Herr Rautenberg, die Impfquoten im deutschsprachigen Raum sind im europäischen Vergleich niedrig. Immer häufiger hört man, dass das auch mit den Waldorfschulen, der Rudolf-Steiner-Bewegung und der sogenannten Anthroposophie zu tun habe. Sie beschäftigen sich seit mehr als zehn Jahren mit dieser Thematik: Gibt es da einen Zusammenhang?

Das ist unzweifelhaft so. Waldorfschulen gelten bereits seit Jahrzehnten als Hochburgen der Impfskepsis und fallen immer wieder durch deutlich geringere Impfquoten auf, als das an Regelschulen der Fall ist. Das ist ein weltweites Phänomen und wurde schon in den 80er Jahren in der Fachliteratur beschrieben. Und auch jetzt während Corona zeigt sich, dass die Skepsis gegen Impfungen und Masken an Waldorfschulen besonders hoch ist.

Vor der Pandemie hatten Waldorfschulen und anthroposophische Unternehmen und Organisationen wie Demeter, Weleda und Dr. Hauschka einen eher positiven Ruf. Wenn überhaupt wurde über das Klischee gelästert, dass an Waldorfschulen keine rechten Winkel geduldet und Namen getanzt werden. Was ist der Kern der Steiner-Ideologie?

Rudolf Steiner, Gründer der Waldorfschulen, hat seine eigene spirituelle und kosmologische Weltanschauung begründet, quasi eine okkultistische Bewegung, die in der Gesellschaft sehr weit verbreitet und trotzdem weitgehend unbekannt ist. Im Grunde ist es eine Erziehung zur Spiritualität und hat zum Ziel die Höherentwicklung der Menschheit als spirituelles Wesen. Ein Kernelement der Anthroposophie ist der Glaube an Karma und Reinkarnation. Wenn ein Kind geboren wird, muss es erst mal fertig inkarnieren. Das ist die Lehre von den „Jahrsiebten“, nach der alle sieben Jahre das Kind eine neue Körperhülle bekommt.

Aber was hat das mit dem Impfen zu tun?

In der Anthroposophie gelten Krankheiten als sinnhaftes Schicksal, Krankheiten haben ihre Ursache auch in den Verfehlungen in einem vorheriger Leben. In den Augen der Anthroposophen muss ich in diesem Leben durch eine Krankheit dafür sozusagen büßen. Und um diese Schuld wirklich zu tilgen, muss ich diese Krankheit auch durchleben. Wenn ich jetzt aber den leichten Ausweg wähle – durch Medikamente, durch Impfungen –, dann nehme ich mir, glauben Anthroposophen, diese Entwicklungschance, im nächsten Leben ein höherer oder ein besserer Mensch zu werden. Deswegen werden in der Anthroposophie Kinderkrankheiten romantisiert und verharmlost. Und das ist auch einer der Gründe für die sehr niedrigen Impfquoten, nicht nur aktuell bei Covid, sondern auch bei Masern.

Wer nicht stark genug ist, stirbt im schlimmsten Fall, aber immerhin aus den esoterisch richtigen Gründen?

Anthroposophen glauben, dass die Seele zwischen den Reinkarnationen quasi frei durch den Kosmos schwebt und sich dann bewusst eine Umgebung aussucht, in der sie reinkarnieren kann, indem sie für ihre früheren Verfehlungen büßt. Wenn man das zu Ende denkt, heißt das, dass sich ein Kind eine Familie aussucht, in der es misshandelt wird, weil das als Strafe für Fehler in einem früheren Leben notwendig ist. Und das finde ich sozialdarwinistisch und in Teilen menschenverachtend.

Sehen die Anthroposophen die Corona-Pandemie dann auch als Strafe für die gesamte Menschheit, für frühere Verfehlungen?

Am Goetheanum in Dornach in der Schweiz, dem Thinktank der Anthroposophen, gibt es verschiedene Sektionen, unter anderem eine landwirtschaftliche und eine medizinische. Die entwickeln jeweils eigenen Theorien, warum Corona entstanden ist. Die Landwirtschaftssektion sagt zum Beispiel: Man hätte die Pandemie mit Demeter-Landwirtschaft verhindern können, weil man damit zum Beispiel das Tierleid verhindert. Und es gibt Stimmen, die meinen, wir würden in der Pandemie die Schreie der gequälten Tiere über die Luft aufnehmen und einatmen – und dadurch würden dann Viren entstehen.

