Die Welt befindet sich gegenwärtig nahezu völlig im Bann der Covid-19-Pandemie. Ein mikroskopisch kleines, ansteckendes Virus hat gewissermaßen über Nacht die gesamte Weltwirtschaft zum Stillstand gebracht. Dennoch dreht die Welt sich weiter, sind die menschlichen Leidenschaften nicht verschwunden. Parallel zu der Pandemie brach unter der US-Präsidentschaft von Donald Trump die Rivalität um die Vorherrschaft in der globalen Wirtschaft, in der Politik und den modernsten Technologien zwischen den beiden Supermächte des 21. Jahrhunderts, China und den USA, voll aus.

Auch wenn sich vieles durch die Wahl von Joe Biden in der US-Politik ändern wird: In dieser Rivalität wird es kaum Veränderungen geben. Warum? Die USA werden nicht freiwillig ihren Platz als Nummer eins unter den Weltmächten räumen, errungen durch Siege in den drei Weltkriegen des 20. Jahrhunderts (zwei heißen Kriegen und einen kalten Krieg).

Und China mit seinen 1,5 Milliarden Menschen, seiner uralten Kultur und Zivilisation und seiner Erfahrung des „Jahrhunderts der Demütigung“ durch die westlichen Mächte im 19. und 20. Jahrhundert und durch den militärischen Überfall Japans vor und im Zweiten Weltkrieg wird sich ebenso wenig freiwillig unterordnen und dauerhaft mit einem geringeren Status und geringerer Entwicklung begnügen. Die Konfrontation scheint also vorprogrammiert.

Für Europa und ganz besonders für das wirtschaftlich extrem exportabhängige Deutschland verheißt diese Konstellation alles andere als eine gute Zukunft, denn die Volksrepublik ist, neben den USA, für Deutschland mittlerweile zum wichtigsten Exportmarkt geworden.

Gleichzeitig sind die USA der unverzichtbare Sicherheitsgarant für Deutschland und Europa. Deutschland droht also in eine Lage zu geraten, bei der es nur verlieren kann. Deutsche und europäische Außenpolitik sollte auf einen Abbau der Spannungen zwischen den beiden Großmächten hinarbeiten, ohne allerdings Zweifel an ihrer transatlantischen Verankerung aufkommen zu lassen.

Im Kalten Krieg war das geteilte Deutschland der territorial wichtigste potenzielle Kriegsschauplatz eines jederzeit möglichen dritten Weltkriegs zwischen den beiden Hauptsiegermächten des Zweiten Weltkriegs. Der militärische Schutz der Bundesrepublik (West) vor einem das Land definitiv verheerenden Krieg und vor Unterdrückung, die Bewahrung von Freiheit sowie das Offenhalten einer Einheitsperspektive für das geteilte Land waren die herausragenden außenpolitischen Ziele für den freien Teil des Landes in der Mitte Europas.

Mit dem wachsenden wirtschaftlichen Wiederaufstieg, bedingt vor allem durch die wachsenden Exporte in Europa und in einem immer freier werdenden Welthandelssystem – geschaffen und geschützt durch die USA – kam noch ein drittes, das außenwirtschaftliche Element hinzu. Frieden, Einheit und Wohlstand hieß der außenpolitische Dreisatz der Bonner Bundesrepublik. Er gründet bis heute machtpolitisch und normativ auf Westbindung, Transatlantismus und Europa und gilt auch im vereinigten Deutschland und seiner Berliner Republik.

Die eigentliche Gründungsleistung des ersten Bundeskanzlers der Bonner Republik, Konrad Adenauer, war die Durchsetzung und feste Verankerung der Westbindung des Landes als unverrückbarer Bestandteil des Westens – geopolitisch, politisch, kulturell und wertemäßig. Die Westbindung umfasst das eigentliche Fundament der deutschen Demokratie, wie sie sich seit 1949 entwickelt hat.

Seit 1990, dem Jahr der deutschen Einheit, begann sich nun der außenpolitische Diskurs langsam zu verändern – der Gegensatz von Werten und Interessen wurde wieder verstärkt betont, und es schien ein Nachweis für eine gewachsene Souveränität des größer gewordenen, wiedervereinigten Landes zu sein. Sicherheitspolitisch und militärisch scheute und scheut das Land jedoch vor den Konsequenzen dieses wiederentdeckten Gegensatzes zurück. Die Berliner Republik vertraute ganz im Gegenteil mehr denn je auf die Sicherheitsgarantie der Nato und der USA.

Deutschland war über viele Jahre hinweg Exportweltmeister in einer offenen Weltwirtschaft, und so verwundert es nicht, dass mit den „deutschen Interessen“ vor allem deutsche Exportinteressen gemeint waren und werden. Sie gelten ganz im Stile der europäischen Kabinettspolitik des 19. Jahrhunderts als die Domäne eines harten außenpolitischen Realismus, während Werte wie Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte als eine Form von minderem, nachrangigem Idealismus abgetan werden. Welch ein Irrtum!

Deutschland gehört zu den großen Profiteuren des Aufstiegs Chinas zur Weltmacht. Die Dekade der Angela Merkel wurde von den immerwährenden Exporterfolgen der deutschen Wirtschaft vor allem Richtung China überstrahlt. Nicht außenpolitischer Realismus, sondern industrie- und außenpolitische Blindheit haben diese Zeit geprägt.

Heute wachen Deutschland und Europa in einer Wirklichkeit auf, in der wesentliche Teile der deutschen Industrie unter dem Primat der Interessen in eine gefährliche Abhängigkeit von dem Riesenmarkt China geraten sind. China setzt den Marktzugang zu seinem gewaltigen Binnenmarkt ganz gezielt als geopolitisches Druckmittel ein, so wie jüngst mit Australien geschehen.

Hinzu kommt die offen ausgebrochene Konfrontation zwischen den beiden Weltmächten, die beide in Zukunft verstärkt Loyalitätserklärungen verlangen werden. In der Welt von morgen, ohne allgemeinverbindliche Regeln für den freien Handel, wird es sehr viel mehr auf die innere Balance von Werten und Interessen, auf die normative Stabilität dieser Balance ankommen, als in den Jahrzehnten davor.

Eine neue Weltordnung entsteht, erneut fußend auf der Rivalität von Großmächten, und sie wird starker Überzeugungen und fester Werte bedürfen, vor allem wenn man – wie die Deutschen und Europäer – in offenen Gesellschaften, in rechtsstaatlichen Demokratien lebt und auch zukünftig leben will.