Eine Fotografie aus der Hamburger Herbertstraße von 1979: Darauf zu sehen sind, allerdings von hinten und seitlich abgeschnitten, die berühmte Kiez-Prostituierte Domenica Niehoff und eine ihrer Kolleginnen. Sie stehen im Erdgeschoss eines Bordells hinter tiefen, geöffneten Fenstern und blicken auf die Straße.

Wir, die Betrachter, nehmen ihre Perspektive ein und sehen einen Mann, der im Vorbeigehen die Körper der Frauen begutachtet. Mögen die Prostituierten für ihn Lustobjekte sein, die sich seinem Blick preisgeben – er, der Freier, der sonst oft anonym bleibt, ist auf dieser Aufnahme dem unsrigen ausgesetzt.

Rehabilitation eines Wortes

Die Fotografie ziert den Umschlag des Buchs „Dialektik der Hure. Von der ,Prostitution‘ zur ,Sexarbeit‘“. Sie passt zum Inhalt, denn der Autorin Theodora Becker geht es auch um eine solche Blickumkehr. Um zu verstehen, was die Figur der Hure – Becker will diesen gegenwärtig vor allem abwertend gebrauchten Begriff rehabilitieren – ausmacht, richtet sie den Blick auf all jene, denen ebendiese Figur zum Gegenstand vielfältiger Projektionen geworden ist: Das sind natürlich die Freier, aber auch die Philosophen, Politiker und Schriftsteller, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Prostitution befasst haben.

Der Grundgedanke dieser philosophischen Studie: Sowohl die Hure als auch die Prostituierte und die Sexarbeiterin – drei Figuren, denen Becker jeweils spezifische Eigenschaften zuschreibt – sind Produkte ihrer jeweiligen Gesellschaftsform, namentlich des Früh-, Hoch- und Spätkapitalismus. Gleichwohl verwendet Becker den Begriff „Hure“ mitunter auch in einem abstrakteren, übergeordneten Sinne.

Was macht also die Hure aus? Das ist, folgt man Becker, gar nicht so leicht zu beantworten, weil es sich um eine äußerst ambivalente, eben dialektische Figur handelt.

Als eine Frau, die Sex (oder zumindest etwas, das damit zu tun hat) verkauft, ist sie Opfer und Verbrecherin, Unterworfene und Manipulatorin, Dienerin und Betrügerin, Ausgebeutete und Arbeitsscheue zugleich. Dieses Bild zumindest ergibt sich aus Beckers Untersuchung des gesellschaftlichen Diskurses von Mitte des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Vor dem Hintergrund dieses Diskurses arbeitet die Autorin dann auch einen grundsätzlichen Widerspruch der Hure heraus: Sie sei Subjekt und Objekt, Warenverkäuferin, Ware und Werbung in einem.

Das klingt ziemlich schlüssig – allerdings bleibt das Buch nicht bei einer nüchternen Analyse. Denn Becker, die lange im Vorstand der Prostituiertenvereinigung Hydra e. V. tätig war, geht es auch um eine „Ehrenrettung“ der Hure, wie sie im Vorwort ankündigt. Weswegen sie mit Walter Benjamin, Peter Hacks und anderen eine Art Utopie der Prostitution samt äußerst emanzipierten Protagonistinnen entwirft.

Eine Dame von Halbwelt

Beckers Idealhure, die lose auf der historischen, noch nicht besonders professionell arbeitenden Dirne basiert, hat aus Klugheit der harten proletarischen Arbeit entsagt und führt nun kokett das Leben einer Dame von (Halb-)Welt. Weil sie etwas verkauft, das sie doch nie hergibt und das gleichzeitig weit über ihren Besitz hinausgeht, führt sie marktwirtschaftliche Prinzipien ad adsurdum und kann willkürlich hohe Preise verlangen. Eine äußerst erstrebenswerte Existenz für Becker. Die Hure komme der Freiheit damit näher als der „überwiegende Teil der Menschheit“.

Mangel an Empirie

Wohl hätten dem Buch im Zusammenhang mit diesem Idealbild ein paar Daten und Exkurse zur tatsächlichen Lage der Prostituierten nicht geschadet. Denn als Leserin fragt man sich: Wie viele von ihnen konnten zu welcher Zeit wirklich so frei und selbstbestimmt leben, wie Becker es beschreibt, und wie viele standen ihnen gegenüber, die das nicht konnten? Wie genau sah ein solcher autonomer Arbeitsalltag in der Realität aus?Die Antworten darauf bleibt Becker als Philosophin größtenteils schuldig – sie hätten wohl den Rahmen ihres theoretischen Ansatzes gesprengt.

Fest steht für Becker zumindest, das die autonome Figur, die sie zeichnet, in der Gegenwart kaum mehr Existenzbedingungen vorfindet. Mit dem Wandel der bürgerlichen in eine spätkapitalistische Dienstleistungsgesellschaft sind Hure und Prostituierte längst der Sexarbeiterin gewichen. Das heißt: Flatrate-Bordelle mit ausdifferenzierten Dienstleistungen statt unvorhersehbarer Genuss ohne zeitliche Begrenzung.

Prostituierte wie Domenica Niehoff oder die Schweizerin Grisélidis Réal, die es im vergangenen Jahrhundert zu überregionaler Bekanntheit brachten, sind als emanzipierte Huren für Becker zwei der letzten ihrer Art gewesen. Nicht verwunderlich also, dass dem Buch etwas ziemlich Nostalgisches anhaftet.