Und die anthroposophischen Mediziner?

Die Mediziner am Goetheanum sagen: Wir Menschen haben uns nicht genug mit Spiritualität beschäftigt, haben uns dem Kosmos und der Sonne nicht genug zugewendet – und versuchen dann zum Beispiel, Covid-19-Patienten mit Lichtsubstanzen zu heilen. Da nimmt man zum Beispiel Globuli mit Bestandteilen, die aus Meteoriten hergestellt wurden. Also gibt es verschiedene Thesen innerhalb der Anthroposophie und nicht die eine.

Führt die Pandemie und der Umgang mit Masken und Impfungen denn auch zu Konflikten innerhalb der Steiner-Bewegung? Weil Eltern, die Waldorfschulen irgendwie gut finden, weil Kunden, die die Demeter-Qualität schätzen, sich von diesem Aberglauben und seinen Konsequenzen abwenden?

Das ist ganz sicher so. Vielleicht sind die Konflikte jetzt auch stärker oder auf jeden Fall dringen sie stärker in den Vordergrund. Man kann davon ausgehen, dass zum Beispiel durch die Waldorfschulen gerade ein deutlicher Riss geht und sich die Elternschaft sehr stark aufteilt in Befürworter von Schutzmaßnahmen und eher esoterisch eingestellte Ablehner.

Verändert die Pandemie die Sicht auf die Waldorfschulen und die Produkte aus der Steiner-Bewegung?

Das Bewusstsein nimmt stark zu, dass man alternativen Fakten in der Gesellschaft zu große Freiräume gelassen hat, dass man eine falsch verstandene Toleranz für alternative Wahrheiten gezeigt hat – und damit auch eine Verschwörungsmentalität in den Köpfen gefestigt hat. Eine Situation, die uns heute auf die Füße fällt, weil diese Verschwörungsmythen eine Gefahr für die demokratische Gesellschaft sind und dann im schlimmsten Fall zur Abkopplung von demokratischen Diskursen führen können.

Gleichzeitig hat man den Eindruck, dass die Steiner-Bewegung unter Impfskeptikern gerade populärer wird. Was macht denn Steiner so attraktiv für dieses skeptische Milieu?

Protagonisten der Anthroposophie, zum Beispiel anthroposophische Ärzte oder Waldorflehrer und ihre Ausbilder, stehen überdurchschnittlich oft auf den Bühnen von Querdenken-Demonstrationen. Und auch Impfgegner, die mit Esoterik wenig am Hut haben, teilen plötzlich Sharepics mit Rudolf Steiner drauf, in denen er voraussagt, dass in 100 Jahren eine Impfung entwickelt werde, um den Menschen die Anlage zur Spiritualität auszutreiben und sie dem Materialismus in den Rachen zu werfen. Oliver Nachtwey von der Universität Basel hat gerade in einer Studie zeigen können, dass die Anhänger von Querdenken ursprünglich aus dem eher „linksgrünen Milieu“ kommen, jetzt aber sehr stark nach rechts tendieren. Und mit Ken Jebsen und Daniele Ganser sind zwei wichtige Köpfe der Querdenken-Bewegung auch ehemalige Waldorfschüler.

Ist das Zufall?

Gar nicht. Anthroposophen glauben, dass Fakten schädlich sind für junge Kinder in der Zeit, wo sie erst noch ihren Ätherleib entwickeln, und dass man sie von Wissen fernhalten soll und lieber Mythen und Märchen in den Fokus der ersten Jahre an der Waldorfschule legen sollte. Das birgt natürlich die Gefahr, dass da eine Verschwörungsmentalität angelegt wird, beabsichtigt oder nicht beabsichtigt. Der bekannte Religionshistoriker und Anthroposophieforscher Helmut Zander hat mal gesagt, dass Verschwörungsmythen quasi die DNA der Anthroposophie sind. Bei Steiner gibt es keine Zufälle, alles folgt einem großen, geheimen Plan, und es gibt verborgene Wahrheiten, die nicht jeder sehen kann. Die inhaltliche Nähe der Denkmuster ist also da.

Oliver Rautenberg, 47, arbeitet als freiberuflicher Journalist im Ruhrgebiet und betreibt seit 2013 das AnthroposophieBlog, das in diesem Jahr für den Grimme-Online-Award nominiert wurde. Das Gespräch führte Daniel Erk.