In Berlin muss sich alles ändern. Oder zumindest sehr viel. Darüber waren sich SPD, Grüne und Linke einig, als sie sich 2021 in alter Konstellation wieder zusammenfanden, um zu regieren. Zuallererst müssten sich die Koalition und ihr Stil der Zusammenarbeit selbst ändern – so hieß es. Allen Beteiligten war daran gelegen, den Eindruck zu zerstreuen, das neue Bündnis sei nur eine Wiederauflage des alten. Schließlich hatten sie in dieser Kombination schon in den fünf vorangegangenen Jahren regiert. Ein „Weiter so“ werde es nicht geben, kündigte die Regierende Franziska Giffey (SPD) an, die als neue Person an der Spitze dafür auch persönlich zu stehen schien. Die Grüne Bettina Jarasch sprach von der Chance auf einen echten Neustart.

Eine aufgewärmte Beziehung

Man hatte sich entschieden, erneut eine Koalition zu bilden, und sich zugleich mit einer „Neuanfang“-Rhetorik vom eigenen vorherigen Wirken zu distanzieren. Das war schon ein Stück weit gelebte Schizophrenie und erinnerte an das Verhalten eines Paares, das sich noch einmal zusammenrauft, nachdem die Trennung schon kurz bevorstand. Das Motto: Wir probieren es noch einmal miteinander, aber die alten Gewohnheiten müssen sich ändern. Doch das ist leichter gesagt als getan. Nicht nur in Beziehungen, sondern auch in politischen Koalitionen.

Ein Jahr später scheinen sich viele der Gewohnheiten des regierenden Trios nicht aufgelöst zu haben. Dabei haben die drei Parteien mehr gemeinsam, als sie trennt. Alle kommen aus dem linken politischen Spektrum, alle haben als wichtigste Anliegen für Berlin die soziale Gerechtigkeit, die Mobilität und die Wohnungspolitik auserkoren. Aber statt aus der gemeinsamen Zielsetzung heraus eine geeinte Kraft zu entwickeln, verliert sich die Koalition in vielen Punkten wieder nur im Klein-Klein. Alle buhlen um die gleiche Wählerschaft – und machen die Koalitionspartner lieber madig, als Gemeinsamkeiten zu betonen.

Dabei haben die drei Partner im ersten Regierungsjahr einiges geschafft. Sie haben die Lehrerverbeamtung wieder eingeführt. Hunderttausende Geflüchtete aus der Ukraine wurden in Berlin versorgt. Schneller als andere hat die Berliner Landesregierung zur Folgenbekämpfung der Energiekrise ein umfassendes Entlastungspaket vorgelegt. Die Koalition hat sich im akuten Krisenmanagement bewiesen. Und in der Enteignungsdebatte hat sie sich mit der Expertenkommission auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt, zumindest für den ersten Schritt.

Immer wieder Streit um Details

Dennoch wurde die Koalition schließlich von der grundlegenden Dauerkrise eingeholt, die in dieser Stadt herrscht: die der dysfunktionalen Stadt. Die Dysfunktionalität wurde mit dem Urteil des Landesverfassungsgerichts über die Wiederholungswahl quasi amtlich bestätigt. Spätestens nachdem das Gericht Ende September seine vorläufige Einschätzung abgegeben hatte, kamen in der Regierung wieder die alten Konfliktlinien hervor.

Die Psychologie weiß: Je krisenhafter der Zustand ist, desto stärker locken alte Muster. „Alltag in der Krise heißt keineswegs Leben im Ausnahmezustand“, hat die Soziologin Teresa Koloma Beck in einem Beitrag geschrieben. Stattdessen bedeute es „aktive Herstellung von Normalität“. Und die politische Normalität in Berlin heißt eben: Streit um die Details. Und sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben. Verpatzte Verkehrspolitik? Daran seien die Grünen schuld, so die SPD. Fehlender Wohnungsbau? Die SPD sei verantwortlich, sagen Grüne und Linke. Die großen Handlungslinien und Zukunftsvisionen für die Stadt bleiben bei diesem Gezänk auf der Strecke.

Das Zauberwort der vergangenen Wochen lautete dann mal wieder: Verwaltungsreform. Dass vor allem Grüne und SPD sich vor der Wahl mit Vorschlägen überbieten, zeigt das Versäumnis der vergangenen Jahre nur noch deutlicher. Reformankündigungen gab es viele, aber ernsthaft angegangen wurde das Thema nie. Die Regierungsparteien hatten nicht den Mut zur Neugestaltung, die letztlich auch eine Machtabgabe bedeuten könnte.

Berliner sind gefragt

Die Berlinerinnen und Berliner schauen zu. Mal amüsiert, mal gähnend, mal aufgebracht. Wie bei einer schlechten Fernsehserie, die auf Dauerschleife läuft. An die man sich aber doch, wohl oder übel, gewöhnt hat. Wundern tut einen kaum noch etwas. Eine verpatzte Wahl? Dass keiner so richtig die Verantwortung dafür übernommen hat, schockt kaum mehr – auch die Verantwortungslosigkeit ist zur Gewohnheit geworden. Doch die Berlinerinnen und Berliner sind nicht einfach nur Zuschauende, sie sind auch Akteure in dieser Stadt. Auch sie müssten, wenn sich etwas ändern soll, vielleicht mal aus der „Alles-egal-Haltung“ herauskommen, müssten sich ernsthaft als Mitverantwortliche begreifen, wenn im Februar gewählt wird. Denn sie bestimmen über das politische Personal, das diese Stadt regiert.

Das politische Personal hat die Chance, sich auf seine Versprechen vom „Neuanfang“ zu besinnen. Rhetorik allein reicht dabei nicht aus. Wer die Zäsur ernst nimmt, die die Wiederholungswahl darstellt, muss die Grundprobleme der Stadt angehen. Oberflächlich an ihnen herumdoktern – das hat dieses dynamisch gestartete und kläglich geendete Senatsjahr gezeigt – trägt nicht weit. Vorschnelle Wünsche wie der nach einer Weiterführung der Koalition sind wenig zielführend. Sich wieder an alten Gewohnheiten und Konstellationen festklammern, ist das Gegenteil von Zukunftsfähigkeit. Dabei braucht es die, damit es wirklich kein „Weiter so“ mehr gibt.