Herbert Grönemeyer sang 1983 über ein Mädchen, das nicht hören kann: „Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist... wenn sie ihr in den Magen fährt.“ Und im Oscar-prämierten Film „Coda“ dreht der gehörlose Vater der Protagonistin das Autoradio so lange auf, bis er die Bässe am Hintern spürt. Die Idee, Töne zum Vibrieren zu bringen, steht auch hinter der Entwicklung neuartiger Westen für taube Musikliebhaber.

Die Westen helfen gehörlosen und schwerhörigen Zuhörern, Töne zu „erspüren“: Insgesamt 24 Vibrationspunkte ermöglichen es ihnen, Musik zu genießen, ohne gleich die gesamte Nachbarschaft gegen sich aufzubringen. Bei einem Klassik-Konzert im New Yorker Lincoln Center konnten 75 Besucher kürzlich die tragbaren Westen ausprobieren.

Sie gäben ihren Benutzern sozusagen ein „3D-Erlebnis durch Vibrationen“, sagt Audio-Experte Patrick Hanlon. „Sie beziehen den ganzen Körper mit ein.“ Die Geigen beispielsweise vibrieren im Brustkorb, Cello und Bass lassen sich etwas weiter unten spüren, die Hörner in den Schultern und Solos in den Handgelenken. „Keiner rechnet damit, dass das so wirksam ist“, sagt Hanlon. „Doch dann sieht man es in den Augen der Leute – und es ist magisch“.

Technik für Inklusion

Hanlon ist Mitbegründer von „Music: Not Impossible“, einem Zweig der „Not Impossible Labs“. Die Organisation versucht mithilfe von Technik gesellschaftliche Hürden zu überwinden, zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen. Das Lincoln Center arbeitet seit 2021 mit „Music: Not Impossible“ zusammen, sowohl für Orchester-Darbietungen im Saal als auch für ihre beliebten stillen Draußen-Discos.

Komponist Jay Zimmerman, der durch die Terroranschläge auf das World Trade Center vom 11. September 2001 massive Hörschäden erlitt, ist begeistert von dieser technischen Übersetzungshilfe. Er sieht viele Einsatz-Möglichkeiten: „Ich hoffe, dass wir irgendwann gehörlosen Kindern echte Erfahrungen mit diesen Vibrationen vermitteln können, sodass sie ein Gedächtnis für Gehörtes entwickeln – selbst wenn es nicht über die Ohren kommt, sondern über andere Sinnesempfindungen“, sagt Zimmerman.

Auch Disco und Rockkonzerte

Flavia Naslausky, die bei „Music: Not Impossible“ fürs Geschäftliche zuständig ist, beschreibt, wie die seit ihrer Jugend gehörlose Sängerin Mandy Harvey bei ersten Tests mit der Weste in der Lage war, mithilfe der Vibrationen den richtigen Ton zu treffen. „Da wussten wir, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, sagt Naslausky.

Die Westen, die die Haut als Trommelfell nutzen, machen jedoch nicht nur klassische Musik erlebbar. Laut Hanlon lassen sich die Vibrationen auch für Rock-Konzerte oder Disco-Musik einstellen. Zum Einsatz kamen sie demnach schon bei Auftritten von Lady Gaga und der US-Rockband Greta Van Fleet.

Komponist Zimmerman kann sich derweil noch viel mehr vorstellen: „Ich möchte zarte Geigentöne fühlen, und das soll sich in Körper und Geist so wunderschön anfühlen, dass ich weinen könnte“, sagt er. „Dann möchte ich spüren, wie dieselbe Note in einer Posaunenfanfare auftaucht“. „Das ist mein großer Traum.“