Sergej Karaganow, 69, war Berater der russischen Präsidenten Bors Jelzin und Wladimir Putin. Der Politikwissenschaftler hat ein Konzept entworfen, dem zufolge Moskau Schutzmacht ethnischer Russen im nahen Ausland ist, um Einfluss zu gewinnen – die „Karaganow-Doktrin“. Er bezeichnet sich als geistigen Vater der russischen „Wende nach Osten“. Der Präsident des Rats für Außen- und Sicherheitspolitik in Moskau steht weiterhin in enger Verbindung mit Putin und Außenminister Sergej Lawrow. Dieses Interview mit ihm ist zuerst im britischen „News Statesman“ erschienen – es wurde vor der Entdeckung des Massakers von Butscha geführt. Der Tagesspiegel publiziert eine leicht gekürzte Fassung, die einen tiefen Einblick in die Denkweise der Moskauer Führung erlaubt, die sich in einem Kampf mit dem Westen um die Weltherrschaft sieht, den sie um keinen Preis verlieren will.

Herr Karaganow, warum ist Russland in die Ukraine einmarschiert?

Seit 25 Jahren sagen Leute wie ich, dass es einen Krieg geben wird, wenn die Nato und westliche Allianzen über bestimmte rote Linien hinaus expandieren, insbesondere in die Ukraine. Ich habe mir dieses Szenario bereits 1997 ausgemalt. Im Jahr 2008 sagte Präsident Putin, dass es keine Ukraine mehr geben würde, wenn eine Mitgliedschaft der Ukraine in der Allianz möglich würde. Man hat ihm nicht zugehört. Das erste Ziel besteht also darin, die Erweiterung der Nato zu stoppen. Zwei weitere Ziele sind hinzugekommen: zum einen die Entmilitarisierung der Ukraine und zum anderen die Entnazifizierung, denn es gibt in der russischen Regierung Leute, die sich Sorgen über den zunehmenden Ultranationalismus in der Ukraine machen, der ihrer Meinung nach dem Deutschland der 1930er Jahre ähnelt. Ein weiteres Ziel ist es, die Donbass-Republiken von acht Jahren ständiger Bombardierung zu befreien.

Außerdem war man der festen Überzeugung, dass ein Krieg mit der Ukraine unvermeidlich sei – vielleicht in drei oder vier Jahren –, der durchaus auf russischem Territorium selbst hätte stattfinden können. Daher hat der Kreml wohl beschlossen, dass, wenn man schon kämpfen muss, dann auf dem Territorium eines anderen Landes, eines Nachbarn und Bruderlandes, das einst Teil des Russischen Reiches war. Aber der eigentliche Krieg richtet sich gegen die westliche Expansion.

Am 25. Februar forderte Putin die ukrainische Armee auf, Präsident Wolodymyr Selenskyj zu stürzen. In jüngerer Zeit scheint der Kreml jedoch sein Interesse an Verhandlungen mit Selenskyj anzudeuten. Hat der Kreml seine Meinung geändert? Akzeptiert er, dass Selenskyj Präsident der Ukraine ist und Präsident der Ukraine bleiben wird?

Es ist ein Krieg, und wir befinden uns im Nebel des Krieges, daher ändern sich Meinungen und Ziele. Am Anfang dachten vielleicht einige, dass das ukrainische Militär eine Art Putsch arrangieren würde, damit wir eine echte Macht in Kiew hätten, mit der wir verhandeln könnten – die Präsidenten der jüngeren Zeit und insbesondere Selenskyj werden als Marionetten betrachtet.

Halten Sie persönlich Präsident Selenskyj für einen Nazi?

Natürlich nicht.

Was, glauben Sie, wäre zum jetzigen Zeitpunkt das endgültige Ziel für den Kreml? Was würde als erfolgreiches Ergebnis der Invasion angesehen werden?

Ich weiß nicht, wie dieser Krieg ausgehen wird, aber ich denke, er wird auf die eine oder andere Weise die Teilung der Ukraine zur Folge haben. Hoffentlich wird am Ende noch etwas übrig bleiben, das Ukraine heißt. Aber Russland kann es sich nicht leisten, zu „verlieren“, also brauchen wir eine Art Sieg. Und wenn wir das Gefühl haben, dass wir den Krieg verlieren, dann besteht meiner Meinung nach durchaus die Möglichkeit einer Eskalation. Dieser Krieg ist eine Art Stellvertreterkrieg zwischen dem Westen und dem Rest der Welt – Russland ist, wie es in der Geschichte der Fall war, die Spitze „des Rests“ – für eine zukünftige Weltordnung. Für die russische Elite steht sehr viel auf dem Spiel – für sie ist es ein existenzieller Krieg.

