbst so weit“. Auch die Dünnhäutigkeit spürt Steiner Tag für Tag. Einmal hat er sich per E-Mail bei einem Kollegen bedankt, als Antwort kam Unverständnis darüber, dass es nicht viel mehr als ein Dankeschön war. Alle diese Dinge führen bei ihm wie seinen Kolleg:innen zu einem Widerspruch: Einerseits sieht man sich in der Lage, die Dinge zu wuppen, andererseits wird eine innere Stimme lauter, die sagt: Ich kann nicht mehr.

Karin Stolle leitet seit zehn Jahren die Sekundarschule an der Jungfernheide, neben den Siemenswerken in Spandau. Davor, bis zur Schulreform, war sie Leiterin einer Hauptschule. Ihre 7. Integrierte Sekundarschule ist zudem Schwerpunktschule für den Förderschwerpunkt „Geistige Entwicklung“. Die 61-Jährige ist eine herzliche Frau, die nicht dazu neigt, in Panik zu verfallen. Fröhlichkeit hält sie für eine Tugend in ihrem Job, „und Empathie“. Auch Stolle berichtet von Krankenhöchstständen und von einer Atmosphäre, „die irgendwie gekippt ist“.

Selbst im Lehrer:innenzimmer gebe es plötzlich hartnäckige Konflikte, die früher, wie sie betont, in der Schule gelöst worden wären; jetzt müsse die Schulaufsicht herangezogen werden. Sie sagt: „Das erschüttert mich.“

Auch Karin Stolle kann viele Widersprüche nicht auflösen. Einerseits war da vor dem Schulbeginn nach den Weihnachtsferien „eine wirklich große Gelassenheit, dass wir das hinbekommen“, andererseits sieht auch sie „emotionale Leere“ bei Eltern und im Kollegium. Ein Grund dafür sind „auch sehr mit sich beschäftigte und überforderte Eltern“. Karin Stolle sagt, es habe in diesem Schuljahr bereits „so viele Schulhilfekonferenzen gegeben wie noch nie“.

Das bedeutet, dass immer mehr Familien externe Hilfe brauchen. Bei einer solchen Konferenz kommen Jugendamt, Schule, Familie, Psychologen zusammen, um nach Lösungen zu suchen. Mittlerweile haben die Folgen der Pandemie alle gesellschaftlichen Bereiche erreicht. Eine davon, die Schulen indirekt betrifft: viel mehr Streit und Konflikte bei Paaren und in Familien.

Schule, sagt Stolle, müsste im besten Fall ein Auffangort für die Kinder sein. Doch der Fokus liege nach wie vor viel zu sehr darauf, dass man Leistungen verbessern müsse. „Schule bedeutet aber auch Struktur, Verlässlichkeit, Beziehung und Lebensfähigkeit.“ Hier werde letztlich dafür trainiert, wie man mit anderen Menschen im Leben klarkomme. Sie sagt: „Wir haben es in der Pandemie versäumt, uns zu fragen, wie die Schule der Zukunft aussehen sollte.“

Dabei sind sich auch hier die meisten Expert:innen einig. Der Pisa-Initiator und OECD-Bildungsforscher Andreas Schleicher sagt, dass das deutsche Bildungssystem nach wie vor auf den Erfordernissen des 19. Jahrhunderts aufgebaut ist. Er meint Kompetenzen, die aufs Funktionieren und Erfüllen ausgerichtet sind und darauf, „der Wirtschaft zu dienen“. Doch die Kompetenzen, die heute gebraucht werden, haben sich gewandelt.

Der „Erfüller“ ist im digitalen Zeitalter weniger gefragt, Maschinen übernehmen diese Jobs nach und nach. Gefragt sind Menschen, die sich verständigen, vernetzen, planen und Verantwortung tragen können. Soziale Intelligenz ist die wichtigste Kompetenz, ebenso die Fähigkeit, in Teams Lösungen zu finden. Es sind Eigenschaften, mit denen man auch eine Pandemie übersteht.

Im aktuellen Programm „Stark trotz Corona“ hat die Senatsverwaltung für Bildung den Fokus auf mehr Leistung gesetzt, es geht darum, Mittel zur Verfügung zu stellen, um Defizite in Mathematik, Deutsch und Englisch auszugleichen. 75 Prozent dieser Mittel, so will es das Programm, sollen für kognitive, also lernfördernde Maßnahmen, eingesetzt werden, 25 Prozent dürfen auch in soziale und emotionale Projekte fließen.

Karin Stolle sagt: „Das ist der falsche Fokus. Immer muss alles möglichst abprüfbar und die Kinder vermessbar sein.“

Jetzt handeln die meisten, halb legal, am Schulgesetz vorbei, stutzen aus Personalnot Stundenpläne, setzen eigene Schwerpunkte, und doch müssen am Ende Noten stehen, und man muss sich rechtfertigen, ob der Rahmenlehrplan auch eingehalten wurde – ganz egal, welche Virusvariante da noch kommen mag.

Karin Stolle sagt, ihre Schule setze eher auf „lesen, bewegen, selbstständig werden“. Das seien Fähigkeiten, die während der Pandemie im Lockdown besonders gelitten hätten. Sie lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich auch widersetzt, wenn sie Dinge für unsinnig hält. Leise sagt sie, sie könne sich wirklich an vieles gewöhnen, „nur nicht an Ignoranz“.