Die Entmilitarisierung der Ukraine kann wohl nicht erreicht werden, wenn der Westen weiter Waffen liefert. Wird Russland versucht sein, diesen Waffenfluss zu stoppen, und riskiert dies einen direkten Zusammenstoß zwischen der Nato und Russland?

Absolut! Die Wahrscheinlichkeit eines direkten Zusammenstoßes steigt. Und wir wissen nicht, wie dieser ausgehen würde. Vielleicht würden die Polen kämpfen; sie sind immer bereit. Als Historiker weiß ich, dass Artikel 5 des Nato-Vertrags wertlos ist. Nach Artikel 5, der es einem Staat erlaubt, andere Mitglieder des Bündnisses um Unterstützung zu bitten, ist niemand verpflichtet, tatsächlich für andere zu kämpfen, aber niemand kann absolut sicher sein, dass es nicht zu einer solchen Eskalation kommt. Ich weiß auch aus der Geschichte der amerikanischen Atomstrategie, dass die USA Europa wahrscheinlich nicht mit Atomwaffen verteidigen werden. Aber hier besteht immer noch die Möglichkeit einer Eskalation, es ist also ein abgrundtiefes Szenario, und ich hoffe, dass eine Art Friedensabkommen zwischen uns und den USA und zwischen uns und der Ukraine erreicht werden kann, bevor wir uns weiter in diese unglaublich gefährliche Welt begeben.

Wenn Putin Sie um Rat fragt, würden Sie ihm sagen, dass Artikel 5 ernst zu nehmen ist oder nicht? Ihren Worten entnehme ich, dass die Beistandspflicht aus Ihrer Sicht nicht ernst zu nehmen ist.

Es mag sein, dass Artikel 5 funktioniert und Länder sich zur Verteidigung eines anderen zusammenschließen. Aber gegen einen Nuklearwaffen-Staat wie Russland? Das frage ich mich. Sagen wir es so: Wenn die USA gegen einen Nuklearwaffen-Staat intervenieren, dann ist der amerikanische Präsident, der diese Entscheidung trifft, verrückt, denn es wäre nicht 1914 oder 1939; das ist etwas Größeres. Ich glaube also nicht, dass Amerika im Ernstfall eingreifen könnte, aber wir befinden uns bereits in einer viel gefährlicheren Situation als noch vor einigen Wochen. Und Artikel 5 setzt keine automatischen Verpflichtungen voraus.

Wie bewerten Sie die Bemerkung von Präsident Biden, dass Präsident Putin nicht an der Macht bleiben könne?

Nun, Präsident Biden macht oft alle möglichen Kommentare. Danach wurde er von seinen Kollegen korrigiert, also nimmt niemand die Aussage ernst.

Putin hat behauptet, dass die Ukraine als Nation nicht existiert. Ich könnte mir vorstellen, dass die Schlussfolgerung aus den Ereignissen der vergangenen Wochen lautet, dass die Ukraine als Nation existiert, wenn die gesamte Bevölkerung, einschließlich Zivilisten, bereit ist, ihr Leben zu opfern, um die Souveränität und Unabhängigkeit ihres Landes zu bewahren. Existiert die Ukraine als Nation oder ist die Ukraine nur ein Teil Russlands?

Ich bin mir nicht sicher, ob es einen massiven zivilen Widerstand gibt, wie Sie vermuten, und nicht nur junge Männer, die der Armee beitreten. Auf jeden Fall weiß ich nicht, ob die Ukraine überleben wird, denn sie hat, wenn überhaupt, nur eine sehr begrenzte Geschichte von Staatlichkeit und keine Staatselite. Vielleicht wächst etwas von unten, aber das ist eine offene Frage. Wir werden sehen. Dieser Krieg oder Militäreinsatz, wie auch immer Sie es nennen, wird entscheiden. Vielleicht wird die ukrainische Nation geboren: Ich werde froh sein, wenn die Ukrainer eine effektive, lebensfähige Regierung haben – anders als in den letzten 30 Jahren. Nach der Sowjetunion waren sie die absoluten Verlierer, weil ihnen eine Staatselite fehlte.

Manche sagen, der Krieg wird dazu beitragen, dass Russland unter chinesische Kontrolle gerät, weil es eine leichte Beute seiner wirtschaftlichen Macht wird. Befürchten Sie, dies könnte der Beginn eines „chinesischen Jahrhunderts“ für Ihr Land werden?

Es gibt zwei Antworten auf Ihre Frage. Die eine ist, dass Chinas wirtschaftlicher Einfluss in Russland und auf Russland wachsen wird. China verfügt über die meisten Technologien, die wir brauchen, und es hat viel Kapital, das steht also außer Frage. Ob Russland nach der chinesischen Tradition des Reichs der Mitte zu einer Art Satellitenstaat wird, wage ich zu bezweifeln.

Wenn Sie mich fragen würden, wie ich Russland mit einem Wort beschreiben würde, dann wäre es „Souveränität“. Wir haben diejenigen besiegt, die versuchten, uns zu beherrschen, angefangen bei den Mongolen und dann Karl XII. von Schweden, dann Napoleon und Hitler. Außerdem hatten wir hier in letzter Zeit jahrelange westliche Vorherrschaft. Es war fast überwältigend. Und trotzdem sehen Sie, was passiert ist: Russland hat sich gegen all das aufgelehnt. Ich habe also keine Angst davor, dass Russland Teil eines großen China wird. Der andere Grund, warum ich keine Angst habe, ist, dass die chinesische Zivilisation sehr unterschiedlich ist. Wir haben unsere asiatischen Züge in unseren Genen und sind deswegen teilweise ein asiatisches Land. Und Sibirien ist der Kern des russischen Imperiums: Ohne Sibirien wäre Russland kein großartiges Land geworden. Und das tatarische und mongolische Joch hat viele Züge in unserer Gesellschaft hinterlassen. Aber kulturell sind wir anders, deshalb halte ich es nicht für möglich, dass wir ein Tochterland werden.

Aber ich bin sehr besorgt über die überwältigende wirtschaftliche Vorherrschaft Chinas im nächsten Jahrzehnt. Leute wie ich haben gesagt, dass wir das Ukraine-Problem lösen müssen, wir müssen das Nato-Problem lösen, damit wir gegenüber China eine starke Position einnehmen können. Jetzt wird es für Russland viel schwieriger sein, der chinesischen Macht zu widerstehen.

Profitieren die USA von diesem Krieg?

Zum jetzigen Zeitpunkt ja, denn neben der Ukraine sind die Europäer die großen Verlierer, vor allem wenn sie an dem rätselhaften Versuch festhalten, von russischer Energie unabhängig zu werden. China ist der klare Sieger dieser ganzen Angelegenheit.

Denken Sie, dies ist ein Moment höchster Gefahr für Russland?

Ich würde sagen, ja, das ist ein existenzieller Krieg. Wenn wir nicht irgendwie gewinnen, dann werden wir meines Erachtens alle möglichen unvorhergesehenen politischen Auswirkungen haben, die viel schlimmer sind als zu Beginn der 1990er Jahre. Aber ich glaube, dass wir das vermeiden werden. Erstens, weil Russland gewinnen wird, was auch immer dieser Sieg bedeutet, und zweitens, weil wir ein starkes und zähes Regime haben, sodass es in jedem Fall, oder wenn das Schlimmste eintritt, nicht die Auflösung des Landes oder den Zusammenbruch bedeuten wird. Ich denke, es wird eher ein hartes autoritäres Regime sein als die Auflösung des Landes. Trotzdem ist eine Niederlage undenkbar.

Was würde als Niederlage gelten?

Ich weiß es nicht. Das ist die Frage. Wir brauchen einen Sieg. Ich glaube nicht, dass es ein Sieg wäre, selbst wenn wir die gesamte Ukraine erobern und alle ukrainischen Streitkräfte kapitulieren würden, denn dann würden wir mit der Last eines verwüsteten Landes zurückbleiben, eines Landes, das durch 30 Jahre unfähiger Elitenherrschaft verwüstet wurde, und dann natürlich die Verwüstung durch unsere Militäroperation. Ich denke also, dass wir an einem Punkt eine Art Lösung brauchen, die man Frieden nennen würde und die de facto die Schaffung einer Art lebensfähigen, prorussischen Regierung auf dem Territorium der Ukraine und echte Sicherheit für die Donbass-Republiken beinhalten würde.

Wenn die Pattsituation noch Jahre andauern würde, wäre das eine Niederlage?

Patt bedeutet eine riesige Militäroperation. Nein, ich glaube nicht, dass das möglich ist. Ich befürchte, dass es zu einer Eskalation führen würde, denn endlose Kämpfe auf dem Territorium der Ukraine sind – auch jetzt – nicht machbar.

Es ist das zweite Mal, dass Sie erwähnen, dass es zu einer Eskalation kommen würde, wenn es keine Fortschritte gibt. Was bedeutet „Eskalation“?

Nun, Eskalation in diesem Zusammenhang bedeutet, dass Russland angesichts einer existenziellen Bedrohung – und das bedeutet übrigens ein Nichtsieg oder eine vermeintliche Niederlage – eskalieren könnte. Und es gibt Dutzende von Orten auf der Welt, wo Russland eine direkte Konfrontation mit den USA haben könnte.

Ihr Argument ist, dass wir bei einer existenziellen Gefahr für Russland eine Eskalation hin zum Einsatz von Atomwaffen haben könnten und eine Eskalation von Konflikten jenseits der Ukraine. Ist das richtig?

Ich würde es nicht ausschließen. Wir leben in einer absolut neuen strategischen Situation. Die normale Logik diktiert, was Sie gesagt haben.

Wie fühlen Sie sich persönlich? Leiden Sie unter dem, was geschieht?

Wir alle haben das Gefühl, Teil eines gewaltigen historischen Ereignisses zu sein, und dabei geht es nicht nur um den Krieg in der Ukraine, sondern um den endgültigen Zusammenbruch des internationalen Systems, das nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen und dann nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auf andere Weise wiederhergestellt wurde. Wir erleben den Zusammenbruch eines Wirtschaftssystems – des Weltwirtschaftssystems –, die Globalisierung in dieser Form ist am Ende. Alles, was wir in der Vergangenheit hatten, ist verschwunden. Und daraus ergibt sich eine Anhäufung vieler Krisen, von denen wir aufgrund von Covid-19 so taten, als gäbe es sie nicht. Zwei Jahre lang ersetzte die Pandemie die Entscheidungsfindung. Covid war schlimm genug, aber jetzt hat jeder Covid vergessen und wir können sehen, dass alles zusammenbricht. Ich persönlich bin sehr traurig. Ich habe mich für die Schaffung eines tragfähigen und fairen Systems eingesetzt. Aber ich gehöre zu Russland und wünsche mir nur, dass wir gewinnen, was immer das auch heißen mag.

Befürchten Sie, dass dies die Wiedergeburt westlicher und amerikanischer Macht sein könnte? Dass der Ukraine-Krieg ein Moment der Erneuerung für das amerikanische Imperium sein könnte?

Das glaube ich nicht. Das glaube ich nicht. Das Problem ist, dass in den letzten 500 Jahren die militärische Überlegenheit der Europäer das Fundament der westlichen Macht war. Diese Grundlage begann in den 1950er und 1960er Jahren zu erodieren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sah es eine Zeit lang so aus, als sei die westliche Vorherrschaft wiederhergestellt, aber jetzt ist sie nicht mehr gegeben, denn Russland wird weiterhin eine große Militärmacht sein, und China entwickelt sich zu einer erstklassigen Militärmacht.

Der Westen wird sich also nie erholen, aber es spielt keine Rolle, ob er stirbt: Die westliche Zivilisation hat uns allen große Vorteile gebracht, aber jetzt stellen Menschen wie ich und andere die moralische Grundlage der westlichen Zivilisation infrage. Ich denke, geopolitisch wird der Westen Höhen und Tiefen erleben. Vielleicht bringen die Schocks, die wir gerade erleben, die besseren Qualitäten der westlichen Zivilisation zurück, und wir werden Leute wie Roosevelt, Churchill, Adenauer, de Gaulle und Brandt wieder im Amt sehen. Aber anhaltende Schocks werden natürlich auch bedeuten, dass die Demokratie in ihrer jetzigen Form in den meisten europäischen Ländern nicht überleben wird, denn unter großen Spannungen verkümmern Demokratien immer oder werden autokratisch. Diese Veränderungen sind unvermeidlich.

Das Gespräch führte Bruno Maçães.

Deutsche Bearbeitung von Hans Monath.

Vordenker. Sergej Karaganow steht in engem Kontakt zu Präsident Putin. Foto: Foto: Dmitri Baliakov

Sein Krieg. Laut Wladimir Putins ehemaligem Berater kann Russland es sich nicht leisten, den Krieg in der Ukraine zu verlieren, also brauchen wir eine Art Sieg. Sollte das unwahrscheinlich werden, droht laut Karaganow eine weitere Eskalation. Foto: Wang Zhao/AFP